Pianistin Hélène Grimaud: «Meine ersten Freunde waren Bücher»
Hélène Grimaud, Sie haben einmal gesagt, Musik bringe das Beste in uns zum Vorschein. Wenn man den Zustand der Welt ansieht: Hören wir zu wenig Musik?
Hélène Grimaud: Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Denn es ist schon so: Musik bringt uns Menschen zu unserem Kern, zu dem, was wir sind. Und sie hilft uns, intensiver zu fühlen. Was sonst ist es, was im Leben zählt?
Für Sie hat Musik das ganze Leben verändert: Als Kind hatten Sie Schwierigkeiten, Kontakte zu knüpfen. War Musik die Brücke zu anderen Menschen?
Ich weiss nicht, was passiert wäre, wenn ich die Musik nicht gefunden hätte. Aber sie hat sich nicht von Anfang an wie eine Brücke angefühlt. Ich hatte als Kind ADHS, und Musikmachen war eines der Dinge, die meine Eltern mit mir probierten, um meinen Überschuss an Energie zu kanalisieren. Anfangs empfand ich die Musik als Rückzugsort. Einen Ort, den ich mir immer vorgestellt hatte, und plötzlich hatte ich die Bestätigung: Ja, es gibt ihn und ja, er ist tatsächlich alles, was ich brauche. Es war ein Gefühl wie von einem Extrem ins andere.
Von überaktiv zu zentriert?
Ja, wobei es bei mir mehr um einen mentalen Überschuss an Energie ging. Meine Eltern hatten mich auch ins Tennis und in den Kampfsport geschickt. Das hat gar nichts gebracht. Was Musik von Anfang an schaffte, war, meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Erst später habe ich realisiert, dass sie ein Weg zu anderen Menschen ist.
Sie sagen aber bis heute, dass Sie es privat vorziehen, allein zu sein.
Mein Empfinden ist, dass man in Konstellationen mit Gruppen oberflächlich bleibt, es entstehen keine echten Begegnungen. Was ich aber mag, sind Eins-zu-eins-Begegnungen. Insgesamt bin ich lieber allein als in Gruppen. Ich bin sehr selbstgenügsam. Meine ersten Freunde waren Bücher.
Noch vor der Musik?
Ja, weil ich ziemlich spät zur Musik gekommen bin, aber durch meine Eltern eine Vorliebe für das Lesen entwickelt hatte. Sie hatten eine grosse Bibliothek und haben mir auch viele Bücher geschenkt. Bücher waren und sind der Ort, wo ich in Gesellschaft bin.
Sie sind selbst Autorin von vier Büchern. Ist die Musik allein nicht genug?
Ich war durch meine Eltern schon immer sehr, sehr vertraut mit der Welt der Bücher. Im Übrigen haben viele Komponisten parallel zur Musik auch geschrieben. Es ist ein anderer Weg. Man kann sagen, Musik sei eine Sprache, aber sie ist viel mehr. Jedenfalls gab es bei meinen Kollegen schon in der Vergangenheit immer das Bedürfnis, bestimmte Konzepte in Sprache zu übersetzen. Nur ist das fast unmöglich. Sobald man versucht, etwas in Worte zu fassen, wird man um die Nuancen betrogen. Das passiert schon, wenn es sich um einen Gedanken handelt und erst recht um ein Gefühl.
Weil man die Dinge auf einen Ausdruck beschränken muss?
Ja. Und so wunderbar und ausgefeilt die Sprache ist, so viele Schattierungen sie bietet, sie kann diese Begrenzung nicht überwinden. Auch wenn die Menschen in Bücher abtauchen und Zuflucht darin suchen, die Musik ist eine noch ursprünglichere Kraft. In der Musik sind wir so offen und aufrichtig, wie wir nur sein können. Darum kann sie an unser Innerstes rühren. Weil wir Menschen dieselben Bedürfnisse, dieselben Ängste, dieselben Sehnsüchte haben. Das verbindet uns.
Hat es auch mit diesem Sich-Öffnen zu tun, dass Sie Anfang der 2000er Jahre ein Reservat aufbauten und mit Wölfen zusammenlebten?
Ich habe damals oft erzählt, wie einschneidend meine erste Begegnung mit einem Wolf war. Mein Körper stand unter Strom. Aus dieser persönlichen Passion wurde eine Mission. Es sind sehr charismatische Tiere, aber auch sehr kontroverse. Sie verkörpern für mich die Schwierigkeit in unserem Verhältnis zur Natur, wo im grossen Bild wir Menschen uns positionieren.
Ende der 1990er Jahre baute Hélène Grimaud in den ;USA ein Reservat für Wölfe auf und bewohnte ein Haus auf dem Gelände (Aufnahme von 1998). Pierre Perrin / Sygma / Getty
Gehören Natur und Musik für Sie zusammen? Sie haben einmal gesagt, Musik zu hören, sei, wie der Natur zuzuhören.
Es ist doch eine Tatsache, dass Natur für viele schöpferisch Tätige, ob Maler, Dichter oder Komponisten, die grösste aller Musen war.
Sie verstehen den Naturbegriff weit gefasst, quasi als «menschliche Natur»? Die meisten Lieder und Gedichte handeln doch von Liebe oder unerfüllter Liebe.
Aber nicht nur. Viele Gedichte sind deskriptiv, betrachten die Landschaft. Und wenn Sie von der menschlichen Natur sprechen: Es gäbe keine menschliche Natur ohne die Erde, die wir bewohnen. Ausserdem kamen den Komponisten ihre herausragendsten Ideen oft, während sie durch den Wald oder übers Land wanderten. Da war eine besondere Verbindung. Und diese versuchten sie zu übersetzen.
Sie haben sich immer wieder zu Klimafragen geäussert und wurden auch als Klimaaktivistin bezeichnet. Als Musikerin sind Sie aber Teil eines klimafeindlichen Systems und fliegen um die Welt.
Das Fliegen ist eine Sache, aber wenn man es mit dem Fleischkonsum vergleicht, ist es das kleinere Problem. Alle, die mich wegen des Fliegens in Beschuss nehmen, sollen mir zuerst sagen, was sie essen. Dann reden wir weiter.
Trotzdem: Letztes Jahr wurden im Juni die höchsten Temperaturen seit Messbeginn erreicht, gleichzeitig gab es die höchste Zahl an gemessenen Flugbewegungen.
So ist die menschliche Natur. Der Mensch wartet immer, bis es einfach nicht mehr anders geht.
Man könnte das über Gesetze und Gebühren regulieren, etwa dass ein Flug 1500 Franken kostet.
Das täte zwar weh, aber es wäre naiv. Weil man damit nur die bestrafen würde, die sich das nicht leisten können. Ich glaube nicht an Lösungen von oben.
Warum nicht?
Weil man nicht alle erreicht und schon gar nicht überzeugt. Man muss die Menschen überzeugen, sonst hat man gar nichts.
Sie werden im August dreimal am Gstaad Menuhin Festival spielen. Der Intendant Christoph Müller sagt, dass es in zehn Jahren keine Festivals mehr nur mit klassischer Musik geben werde.
Was einem geboten wird, ist nicht so sehr das Problem. Jeder kann entscheiden. Wenn dir das Angebot nicht gefällt, dann wähle eben etwas anderes.
Einspruch. In meiner Kindheit wurde aus Bayreuth der ganze «Ring» im ZDF übertragen. Heutige Kinder kommen nicht mehr mit klassischer Musik in Berührung. Und was sie nicht kennen, können sie auch nicht wählen.
Das stimmt, und das führt zu den grundsätzlichen Fragen. Wenn man die Welt ändern will, muss man bei der Bildung beginnen. Und eigentlich sollten es die Schulen und staatlichen Ausbildungssysteme sein, die Kindern den Zugang zu Kultur, Information und Wissen ermöglichen, unabhängig davon, aus welchem familiären Umfeld sie kommen. Sonst sind wir zurück bei einem System, das darauf aufbaut, aus welcher Familie man kommt.
Kann klassische Musik auch eine Schule des Zuhörens sein? Jetzt, wo wir in den sozialen Netzwerken täglich mit Shitstorms und vorschnellen Urteilen konfrontiert sind.
Absolut. Aber ganz grundsätzlich ist Zuhören die Basis von allem. Wenn wir nicht zuhören, kann keine Konversation entstehen, oder sie läuft nur auf Autopilot, und man redet aneinander vorbei.
In dieser Hinsicht wirkt die klassische Musik etwas anachronistisch. Heute geht es oft um mich, meine Meinung, meine Perspektive.
Jemandem zuzuhören, heisst, sich zurücknehmen. Wenn man wie ich täglich mit Musik von Brahms und Bach konfrontiert ist, rückt einem das den Kopf zurecht. Man merkt, dass man niemals die totale Kontrolle hat – und wenn man sie hätte, würde man das Wichtigste verpassen.
War mit ihrer Eigenwilligkeit eine Herausforderung für die Lehrer: ;Hélène Grimaud als Zwanzigjährige (Aufnahme vom Dezember 1989 in Paris). Marc Deville / Gamma-Rapho / Getty
Was ist das Wichtigste?
Die Essenz. Sobald man dasitzt wie die Katze mit der Maus in der Pfote und denkt: «Grossartig, das fühlt sich phantastisch an», erreicht man nur einen Aspekt der Musik. Ich gebe zu, dass es befriedigend sein kann, ein Stück so zu präsentieren. Und es ist auch etwas an unserer Zeit, was diesen olympischen Aspekt von Live-Musik zu mögen scheint. Aber für mich geht das ureigene Wesen einer Performance immer auf die Frage zurück: Was kann ich dabei fühlen? Wenn wir allzu sehr eingenommen sind von den eigenen Möglichkeiten, geht etwas von unserer Verwundbarkeit verloren.
Warum müssen Sie verwundbar sein?
Weil es das ist, was mich mit dem Publikum verbindet. Es ist ähnlich wie beim Zuhören: Ich muss die eigene Person hintanstellen und akzeptieren, dass etwas anderes ins Spiel kommt oder sogar die Führung übernimmt. Es ist eine Verbindung von Gegensätzen, wie bei fast allem Interessanten im Leben. Und wer sein Leben auf der Bühne verbringt, hat ohnehin ein starkes Ego. Nur geht es darum, zu wissen, warum man es macht und wozu.
Wozu machen Sie es?
Lustigerweise hat mir soeben ein Freund einen Clip der Pop-Sängerin Pink geschickt. Darin sagt sie, natürlich seien die Shows für sie und ihre riesige Crew aufregend und gigantisch, aber vor allem seien sie Gruppentherapie.
Sie sehen das auch so?
Ja, weil wir alle etwas mit uns herumtragen, was wir loslassen müssen – ungeachtet, wer wir sind. Ich glaube, das ist das Ziel einer Live-Performance: gemeinsam zu einer Freiheit zu finden. Es ist eine Freiheit, die so nur in diesem Moment und nur mit diesen Menschen entstehen kann.