Warum Berlin seine ältesten Einwohner noch einmal zu Grabe trug
Selbst für Berlin war es eine ungewöhnliche Prozession, die am Sonnabend über die sonnengleißende Riesenbaustelle am Roten Rathaus zum neuen „Haus Petri“ am gleichnamigen Platz in Berlins historischer Mitte zog. Eine Schar sommerlich gekleideter Berlinerinnen und Berliner lief feierlich einer Trauerkutsche hinterher, in den Händen trugen sie 20 weiße Kindersärge. Begleitet wurde der Trauerzug von evangelischen und katholischen Geistlichen.
Kinder und Erwachsene trugen die Gebeine von etwa 100 Menschen von der Parochialkirche zum Petriplatz. © DPA Images | Annette Riedl|Kinder und Erwachsene trugen die Gebeine von etwa 100 Menschen von der Parochialkirche zum Petriplatz. © DPA Images | Annette Riedl
Bei den Toten handelte sich jedoch nicht um Opfer eines Verbrechens oder Unglücks. Zu Grabe getragen, beziehungsweise in das nun eröffnete Gebeinhaus („Ossarium“) des Archäologischen Hauses am Petriplatz überführt, wurden Überreste der „ersten Berliner“ aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Insgesamt ging es um Gebeine von etwa 100 Menschen, die zwischen 2007 und 2020 bei Grabungen gefunden wurden, darunter auch 20 Kinder.
Dass eine Stadt seine ältesten Einwohner feierlich ein zweites Mal bestattet, kommt wahrscheinlich nicht so oft vor. Und es ist wiederum typisch Berlin, dass daraus eine ökumenische Veranstaltung wurde, obwohl die ältesten Gebeine aus einer Zeit deutlich vor Martin Luther (1483-1546) datieren. Beteiligt war auch das „House of One“, das derzeit ein Mehrreligionenhaus mit Kirche, Synagoge und Moschee auf den Fundamenten der einstigen Petrikirche errichtet. Diese gehörte zu den ältesten Kirchen Berlins.
Die Gebeine der ersten Berliner stehen in kleinen Särgen im Gewölbe der Parochialkirche in Berlin. © DPA Images | Annette Riedl|Die Gebeine der ersten Berliner stehen in kleinen Särgen im Gewölbe der Parochialkirche in Berlin. © DPA Images | Annette Riedl
Die umfangreichen Grabungen seit 2007 auf dem Petriplatz hatten viel zum Verständnis der Anfänge Berlins beigetragen. Einige Funde datieren aus der Zeit vor 1237, der urkundlichen Ersterwähnung der Doppelstadt Berlin/Cölln. Auf dem Kirchhof der Petrikirche wurden 3787 Bestattungen geborgen und analysiert, die bis 1717 hier stattfanden.
Das hatten die Wissenschaftler um die Archäologin Claudia Melisch festgestellt, die die Überführung von der Gruft der Parochialkirche ins Haus Petri initiierte. Die meisten Knochen wurden bereits wieder bestattet. Die letzten ruhen nun im Ossarium des neuen Hauses, das ab 2025 über Anfänge Berlins informieren soll.
Landesarchäologe Wemhoff betont Respekt gegenüber den Bestatteten
Berlins Landesarchäologe Matthias Wemhoff nahm die Prozession am Zielort in Empfang. Er sagte der Berliner Morgenpost, die Überführung geschah vor allem aus dem Respekt gegenüber den Berlinern heraus, die dort begraben waren. „Gleichzeitig gab es aber den Wunsch, eine angemessene und ethisch vertretbare Unterbringung für die Gebeine zu finden, die es aber trotzdem möglich macht, die Funde auch in Zukunft für die Forschungszwecke gebrauchen und nutzen zu können.“
Deshalb seien die Menschen nun individualisiert bestattet worden und das an der Stelle, „wo sie ursprünglich ihre ewige Ruhe gefunden haben“, sagt der Archäologe. „Jedes Skelett hat in dem Ossarium ein einzelnes Fach.“
Gebeine spielten in der Forschung zunehmend eine gewichtige Rolle, denn man könne technisch mittlerweile sehr genau sagen, wann die Knochen in die Erde gekommen seien. „Dazu kommt die Genetik, die uns sagt, ob es verwandtschaftliche Beziehungen gab. Und Untersuchungen an den Zähnen geben Aufschluss über die Herkunft.“
Für die nun bestatteten ersten Berliner gilt: Die meisten waren nicht verwandt, und sie kamen von weiter her. „Berlin ist eine Stadt, die besiedelt wurde“, sagt Wemhoff.
Am Sonnabend konnten Interessierte bei einem Tag der Offenen Tür schon einmal einen Blick in das neue Haus am Petriplatz werfen - und auch auf die „Ur-Berliner“ und ihre Geschichte. Wie das kleine Skelett aus „Gefach 77“, an dem ein Schild informierte: „Im 16. Jahrhundert verstarb dieses Kind zwischen vier bis sechs Jahren. Es war zu Lebzeiten zwischen 97 und 98 groß und somit wesentlich kleiner als heutige Kinder in diesem Alter. Ob es vielleicht von Geburt an kränklich war, verrät uns das kleine Skelett leider nicht.“ mit dpa