«Das lästigste aller Ungeziefer»
Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.
In seiner Literaturkolumne rezensiert Charles Linsmayer für 20 Minuten Neuerscheinungen und Klassiker. Dieses Mal: «Die Verwandlung» von Franz Kafka.
«Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergässe», sagt sich der Geschäftsreisende Gregor Samsa eines Morgens und überlegt sich, wie gern er die Stelle kündigen würde, mit der er Vater, Mutter und Schwester materiell absichert. Die «Narrheiten» aber, die er zunächst verdrängt, bedeuten, dass er sich über Nacht in einen Käfer verwandelt hat und als eine XXL-Ausführung der Bettwanze, die zu den «lästigsten aller Ungeziefer» zählt, auf dem Rücken liegt. Die Angehörigen werden sich der «Verwandlung», wie Franz Kafkas Erzählung heisst, erst allmählich bewusst.
Franz Kafka: «Die Verwandlung». Reclam-Verlag, Stuttgart. Fr. 4.90 auf Orellfuessli.ch.
Und während das Abfall fressende, hilflos herumkrabbelnde Ungetüm ihnen nach dem ersten Schock tatsächlich jeden Tag lästiger wird, bis es nach einem Geigenkonzert der Schwester vor drei slapstickartigen Zimmerherrn krepiert, findet sich auch Gregor selbst immer endgültiger mit der Grässlichkeit seiner Situation ab und hätte dem «Jetzt können wir Gott danken» des herrischen Vaters wohl beigepflichtet, als der es dem Dienstmädchen überlässt, «das Zeug wegzuschaffen». Anlässlich seines 100. Todestags ist Kafka, der lang als kaum verständlich galt, als jener Autor, der das von Katastrophen und Sinnlosigkeiten geprägte aktuelle Lebensgefühl am treffendsten spiegelt, in aller Munde. Und unmittelbarer und eingängiger als in den Romanen «Der Prozess» und «Das Schloss» lässt sich in «Die Verwandlung» nachempfinden, was das viel gebrauchte Modewort «kafkaesk» da, wo es herkommt, eigentlich bedeutet.