Charkiw: Der erste Rückschlag für Russland seit Langem

Die russische Offensive in Charkiw stockt – auch dank der Hilfe des Westens. Im Donbass kommen die Invasoren aber voran. Ihre Strategie: Den Gegner abnutzen und binden.

charkiw: der erste rückschlag für russland seit langem

Ein ukrainischer Soldat in Charkiw

Die ukrainische Stadt Wowtschansk und ihre Bewohner haben in diesem Krieg schon vieles durchmachen müssen. Die erste Besatzung durch die Russen im Frühjahr 2022 überstand der nordöstlich von Charkiw gelegene Ort zumindest äußerlich unversehrt. Später wurde er von den Ukrainern befreit. Doch seit Russland hier wieder angreift, ist Wowtschansk zu einem Trümmerfeld geworden. Russische und ukrainische Soldaten kämpfen um einzelne Straßenzüge und Häuser, werfen Bomben über den vom Gegner besetzten Gebäuden ab. Drohnenaufnahmen zeigen, dass kaum ein Haus noch unbeschädigt ist. Dennoch könnte der Ort nun zu einem neuen Symbol der ukrainischen Widerstandskraft werden. Zum ersten Mal seit vielen Monaten ist hier ein russischer Vormarsch von den Ukrainern offenbar gestoppt worden.

"Bei Wowtschansk gibt es ein Hin und Her. Beide Seiten versuchen sich gegenseitig zu umfassen, auf der Karte sieht das aus wie Yin und Yang", stellt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer fest, der den Krieg in der Ukraine analysiert. "Die Ukrainer haben es geschafft, die Russen im Raum nördlich von Charkiw zu stoppen und sie zeitweilig sogar zurückzudrängen. Das sind Erfolge auf der taktischen Ebene", sagt Reiser.

Die russische Offensive bei Charkiw läuft seit mittlerweile anderthalb Monaten. Und zuletzt wird immer klarer, dass sie sich für die russischen Angreifer zum ersten größeren Rückschlag seit vergangenem Herbst entwickelt hat. Zwar sind die Rückeroberungen der Ukrainer winzig. Und von einer umfassenden Gegenoffensive kann keine Rede sein. Den anfangs befürchteten Zusammenbruch ihrer vordersten Linie konnte die ukrainische Armee aber in dieser Region verhindern.

Als die russische Armee im Mai mit einem breit angelegten Angriff den neuen Frontabschnitt eröffnete, war ihre Absicht klar. Die Ukrainer sollten gezwungen werden, wertvolle Reserven in diese Gegend zu verlegen. Doch die russischen Streitkräfte hatten durchaus die Chance auf größere Geländegewinne. Wäre der Ort Wowtschansk schnell gefallen, hätten ihn die Besatzer als Ausgangspunkt für weitere Angriffe nutzen können. Stattdessen kämpfen beide Armeen nun in den verwüsteten Straßen der Stadt.

Russlands Gleitbomben bleiben gefährlich

Auf strategischer Ebene hat die Offensive dem russischen Militär zusätzliche Probleme gebracht. "Statt einer von Putin beabsichtigten Pufferzone bekommt er jetzt Schläge mit westlichen Waffen auf russischem Gebiet", sagt der russische Militäranalyst Jan Matwejew. Die schnelle Reaktion des Westens habe viele in Russland überrascht. Aus Angst vor weiteren Geländegewinnen der Russen lockerten die Ukraine-Unterstützer in Nordamerika und Europa einen Teil ihrer Beschränkungen, was den Einsatz von westlichen Waffen gegen Ziele auf russischem Territorium angeht. Seitdem können die Ukrainer auch auf russischem Terrain Fahrzeugkolonnen, Flugabwehr und Depots angreifen. Reisner schätzt, dass die Ukrainer vor allem dadurch den Vormarsch der Russen stoppen konnten.

Die Taktik der Verteidiger geht also auf, deshalb würde die Ukraine sie auch gern ausweiten. Dabei machen die westlichen Verbündeten allerdings derzeit nicht mit. Die von ihnen bislang gelieferten Waffen reichen meist lediglich bis ins russische Grenzgebiet.  Für Angriffe tief ins Land hinein kämen die aus den USA gelieferten ATACMS-Raketen infrage, mit einer Reichweite zwischen 165 und 300 Kilometern.  Marschflugkörper vom Typ Scalp und Storm Shadow, die Frankreich und Großbritannien den Partnern in Kiew lieferte, kämen noch weiter. Sie zerstören Ziele in einer Entfernung von 250 bis 560 Kilometern.

Doch der Westen schränkt die Nutzung dieser Waffen weiterhin ein und erlaubt der Ukraine keine Angriffe mit ihren Systemen tief im russischen Gebiet. Noch immer bleiben sensible Ziele wie Flughäfen, an denen schwere Bomber aufsteigen können, für Angriffe damit ausgeschlossen. Die Ukrainer drängen bislang vergeblich darauf, auch diese Beschränkungen aufzuheben.

Denn seit Monaten setzt die russische Luftwaffe sogenannte Gleitbomben ein, die von Kampfflugzeugen in großer Entfernung vom Ziel abgeworfen werden können. Allein am Nachmittag des 26. Juni warfen die Russen elf Lenkbomben auf Lypzi, einen Ort nördlich der Stadt Charkiw, ab, teilte der ukrainische Generalstab mit. Mittlerweile sollen die Russen sogar schwere Drei-Tonnen-Bomben mit Gleitfunktion ausgerüstet haben und diese einsetzen. Diese haben eine große Sprengkraft und wurden im laufenden Krieg kaum verwendet, weil die Flugzeuge sich dem Zielort bislang nähern mussten und damit ins Visier gegnerischer Abfangjäger und der Flugabwehr kamen. Immerhin kann die Ukraine nun mit der aus dem Westen gelieferten Luftverteidigung ebenfalls nach Russland hineinschießen, um feindliche Bomber vom Himmel zu holen. Für die ukrainischen Verbände in Frontnähe, aber auch für die Zivilisten ist das eine gute Nachricht.

Gleichwohl hat der gescheiterte russische Vorstoß nicht dazu geführt, dass Russland die Initiative im Krieg insgesamt verloren hat. Beide Seiten erlitten empfindliche Verluste. Doch während Russland an diesem Frontabschnitt frische, teils neu aufgestellte Truppen in den Kampf geworfen hat, musste die Ukraine auch Eliteeinheiten einsetzen, wie das dem Geheimdienst HUR unterstellte Kraken-Bataillon oder die Spezialisten für den Einsatz von First-Person-View-Drohnen (FPV) vom 414. Bataillon der Drohnenstreitkräfte, auch als Madjars Vögel bekannt.

Dafür zahle die Ukraine einen hohen Preis, sagt Reisner. Denn die bereits 1.200 Kilometer lange Front habe sich noch einmal um 200 Kilometer verlängert. Und die Ukrainer müssten nun Truppen, die sie eigentlich im Donbass einsetzen sollten, im Norden ins Gefecht schicken. "Bei Charkiw sind gut 40.000 ukrainische Soldaten im Einsatz, die im Donbass fehlen. In der Ostukraine gewinnen die russischen Streitkräfte trotz hoher Verluste Kilometer um Kilometer. Langsam, aber stetig kommen sie voran."

Sehr wahrscheinlich werden die Russen dieses Vorgehen fortsetzen. Eine Offensive sei nicht immer eine Feuerwalze, die alles vor sich zerstört, sagt Oberst Reisner. Russlands Strategie sei es, die Ukrainer abzunutzen und Kräfte an bestimmten Stellen zu binden. Durch das Verlängern der Front sorgen die russischen Streitkräfte dafür, dass es den Ukrainern immer schwerer fällt, die völlig überdehnten Verteidigungslinien zu halten. Schon jetzt hätten sie Einheiten von anderen Frontabschnitten lösen und nach Charkiw senden müssen. Dabei gehen der Ukraine die Soldaten aus. Sie habe bereits mehr als 70 Prozent ihres kampferfahrenen Personals verloren.

Russland wiederum nutzte die ukrainischen Gegenangriffe bei Wowtschansk, um die ukrainische Artillerie ins Visier zu nehmen, die der Front gefährlich nah kommt. Sobald die Geschütze schießen, sind sie für den Gegner leicht zu orten. Russische Einheiten nutzen die Gelegenheit für Drohnenangriffe. Im Mai wurden mehr von den gefährlichen Lancet-Drohnen eingesetzt als in jedem anderen Monat des Krieges. Seit Beginn der Charkiw-Offensive sind etwa 450 Einsätze dokumentiert.

Und selbst wenn die Ukrainer die Russen erfolgreich aus Wowtschansk vertreiben sollten – nördlich davon graben sich russische Truppen bereits in Befestigungsanlagen ein, um sich nicht weiter zurückdrängen zu lassen.

Donbass bleibt weiter bedroht

Selbst wenn also Russland Wowtschansk aufgeben müsste, ein anderes Kriegsziel hätte die Armee erreicht. "Die besten Einheiten haben sich nun im Norden konzentriert, während weiter südlich das Schicksal des Donbass entschieden wird", schreibt ein Leutnant der ukrainischen Streitkräfte in einer Mitteilung an ZEIT ONLINE.  "Eigentlich müssten die Einheiten längst gegen neue ausgetauscht werden, doch dazu reichen die Ressourcen nicht aus."

Wie gefährlich das werden kann, konnte man kürzlich in Torezk beobachten, einer Stadt nördlich von Donezk. Laut übereinstimmenden Berichten ukrainischer Soldaten wurde eine Brigade nach aufreibenden Kämpfen um Tschassiw Jar an den Abschnitt weiter südlich bei Torezk verlegt. Die dort stationierte frische Brigade wurde von diesem Abschnitt dafür nach Tschassiw Jar abgezogen. Die Russen nutzten das für einen Überraschungsangriff. Sie besetzten dabei mehrere Dörfer.

Als Reaktion darauf entließ Präsident Wolodymyr Selenskyj den Befehlshaber der Streitkräfte Jurij Sodol, der während des neuerlichen russischen Durchbruchs im südukrainischen Odessa bei einer Feier gesichtet worden war. Der Anführer des Bataillons Asow, Bohdan Krotewytsch, erstattete gar öffentlich Anzeige gegen Sodol. In einem offenen Brief kritisierte er ihn als einen General, der "mehr ukrainische Soldaten auf dem Gewissen" habe als manch russischer Befehlshaber. Am Mittwoch dann besuchte Selenskyj die Stadt Pokrowsk, die zurzeit zwar noch etwa 20 Kilometer westlich der Frontlinie ist, jedoch zu einem wichtigen Ziel der Russen geworden ist. Der Frontbesuch des Staatsoberhauptes bei der Truppe ist ein Zeichen dafür, wie ernst die Gefahr auf diesem Abschnitt von der ukrainischen Führung genommen wird. Entspannung ist für die Ukraine erst einmal nicht in Sicht. 

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