Wer nicht mindestens 500.000 Euro einbringen kann, sollte große Höfe nicht kaufen“

Wiesenburg im Hohen Fläming ist eine Brandenburger Bilderbuch-Gemeinde. Gelegen im Landschaftsschutzgebiet, mit eigenem Schloss und Regionalbahnanschuss nach Berlin. Trotzdem muss die Region um neue Einwohner buhlen. Wie rettet man ein Dorf? Anruf beim Bürgermeister.

wer nicht mindestens 500.000 euro einbringen kann, sollte große höfe nicht kaufen“

Ein altes Fachwerkhaus in Brandenburg: Wer nicht mindestens 500.000 Euro investieren kann, sollte einen so großen Hof nicht kaufen, warnt der Bürgermeister von Wiesenburg picture alliance/imageBROKER/Bernd Bieder

Umtriebig ist ein Wort, das Marco Beckendorf gut beschreibt. Wer sich mit neuen Ideen für strukturschwache Orte auf dem Land beschäftigt, stößt immer wieder auf den Bürgermeister der 4200-Einwohner-Gemeinde Wiesenburg/Mark, rund 100 Kilometer von Berlin entfernt. Schon die „New York Times“ schrieb über das hier ansässige Coconat, eine Herberge, die seit einigen Jahren „Worcation Retreats“ für landhungrige Büroarbeiter anbietet. Außerdem siedelten sich hier unter anderem ein Thinktank und ein mit dem Chaos-Computer-Club assoziierter Verein an. Am Bahnhof entsteht ein sogenanntes KoDorf, eine Genossenschaft für Großstädter, die gemeinsam aufs Land ziehen möchten.

Statistisch gesehen ziehen aktuell mehr Menschen von der Stadt aufs Land als andersherum. Nicht alle ländlichen Regionen profitieren aber gleichermaßen von der Entwicklung. Viele Dörfer müssen erfinderisch werden, um den Einwohnerschwund und seine Folgen aufzuhalten. Dazu zählt auch Wiesenburg mit seinen 14 Untergemeinden. Beckendorf wurde für diesen Job 2014 mit 32 Jahren quasi als Auswärtiger ins Amt gewählt. Der Linke-Politiker zog dafür aus Berlin in den Hohen Fläming, knapp zehn Jahre später ist er immer noch da. WELT erreicht ihn im Auto, er kommt gerade aus dem Wendland, wo er ein Dorfprojekt besucht hat. Der Empfang ist schlecht. „Ich fahre durch den Wald, gerade ist ein Fuchs über die Straße gelaufen“, warnt er.

WELT: Herr Beckendorf, was war die Situation in Wiesenburg/Mark, als Sie 2015 das Amt antraten?

Marco Beckendorf: Aus der Landespolitik hören wir auf dem Land oft, wir sollten ‚mal was tun‘. Das Problem ist aber: Wie sollen wir Strukturwandel machen, wenn wir jedes Jahr weniger Geld zur Verfügung haben? Die Höhe der Ausfinanzierung einer Gemeinde hängt nachweislich an ihrer Einwohnerzahl. Deswegen bin ich auch hier. Wiesenburg/Mark hat das Potenzial, um aus eigener Kraft den Erhalt zu schaffen; den Einwohnerverlust aufzuhalten. Ich komme selbst ursprünglich aus so einer Region in der Prignitz und habe deshalb Regionalwissenschaften studiert. Dabei lag mein Schwerpunkt auf kleinen Städten und Gemeinden mit sinkender Einwohnerzahl und hoher Verschuldung.

WELT: Wie hat sich denn die Einwohnerzahl seit ihrem Amtsantritt entwickelt?

Beckendorf: Wir sind Ende 2014 mit rund 4400 Einwohnern gestartet. Jetzt sind es 4250 Einwohner. Aber man muss dazu sagen: Wir hatten davor immer Verluste von 40 bis 50 Leuten im Jahr, diese Zahl konnten wir zumindest halbieren. Das lag aber auch daran, dass wir viele Geflüchtete aufgenommen haben (die Gemeinde hat ca. 200 Personen aufgenommen, Anm.). Nach der Wende sind die Arbeitsplätze im Ort – es gab eine Brauerei, eine Drahtzieherei, ein Sägewerk – größtenteils weggefallen. Danach entstanden kaum gut bezahlte Jobs. Das ist natürlich wenig attraktiv, wenn man versucht, Leute anzulocken mit Arbeitsplätzen, mit denen man sich heutzutage nur noch dann ein Haus leisten kann, wenn beide Vollzeit arbeiten.

WELT: Die Joblage führt auch dazu, dass jüngere Generationen abwandern.

Beckendorf: Genau. Und wenn die eigenen Leute, die eigenen Kinder, nicht zurückkommen, muss man offen sein, die Einwohnerverluste durch andere aufzuhalten – zum Beispiel mit Wahl-Berlinern aus Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen, die wieder ins Ländliche wollen. Diese Offenheit braucht es, damit man attraktiv ist ­– aber es dauert, sie zu schaffen. Zu mir hatten die Leute Vertrauen, weil ich ursprünglich auch aus Brandenburg komme. Ich habe immer gesagt: Ich bin einer von euch.

wer nicht mindestens 500.000 euro einbringen kann, sollte große höfe nicht kaufen“

Seit 2014 im Amt: Marco Beckendorf Privat

WELT: Sie sind von der Theorie in die Praxis gewechselt. Was hat sich als größere Herausforderung herausgestellt als erwartet?

Beckendorf: Dass alles so lange dauert! Wir erfinden in Wiesenburg/Mark nicht das Rad neu. Ich schaue, was aktuelle wissenschaftliche Studien zur Entwicklung der ländlichen Räume empfehlen. Deshalb versuchen wir es mit Coworking, Co-Living, aber eben auch Daseinsvorsorge, also den Erhalt des Einzelhandels, der Gastronomie. In der Theorie geht es viel um Nachhaltigkeit, dass man eher Brachen revitalisiert, als auf der grünen Wiese neu zu bauen. In der Realität ist das Problem, dass das Verfahren beim Bauen auf Brachen doppelt so lange dauert – die Bauaufsicht stellt hohe Anforderungen. Unter vier Jahren bekommen Sie nicht einmal Baurecht.

WELT: Das KoDorf, das Ende 2025 Ihrer Gemeinde 100 neue Einwohner bescheren soll, entsteht auf dem Gelände eines alten Sägewerks. Was bedeuten die Verzögerungen für so eine Genossenschaft?

Beckendorf: Es kam zu Nachforderungen von den zuständigen Behörden, gebraucht wurden Bodengutachten, Gutachten zu dem dort lagernden Müll, Ausgleich- und Ersatzmaßnahmen mussten geschaffen werden, und Pipapo. Das zieht das Verfahren ewig in die Länge. Pro Jahr springen Leute ab, steigen die Baukosten. Die Preise, die ursprünglich kalkuliert wurden, stimmen längst nicht mehr. Aber es kommen auch neue Leute mit jedem geschafften Meilenstein dazu.

WELT: Was denken die Alteingesessenen über die innovativen Projekte?

Beckendorf: Das wird konträr diskutiert, die Leute können sich nicht mit allem identifizieren. Dafür probieren wir zu viel Neues aus. Aber bei den Wahlen habe ich zuletzt wieder 67 Prozent der Stimmen bekommen, die Leute scheinen auf die Entwicklung zu vertrauen. Es gibt kaum ländliche Gemeinden wie uns, die eigene Co-Working-Spaces betreiben oder wo mit dem KoDorf ein Co-Living-Projekt entsteht. In den Städten gibt es das. Wir kopieren ein bisschen Leipzig, haben alte Fabrikgelände aufgekauft und versuchen, sie jetzt mit neuen Nutzungen zu revitalisieren – auch, um Schandflecken wegzubekommen. Dafür gibt es große Zustimmung im Dorf. Ob da Coworking oder Co-Living entsteht, ist dann auch egal.

Das Gespräch bricht ab, minutenlang herrscht Funkstille.

Um Wiesenburg für Alteingesessene wie für Zuzügler attraktiv zu machen, hat die Gemeinde in den vergangenen Jahren viel Geld investiert. Drei der vier ortsansässigen Cafés pachten ihre Lokale von der Verwaltung. Die Berliner seien schließlich eine gewisse Kaffeekultur gewohnt, argumentiert Beckendorf. 2023 ersteigerte das Rathaus die verfallene Brauerei im Ort, auch die alte Drahtzieherei ist in öffentlicher Hand. Kritiker warnen vor einer zu hohen Neuverschuldung. „Wir haben Angst uns zu verschulden“, sagte sein Herausforderer Robert Pulz (parteilos) vor der Bürgermeisterwahl 2022 im Interview mit dem Sender 3Sat. Andere Einwohner sorgten sich um die Bezahlbarkeit von Wohnungen.

„Es gibt die Sorge, dass die Wiesenburger so ein bisschen vertrieben werden, weil viele von Außen herum sehr viel aufkaufen, was sich hier kaum noch welche leisten können. In Berlin sind einfach die Umstände anders“, sagt eine junge Frau in die Kamera. „Bewundernswert“, befand ein älterer Ortsvorsteher, was Beckendorf in den vergangenen Jahren bewegt habe. „Ich find‘s nicht schlecht, wenn was angekurbelt wird, denn es liegen ja viele Projekte brach“, sagte eine weitere Anwohnerin – aber es koste alles Zeit und Geld. Ohne eigene Investitionen ließen sich aber keine Fördermittel abrufen, argumentierte Beckendorf. Zum Glück, so sagt er heute, habe die Gemeinde die Niedrigzinsphase für sich nutzen können.

Der Bürgermeister entdeckt schließlich auf seiner Fahrt einen Funkturm, hält das Auto an und ruft zurück.

WELT: Wir haben bis jetzt über innovative Ansätze geredet, mit denen Sie Wiesenburg wiederbeleben möchten. Was ist mit der Industrie?

Beckendorf: Wir machen alles, wir haben auch einen klassischen Gewerbepark und „normale“ neue Wohnbaugebiete. Es gibt eine Bandbreite von Menschen, die aufs Land ziehen wollen. Die Erfahrung der letzten neun Jahre ist: Nur das Ganze macht es attraktiv.

Das Problem mit den Wochenendpendlern

WELT: Gibt es auch etwas, wo Sie gemerkt haben: schöne Idee, aber in der Umsetzung funktioniert es nicht?

Beckendorf: Wir haben folgendes Phänomen: Es gibt hier inzwischen viele interessante Orte. Menschen ziehen extra in unsere Gegend wegen des Coconat, der „Alten Hölle“, des KoDorfs, den Cafés. Das große Aber ist, dass manche, die es sich leisten können, nicht ihren Hauptwohnsitz bei uns nehmen, sondern sich hier ein Zweithäuschen kaufen. Wir haben inzwischen Dörfer mit 20 bis 30 Prozent Wochenendnutzung, wo uns regulärer Wohnraum verloren gegangen ist. Die Anzahl der neu geschlossenen Kaufverträge steigt – die Einwohnerzahl sinkt trotzdem leicht. Das hilft uns bei den Steuern gar nichts. Deshalb erheben wir seit zwei Jahren eine Zweitwohnungssteuer.

WELT: Und von den Projekten, die Zuzügler angestoßen haben, was ist dort gescheitert?

Beckendorf: Es gab beispielsweise einen Verein, der eine große Immobilie gekauft hat, welche die Mitglieder total überfordert hat. Weil es zu wenig Eigenkapital gab, zu wenig Know-how, wenn das „nur“ Lebenskünstler sind. So ein 500-Quadratmeter-Haus muss halt auch saniert werden. Wer nicht mindestens 500.000 Euro oder mehr einbringen kann, sollte so große Höfe nicht kaufen. Man will sich ja auch erholen, wenn man aufs Land zieht – solche Gehöfte brauchen aber Jahre, wenn man sie allein sanieren will. Wer zwei linke Hände hat, wird damit unglücklich (lacht). Und wenn man als Gruppe kauft, sollte man sich rechtlich absichern, damit man keine Probleme bekommt, wenn nach zwei Jahren die Hälfte der Leute keine Lust mehr hat und ausbezahlt werden möchte. Ein Lebenslauf kann sich schließlich schnell ändern.

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