Steinmeier stimmt Deutsche auf rauere Zeiten ein
Berlin. 75 Jahre Grundgesetz - das ist Anlass für einen dankbaren Blick zurück. Aber auch für einen Blick auf bevorstehende Herausforderungen. Beides macht Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier in seiner Rede bei einem würdigen Staatsakt. Warum Altkanzlerin Angela Merkel einmal laut lachen musste.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes.
Vielleicht ist es das schelmische Lächeln von Schauspielerin Katharina Thalbach. Vielleicht der Fallschirmspringer, der mit der deutschen Flagge über dem Kanzleramt abspringt. Vielleicht aber auch die Klänge der Beethoven-Symphonie, welche das Orchester der Berliner Philharmoniker zur Aufführung bringt. All das kommt am Donnerstag zu einem sehr würdigen Staatsakt zwischen Kanzleramt und Bundestag zur Aufführung. Es ist eine Veranstaltung, die Gänsehaut-Momente mit einem gewissen Humor verbindet - das gelingt der deutschen Politik wahrlich nicht immer.
Es ist auch das Verdienst des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der die größte Rede seiner zweiten Amtszeit hält. Ihm gelingt es, den Festakt zum Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 75 Jahren mit der Geschichte beider deutscher Staaten zu verbinden und ein Ausrufezeichen für die Demokratie zu setzen. Am Ende erhebt sich das Publikum zu seinen Ehren.
Steinmeier würdigt das Grundgesetz als ein „großartiges Geschenk“ für Deutschland nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. „Ein Geschenk, das nicht nur in Erinnerung bleiben darf, sondern das wir im Alltag der Republik pflegen, bewahren und verteidigen müssen“, sagt Steinmeier. „Ich bin überzeugt: Diese Verfassung gehört zu dem Besten, was Deutschland hervorgebracht hat.“ Wer heute die Demokratie bekämpfe, „muss wissen, dass er es dieses Mal mit einer kämpferischen Demokratie und mit kämpferischen Demokratinnen und Demokraten zu tun hat“. Die Zuhörer klatschen lautstark. Inzwischen sei sie eine der ältesten Verfassungen weltweit und Vorbild für viele Verfassungen geworden.
Das Grundgesetz sei 1949 der „Aufbruch in eine hellere Zukunft“ gewesen. Es garantiere Freiheit und erwarte Verantwortung. „Es schafft ein stabiles Gebäude, in dem die Menschen sich zunehmend zuhause und aufgehoben fühlen konnten, in dem die Gesellschaft sich entwickeln und erneuern konnte. Es ist das Modell für das friedliche Zusammenleben in einer Gesellschaft der Verschiedenen - geschichtsbewusst und zukunftsoffen.“
Steinmeier lässt vor den Festgästen und Spitzen der Verfassungsorgane keinen Zweifel daran, dass sich am Feiertag für das Grundgesetz auch Unbehagen in den Stolz auf die deutsche Verfassung mische. Viele Menschen fragten, was von den großen Versprechen des Grundgesetzes bleibe, wenn Hass, Diskriminierung und Angriffe nahezu alltäglich seien. Folgen müsse daraus aber nicht ein kritischer Blick auf die Verfassung, sondern auf die Wirklichkeit, fordert der Bundespräsident. Das Grundgesetz sei dazu Kompass und Auftrag: „Unser Grundgesetz zeigt, was wir sein können.“
Das Land feiere ein doppeltes Jubiläum von 75 Jahren Grundgesetz und 35 Jahren Mauerfall. Dem Mut vieler Frauen und Männer in der DDR sei zu verdanken, dass sich das Freiheitsversprechen des Grundgesetzes von 1949 nach 1989 für alle Deutschen habe erfüllen können, sagt Steinmeier. Eindringlich mahnt der Bundespräsident, „in einer Zeit der Bewährung“ eine demokratiegefährdende Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung nicht zuzulassen. Politiker und Politikerinnen müssten ihr Handeln erklären und die Fragen der Menschen ernst nehmen.
Der Bundespräsident sieht insgesamt rauere Zeiten für das Land aufziehen: „Für mich steht fest: Wir leben in einer Zeit der Bewährung. Es kommen raue, auch härtere Jahre auf uns zu. Die Antwort darauf können und dürfen nicht Kleinmut oder Selbstzweifel sein.“ Falsch wäre es auch, von einer bequemeren Vergangenheit zu träumen oder täglich den Untergang des Landes zu beschwören. Dies lähme nur. „Wir müssen uns jetzt behaupten – mit Realismus, mit Ehrgeiz. Das ist die Aufgabe der Zeit. Selbstbehauptung ist die Aufgabe unserer Zeit!“
In der Hauptstadt ist man am Morgen des Staatsakts bereits sehr nervös. Überall Straßensperrungen, auf der Spree ist die Wasserschutzpolizei mit Booten unterwegs. Insgesamt 1000 Polizisten sind im Einsatz, die Polizei setzt einen Hubschrauber für Übersichtsaufnahmen aus der Luft ein. Auf dem Platz vor dem Kanzleramt sammeln sich am Mittag insgesamt rund 1100 Gäste. Darunter auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die meisten Minister, viele Ministerpräsidenten der Bundesländer sowie Vertreter des Bundestags und weiterer Institutionen. Auch Altkanzlerin Angela Merkel und der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder sind gekommen. Als Katharina Thalbach und Andreja Schneider eine musikalische Zeitreise durch die deutsche Geschichte intonieren, lacht Merkel an einer Stelle laut auf: „Du hast den
Farbfilm vergessen“ von Nina Hagen wird angespielt - dieses Lied hatte sie sich neben zwei weiteren zu ihrer Verabschiedung gewünscht.
Auf den Staatsakt folgt von Freitag an bis Sonntag ein Demokratiefest im Berliner Regierungsviertel, mit Musik, Diskussionsrunden, Filmen, Lichtinstallationen. Auch in zahlreichen anderen Städten finden Veranstaltungen statt. Doch das Motto des Tages liefert in einem Film-Einspieler ein Fotograf aus Weimar. Er habe in seinem Leben an jeder Wahl teilgenommen. „Wer nicht wählt, kommt in die Suppe“, sagt er lachend. Hoffentlich werden am Tag der Europawahl viele seinem Beispiel folgen.
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