Entwicklungen im Ukraine-Krieg - Experte warnt: „Putin hängt nicht nur die Ukraine, sondern auch den Westen ab“
Der russische Präsident Wladimir Putin Maxim Blinov/Pool Sputnik Kremli
Die Lage an der Front ist für die Ukraine sehr schwierig. Zwar bekommen die ukrainischen Truppen Nachschub aus den Vereinigten Staaten. Das reicht laut Experten aber nicht aus, um sich effektiv zur Wehr zu setzen. Sie sprechen von „brandgefährlichen Bodenangriffen“ der Russen.
Am Wochenende trafen sich in der Schweiz zahlreiche Staats- und Regierungschefs, um über Friedensstrategien im Ukraine-Krieg zu beraten. Zeitgleich spitzte sich die Lage an der Front zu, das legen zumindest Angaben aus Kiew nahe.
„Im Tagesverlauf hat der Feind intensiv das Tempo seiner Angriffs- und Sturmhandlungen ausgebaut und sucht nach Wegen, entweder einen Keil in unsere Verteidigung zu treiben oder die ukrainischen Einheiten aus ihren Positionen zu vertreiben“, teilte der ukrainische Generalstab zuletzt mit.
Vor allem im Raum Pokrowsk im ostukrainischen Donezk versucht das russische Militär demnach weiter vorzudringen. Seit vergangenem Herbst ist die ukrainische Armee aufgrund lange ausbleibender Waffen- und Munitionslieferungen aus dem Westen stark in der Defensive gebunden.
„Brandgefährliche Bodenangriffe der Russen“
Wolfgang Richter, Experte für Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft Politik, sagt zu FOCUS online: „Moskau hofft, mit parallelen Angriffen einen Durchbruch zu erzielen.“
So habe Russland die Front im Gebiet Charkiw um rund 70 Kilometer in der Breite und knapp 15 Kilometer in der Tiefe ausgedehnt. Laut Richter soll eine „Pufferzone vor dem russischen Gebiet Belgorod“ entstehen und die Ukraine gezwungen werden, Personal von anderen Frontabschnitten abzuziehen. „Zugleich hält der russische Druck im Gebiet Donezk an“, so der Militärexperte.
Ralph Thiele, Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft in Berlin, sieht zumindest eine positive Entwicklung. „Den Ukrainern ist es gelungen, die Front vor Charkiw zu stabilisieren und die russischen Streitkräfte zu hindern, in Artilleriereichweite zur Stadt zu kommen“, sagt er im Gespräch mit FOCUS online
Allerdings sind, so erklärt es der Militärexperte, „russische Truppen am 15. Juni südöstlich von Kupjansk vorgerückt, ebenso nordwestlich von Awdijiwka und setzen ihre brandgefährlichen Bodenangriffe östlich von Tschassiw Yar fort“.
Die Front ist momentan brüchig
Laut Thiele gelangen die ersten US-Nachschublieferungen mit Munition und Waffensystemen zwar in diesen Tagen zu den ukrainischen Einheiten an der Front. Sie werden aber nicht ausreichen, um den russischen Vormarsch aufzuhalten.
„Die Überlegenheit der russischen Artillerie liegt noch bei fünf zu eins. Das nutzen die russischen Soldaten für Geländegewinne.“ Sie spielen, so der Militärexperte, ihre „materielle und personelle Überlegenheit aus, bevor die Ukraine ihre Verteidigung mit mehr US-Ausrüstung stärken kann“.
So sitzt Thieles Einschätzung nach Moskau am längeren Hebel, zumindest aktuell. „Personell, materiell und in der Produktivität der Kriegswirtschaft hängt Russland nicht nur die Ukraine, sondern auch den Westen ab“, erklärt der Militärexperte.
„Russlands Spitzentechnologie macht der westlichen am Boden, in der Luft und im Weltraum das Leben schwer. Zudem lernen auch die russischen Streitkräfte aus Fehlern.“ Die Ukraine ist seiner Ansicht nach nun auf das „Glück der Tüchtigen“ angewiesen.
Schließlich ist die Front im Moment brüchig. „Sobald die F-16-Kampfflugzeuge und andere von westlichen Ländern bereitgestellte Luftverteidigungsmittel eingetroffen sind, hofft die Ukraine, ihren Luftraum besser schützen zu können. Bisher ist er ein offenes Scheunentor für russische Luftangriffe“, meint Thiele.
Experte: Kritisch wird es für Ukraine, wenn Soldaten-Zahl weiter abnimmt
Auch Richter erkennt „leichte Vorteile der russischen Armee“ in einem statischen Abnutzungskrieg. „Trotz hoher Verluste bewegt sie sich langsam vorwärts, konnte einige taktische Gewinne verbuchen, jedoch bisher keinen operativ bedeutsamen Durchbruch erzielen“, sagt er.
„Für die Ukraine ist die Lage daher schwierig, aber noch nicht kritisch. Das könnte sich allerdings ändern, wenn das militärische Personal weiter reduziert wird und eine kritische Größe unterschreitet.“
Laut dem Militärexperten sind die russischen Bodenstreitkräfte inzwischen auf rund 560.000 Soldaten angewachsen, die zumeist in der Ukraine kämpfen. „Rechnet man Raketen-, Luftwaffen- und Marineverbände hinzu, die von außen in die Ukraine hineinwirken, so dürften mittlerweile rund 650.000 Soldaten am Krieg gegen die Ukraine unmittelbar beteiligt sein.“
Die Ukraine wiederum verfügt Richter zufolge zwar über rund „800.000 Männer und Frauen unter Waffen“. Allerdings „beträgt der Umfang der kampfstarken frontverwendungsfähigen Verbände nur etwa die Hälfte davon“, so der Experte.
Neues Wehrdienstgesetz in der Ukraine kommt laut Experten zu spät
Vor rund zwei Monaten hat das ukrainische Parlament ein umstrittenes Wehrdienstgesetz beschlossen, mit dem die Armee personell aufgestockt werden soll. Verweigerer riskieren künftig harte Strafen. Außerdem hat Kiew das Einberufungsalter von 27 auf 25 Jahre herabgesetzt. Richter findet, dass diese Änderungen zu spät kommen.
„Es wird Monate dauern, bis alle Betroffenen registriert, Truppenteilen zugeordnet und hinreichend ausgebildet worden sind, bevor sie für den Frontdienst zur Verfügung stehen. Bis dahin müssen die dezimierten und erschöpften Frontsoldaten weiter ausharren. Das könnte zu einer kritischen Lage führen.“
Mit dem Friedensgipfel in der Schweiz haben nun diplomatische Bestrebungen, den Krieg zu beenden, Fahrt aufgenommen. Sowohl Richter als auch Thiele glauben aber, dass die Konferenz sich kaum auf den Krieg auswirken wird.
Schließlich sei Russland nicht eingeladen gewesen und habe die Agenda des Gipfels abgelehnt, so Richter. „Es ging in erster Linie darum, den globalen Süden zu überzeugen, sich an die Seite der Ukraine zu stellen. Außer einem Achtungserfolg, Selenskyijs Friedensformel international zu diskutieren, ist das nicht gelungen.“
Denn: China nahm an der Konferenz gar nicht teil. Außerdem trugen mehrere Staaten des globalen Südens - darunter Brasilien und Indien - die Abschlusserklärung des Gipfels nicht mit.
In Thieles Augen wurden zumindest erste Bausteine für spätere Waffenstillstandsverhandlungen identifiziert und konkretisiert. Ganz ohne Russland fand der Gipfel seiner Meinung nach nicht statt: „Putin spielte mit seinen Vorschlägen und Kommentaren vom Spielfeldrand unüberhörbar mit.“
Experte spricht sich für „Exitstrategie“ aus
Schließlich hatte der russische Präsident kurz vor dem Schweizer Friedensgipfel seine Bedingungen für Verhandlungen mit der Ukraine präsentiert. Kiew sollte demnach seine Nato-Pläne aufgeben und mehrere besetzte Regionen räumen.
Thiele, der unter anderem als Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr diente, findet letztlich: „Es gab schon bessere Zeiten für Verhandlungen. Die Perspektiven, auf dem Schlachtfeld zu gewinnen, werden für die Ukraine mit der Zeit absehbar schlechter.“
„Westliches Wunschdenken“, dass Russland eine Niederlage einfährt, hilft in den Augen des Militärexperten keinem der Beteiligten. Im Gegenteil: „Es ist für die eigene Sicherheit und Prosperität in einer zunehmend rauen Welt brandgefährlich. Die Eskalationsgefahr steigt.“
Auch Richter sagt: „Die Ukraine muss militärisch gestützt werden, damit sich ihre Position nicht weiter verschlechtert. Wir müssen erkennen, dass ein “Weiter so" nicht funktioniert, dass einzelne Waffensysteme kein „Gamechanger“ sind, dass sich die militärische Ressourcenlage Russlands nicht verschlechtert hat und Sanktionen vom globalen Süden nicht mitgetragen werden."
Er spricht sich dafür aus, über eine „Exitstrategie“ nachzudenken. Soll heißen: „Verhandlungen sind unvermeidbar. Allerdings werden die erforderlichen Kompromisse nun weitaus schmerzlicher ausfallen als noch vor zwei Jahren während der Istanbul-Verhandlungen.“
Schwierige Lage für die ukrainische Zivilbevölkerung
Schwierig bleibt die Lage letztlich auch für die ukrainische Zivilbevölkerung. Die Ukrainer müssen sich wegen des systematischen russischen Beschusses ihrer Energieanlagen in den kommenden Wochen auf noch größere Probleme bei der Stromversorgung einstellen.
„In der nächsten und den darauffolgenden Wochen wird die Situation deutlich schwieriger werden als heute“, warnte der Chef des Energieversorgers Ukrenerho, Wolodymyr Kudryzkyj, am Sonntag im ukrainischen Fernsehen. Bis Ende Juli werde es vermehrt planmäßige Abschaltungen und Stromsperren geben.
Schon jetzt müssen die Menschen im Land immer wieder mit Stromabschaltungen leben. Die anhaltenden russischen Angriffe mit Raketen und Drohnen haben das Stromnetz der Ukraine schwer geschädigt.
Laut Kudryzkyj wird es vor allem am Abend und in Stunden der Spitzenbelastung immer wieder zu Ausfällen kommen. Die Lage werde sich nicht ändern, bis die unaufschiebbare Reparatur an zwei Atomreaktoren abgeschlossen sei.