„Melancholie des Widerstands“ an der Berliner Staatsoper: Vor der Leinwand und hinter der Leinwand
Philippe Jaroussky (Valouchka) und Sandrine Piau (Rosi Pflaum) singen sehr schön in der „Melancholie des Widerstands“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden.
Was man seit Jahrzehnten am Musiktheater unserer Zeit beklagt – die Übermacht der Regie und die zwanghafte bis unhinterfragte Verwendung von Videotechnik –, hat die Staatsoper Unter den Linden in ihrer letzten Produktion dieser Saison, der Uraufführung „Melancholie des Widerstands“, in einer Weise auf die Spitze getrieben, die das Musiktheater in einem bestimmten Sinne abschafft.
David Marton, der verpflichtete Regisseur, hatte die Idee, in einer Inszenierung „mit filmischen Mitteln zu experimentieren“, und besprach sich dann mit dem verpflichteten Komponisten Marc-André Dalbavie, was man denn Schönes zusammen machen könnte. Man einigte sich auf László Krasznahorkais Roman „Melancholie des Widerstands“. Guillaume Métayer schrieb ein Libretto, eine Musik wurde auch erstellt, vor allem aber entstand ein Bühnengeschehen, das als solches von großer technischer Virtuosität und Schönheit ist. Die eigentliche Spielfläche auf der Drehbühne wird von einer Leinwand verdeckt, auf der man sieht, was hinter der Leinwand live mit den Sängern gefilmt wird. Manchmal hebt sich die Leinwand auch ein wenig, dann bewegt sich noch immer die Kamera. Oder es wird vor der Leinwand gespielt, wo nur ein Flügel steht. Dann gibt es Szenen, in denen die Menschen in einer irrealen Landschaft stehen, vor einem großen Transporter, in dem sich ein Wal befindet – und in dem Wal ein „Herzog“.
Klingt interessant? Ist es auch. Krasznahorkai hat in seinem Roman eine kleine Stadt erschaffen, in der sich die Anzeichen eines nahenden Weltuntergangs mehren. Angèle Esther – von Tanja Ariane Baumgartner sehr vielfältig als übergriffige, rücksichtslose Giftspritze dargestellt – klappert ihre Bekannten ab, um Unterstützung für ihr Krisenmanagement zurekrutieren. Vor allem soll ihr Mann Georges in dieser Krise zum Anführer werden. Georges – etwas spröde gesungen von Matthias Klink – hat seinen Beruf als Direktor einer Musikschule aufgegeben und sinnt jetzt dem Problem nach, warum man ein Klavier nicht rein stimmen kann. Zusammen mit Valouchka, einem jungen Briefträger und Hobby-Astronomen, dekonstruiert er jenen von Pythagoras bis Kepler postulierten Zusammenhang zwischen der Harmonie des Weltalls und der Harmonie der Musik: Die Planetenkonstellationen verheißen Unheil, und eine reine Stimmung stößt auf Widersprüche. Eine Art Zirkus kommt in die Stadt und verspricht als Attraktion einen Wal, in dem ein dreiäugiger „Herzog“ steckt. Damit gerät die Lage vollends außer Kontrolle.
Ein starker Stoff, von Belá Tarr schon unter dem Titel „Die Werckmeisterschen Harmonien“ verfilmt. Der Film gilt mit 39 Einstellungen bei 145 Minuten als Inbegriff epischer Ruhe. Das kann man von diesem etwas kürzeren Musiktheater nicht behaupten. Die durch den Wechsel der Bildebenen sehr dynamische Darstellung des Geschehens hat zunächst durchaus Unterhaltungswert. Allerdings wiederholen sich die Effekte – jemand singt eben noch auf der Leinwand und tritt die Phrase fortsetzend real auf die Bühne oder umgekehrt – auch oft genug, um an Attraktion zu verlieren.
Und nun grundsätzlich: Bei aller Prägnanz ihrer Ästhetik arbeitet diese Produktion an einer Diffusion des Sängers mit, die in Berlin mit der „Zauberflöte“ an der Komischen Oper begann. An der Staatsoper werden alle Stimmen verstärkt, weil sie sonst hinter der Leinwand nicht hörbar werden. Aber Philippe Jaroussky und Sandrine Piau als Valouchka und seine Mutter Madame Pflaum singen so schön, dass diese leichte Verzerrung schon stört. Das Erscheinen eines Körpers auf der Leinwand, der zugleich angeblich singt, dessen Gesamteindruck also durch zwei verschiedene elektronische Verarbeitungswege zerlegt und in gewissermaßen unterschiedlicher Vergrößerung seiner visuellen und akustischen Erscheinung medial ausgegeben wird, schafft eine Irritation, die selbst nach künstlerischer Handhabung verlangt, hier aber als realistische Inszenierung gelesen werden soll. Die Integrität eines singenden Körpers – eigentlich die Essenz des Musiktheaters – wird zugunsten von digitalen Schauwerten zerstört, damit bloß niemand auf die Idee kommt, Oper könnte etwas anderes sein als das, was einen ohnehin schon von morgens bis abends umgibt.
Dalbavie hat sich vermutlich gefragt, wozu er sich überhaupt dafür etwas einfallen lassen soll. „Während der Proben gibt es wenig Überraschungen, weil das, was musikalisch entsteht, meist dem entspricht, was ich in meinem inneren Ohr gehört habe“, sagt er im Programmheft. Kunststück, wenn man ohnehin nur wie ein Filmkomponist den Musterkatalog postimpressionistischer Partituren plündert. Da gibt sich selbst der Dröhner Hans Zimmer bei ausgewählten Filmen mehr Mühe, individuelle Klänge und Figuren zu erfinden als Dalbavie in dieser hastig zusammengestotterten Bühnenmusik: Viele Dreiklänge, viele Quartenschichtungen, drohende Tutti-Akkorde, drohende Bässe, planierte Ostinatoflächen zur Gesangsbegleitung – der namhafte Mann hat es sich hier außerordentlich einfach gemacht. Marie Jacquot am Pult der Staatskapelle war beim Blick in die Partitur offenbar froh, wie übersichtlich es da zugeht. So wirkt die Aufführung mühelos vom Blatt gespielt. Wir werden sie auch mühelos wieder vergessen.
Staatsoper Unter den Linden 4., 7., 10., 12. Juli, 19 Uhr, Tickets 8-80 Euro