Russische Öltanker: In der Ostsee droht eine Umweltkatastrophe
Wichtig für die Verteidigung von NATO-Territorium: die schwedische Ostseeinsel Gotland
Nur wenige Seemeilen östlich von Gotland sind regelmäßig große russische Öltanker unterwegs. Ihre Route kann man live im Internet verfolgen. An diesem Tag fährt etwa der Rohöltanker Moskovsky Prospect an der schwedischen Insel vorbei. Ein rund 250 Meter langes, 44 Meter breites Schiff, unterwegs aus dem russischen Primorsk ins indische Sika.
Auch der Rohöltanker Raven kommt vorbei. 270 Meter lang, 46 Meter breit, auf dem Weg von Ust-Luga, Russland, nach Singapur. Und auch die Zircone ist wieder da, sie steht wie immer an ihrem Platz wenige Seemeilen von Gotland entfernt.
Die Zircone kennt man in Schweden schon. Es handelt sich um ein Bunkerschiff. Also eines, das andere Schiffe mit Treibstoff versorgt. Die Zircone fährt unter der Flagge Zyperns und gehört einer lettischen Firma. Mehr als 50 russische Schiffe hat die Zircone im März und April betankt, so beobachtete es der schwedische Sender SVT – und seitdem ging es immer weiter.
Meistens sind es Schiffe, die Rohöl exportieren. Was die Zircone tut, ist nicht illegal. Doch es sorgt in Schweden für große Unruhe. Schließlich wird damit direkt vor Gotland die russische „Schattenflotte“ am Laufen gehalten.
Russland nutzt nicht versicherte Tanker
Konstruktion der Nord Stream Pipeline im April 2010
Seit 2022 nutzt Russland in zunehmender Zahl Tankschiffe oft unklarer Eigentümerschaft, um den von der G7 gesetzten Ölpreisdeckel zu umgehen. Der sieht vor, dass Russland kein Öl in Drittstaaten exportieren soll oberhalb eines gewissen Preises. Westliche Schiffe und Versicherungen dürfen dafür nicht genutzt werden. Damit sollen die russischen Einnahmen geschmälert und soll die finanzielle Unterstützung für den Krieg in der Ukraine verringert werden.
Ein schwedisches Kampfflugzeug über der Insel Gotland
Doch Moskau umgeht das, indem es zunehmend alte und schlecht oder gar nicht versicherte Tanker für den Export nutzt und so Rohöl weiterhin zu einem Preis deutlich oberhalb des Ölpreisdeckels verkauft.
Henrik Wachtmeister bezeichnet die „Schattenflotte“ als „tickende Zeitbombe“. Er warnt, dass es irgendwann zu einem Unfall und damit zu einer großen Ölkatastrophe in der Ostsee kommen werde. Wachtmeister forscht an der Universität Uppsala und dem Schwedischen Institut für Internationale Beziehungen zu Energiefragen, zuletzt vor allem zur Kriegsführung mittels Energie.
Nach Schätzung Wachtmeisters hat die „Schattenflotte“ mittlerweile einen Umfang von bis zu 2000 Schiffen, mindestens fünf große Rohöltanker sind stets gleichzeitig in der Ostsee unterwegs, außerdem noch eine Reihe kleinerer Schiffe. Die großen fassen jeweils rund 700.000 Barrel Rohöl, das sind mehr als 100 Millionen Liter.
Wachtmeister schätzt, dass rund 80 Prozent des russischen Rohölexports mit der „Schattenflotte“ durch die Ostsee verläuft – und damit auch an Gotland vorbei. Täglich rund 1,2 Millionen Barrel Rohöl und 0,6 Millionen Barrel verarbeitete Ölprodukte, etwa Diesel oder Heizöl.
Schwedische Soldaten bei einer Übung auf der Insel Gotland
Gotland ist wichtig für die Verteidigung der NATO
Die schwedische Insel Gotland, mitten in der Ostsee gelegen, war schon immer umkämpft. Wer über sie verfügt, hat die Macht in der Region. Russlands Enklave Kaliningrad ist nur 270 Kilometer südöstlich entfernt, Estland nordöstlich nur 150 Kilometer. Sollte Russland nach einem Ende des Kriegs in der Ukraine wirklich das Baltikum angreifen wollen, wäre Gotland für die NATO zur Verteidigung der baltischen Staaten entscheidend.
In Schweden hatte man das einige Jahre lang vergessen, Gotland wurde demilitarisiert, wurde zur Sonneninsel, wie es in Touristenprospekten genannt wird. Gotlands Rolle als unsinkbarer Flugzeugträger war nicht mehr gefragt. Ähnlich wie in Deutschland sah man auch in Schweden Anfang der 2000er-Jahre von Russland keine Gefahr mehr ausgehen, sondern vor allem wirtschaftliche Chancen.
Gotland nahm damals gern Geld aus Moskau an und überließ dafür der Gazprom-Tochterfirma Nord Stream einen Teil seines Hafens in der Industriestadt Slite, im Nordosten der Insel. Ausgerechnet das strategisch so wichtige Gotland wurde damit zu einem zentralen Werkzeug Moskaus, um die Nord-Stream-1-Gaspipeline in der Ostsee zu bauen. Die Pipeline ist in der Folge des russischen Angriffskriegs und ihrer Zerstörung wohl für immer Geschichte. Doch die enorme Infrastruktur, die dafür geschaffen wurde, ist heute noch zu sehen.
Der „Putinkai“ ist riesig
In Slite lagerte Nord Stream auf einer riesigen Kiesfläche die langen Rohre der Pipeline. Die Schiffe kamen am großen Kai am Industriehafen an. „Putinkai“, nennen die Anwohner ihn. Er ist riesig, 150 Meter lang und 30 breit. Damit hätte Russland viele schlimme Dinge tun können, sagt Solveig Artsman. Etwa Gotland in wenigen Stunden einnehmen. Damit der Westen nicht leicht zu Hilfe kommen kann, wenn Russland das Baltikum angreift.
Artsman war mehr als 35 Jahre lang Mitglied im Gemeinderat Gotlands. Auch 2008, als über die Kooperation mit Nord Stream 1 entschieden wurde. Sie habe versucht, ihre Kollegen vor Russland zu warnen, sagt die 69 Jahre alte Frau. Denn wozu habe Russland damals so eine riesige Anlegestelle gebraucht? Und warum habe Nord Stream darüber entscheiden dürfen, welche Schiffe im Hafen anlegen durften? „Aber die wollten nicht zuhören. Es ging damals nur um das Geld.“ Niemand habe die Gefahren gesehen.
Kollegen im Gemeinderat hätten ihr im Gegenzug vorgeworfen, Gotland zu zerstören, Russland zu hassen, Fachleuten nicht zu vertrauen, sagt sie heute. Europa brauche Energie, vor allem Deutschland, habe es geheißen. Sie sei beschimpft, gemobbt und bedroht worden, sagt Artsman.
Im März 2008 stimmte der Gemeinderat mit rund drei Viertel der Stimmen für die Kooperation mit Nord Stream. Ähnlich wie in Deutschland hieß es damals, es handele sich um ein reines Wirtschaftsprojekt. Später hätten ihr Kollegen ein Video von Russlands Präsident Wladimir Putin gezeigt, wie er „Blueberry Hill“ in Sankt Petersburg singt. 2010 war das. „Glaubst Du wirklich, der fängt einen Krieg an“, habe man sie gefragt, erzählt Artsman. Doch sie behielt recht. Entschuldigt dafür habe sich nie jemand bei ihr. „Ich habe damals getan, was ich konnte“, sagt sie heute. „Aber es hat nicht gereicht.“
Nach 2014 blickte Schweden anders auf Russland
Fast hätte die Insel auch noch beim Bau von Nord-Stream-2 mitgemacht, dem zweiten Strang der Pipeline, den Russland und Deutschland gegen den Widerstand aller anderen Ostseeanrainer bauten, zuletzt sogar mithilfe einer dubiosen Stiftung in Schwerin, die amerikanische Sanktionen verhindern sollte. Die Verhandlungen dafür waren auf Gotland weit fortgeschritten, wieder sollte der Hafen vermietet werden, diesmal für bis zu sechs Millionen Euro. Doch dann machte die Regierung in Stockholm deutlich, dass sie Sicherheitsbedrohungen sah. Der Deal platzte.
Nach der Krimannexion 2014 blickte man in Schweden – anders als in Deutschland – wieder nüchterner auf Russland. Man führte die Wehrpflicht wieder ein, rüstete auf. Verstärkt dann noch infolge des russischen Angriffskriegs. Auch auf Gotland gibt es mittlerweile wieder einige Hundert Soldaten.
Für sie sei der NATO-Beitritt ihres Landes ein Moment großer Erleichterung gewesen, sagt Artsman. Sie lebt im idyllischen Südwesten der Insel, wo weite Felder sich mit kleinen Gehöften abwechseln – die Häuser aus Holz und rot angestrichen. Artsman sieht Gotland weiterhin als umkämpft an. Auf ihrem Handy zeigt sie das Foto eines großen russischen Schiffs, das mehrere Tage vor Visby, dem größten Ort der Insel, gelegen hatte. Was habe das dort gemacht, fragt sie.
Sorge hat sie auch vor den russischen Fischerbooten, die regelmäßig vor Gotland zu sehen sind und womöglich der Spionage dienen. „Russland bleibt Russland, daran wird sich nichts ändern,“, sagt Artsman. Es habe schon immer seine Interessen in der Ostsee durchgesetzt, schon immer ein großes Interesse am Baltikum gehabt. Das habe man im Westen nur einige Jahre lang nicht wahrhaben wollen.
Russische Kampfflugzeuge im schwedischen und finnischen Luftraum
In der Ostseeregion hat man mit Attacken unterhalb der Schwelle eines Krieges seit 2022 viele Erfahrungen gemacht. Es gab und gibt etwa zerstörte Gaspipelines und Datenkabel, instrumentalisierte Migration, GPS-Störungen, Berichte über mögliche Grenzverschiebungen, zuletzt auch vermehrt russische Kampfflugzeuge, die in schwedischen oder finnischen Luftraum eindrangen.
Es könne auch eine Situation eintreten, in der eine Ölpest für Russland von Nutzen wäre, warnte der Forscher Wachtmeister mit Kollegen kürzlich in einem Bericht. „Eine Umwelt-Attacke könnte eine mögliche Strategie Russlands sein, um die NATO-Staaten rings um die Ostsee unterhalb einer Schwelle des Krieges zu schädigen.“ Moskau sei eine Umweltkatastrophe durch eine Ölpest wohl so gut wie egal, sagt Wachtmeister.
Er verweist darauf, dass Russland die Umweltkriegsführung auch in der Ukraine anwende, etwa indem es Dämme zerstöre. Allerdings wäre infolge einer bewusst herbeigeführten Ölpest die Reaktion des Westens vermutlich hart und könnte den russischen Ölexport schmälern. Russland braucht die „Schattenflotte“, um seinen Krieg in der Ukraine zu finanzieren.
Mit diesen Schiffen umgehe Russland „sehr effektiv“ den Preisdeckel von G7 und EU, sagte die finnische Außenministerin Elina Valtonen kürzlich bei einem Treffen des Ostseerats. Das ist ein Zusammenschluss der Ostseeanrainer ohne Russland. Valtonen warnte davor, dass die „Schattenflotte“ die fragile Umwelt der Ostsee massiv gefährdete und forderte Sanktionen.
Die Folgen für die Umwelt wären katastrophal
Aus Sicht Wachtmeisters wäre aufgrund der schlechten oder teilweise auch komplett fehlenden Versicherung der russischen Öltanker vermutlich der Großteil der Kosten für die Behebung von Ölkatastrophen von dem betroffenen Land zu zahlen. Er rechnet vor: Im Oktober lief die Fähre Marco Polo im Süden Schwedens auf Grund. Die Kosten für die Aufräumarbeiten werden sich wohl auf bis zu 15 Millionen Dollar belaufen. Dabei hatte die Fähre nur Treibstoff an Bord. Bei einem Unglück mit einem Tanker würde tausendmal so viel Öl auslaufen. Die Ostsee sei zudem aufgrund ihrer geringen Größe, ihrer Eingeschlossenheit und des kalten, brackigen Wassers besonders gefährdet bei einer Ölkatastrophe, warnt Wachtmeister, die Folgen für die Umwelt wären katastrophal. Es sei allerhöchste Zeit zu handeln.
Erst kürzlich flog nach Angaben der schwedischen Regierung ein russischer SU-24-Bomber über Gotland und wurde von schwedischen Gripen-Kampfflugzeugen abgefangen. Die Ostsee sei auch nach den NATO-Beitritten Schwedens und Finnlands kein „NATO-Meer“, wie es nun immer wieder heiße, sagt Niklas Granholm vom Schwedischen Forschungsinstitut für Verteidigung, einer zivilen Forschungseinrichtung, die dem Verteidigungsministerium untersteht. Der Begriff sei gefährlich, weil er dazu führen könne, dass die Abschreckung gegen Russland in der Region zurückgefahren werde. Das Meer bleibe umkämpft.
Seinen Angaben nach bewegen sich die oft unsicheren und unversicherten russischen Tanker der „Schattenflotte“ ohne Lotsen durch die dänischen Schifffahrtswege und die Ostsee, was die Risiken deutlich erhöhe und zu einer Ölpest führen könne. Aus seiner Sicht könnten die Schiffe Russland auch zur Spionage dienen.
Was aber dagegen getan werden kann, ist unklar. Würde die dänische Meerenge für russische Schiffe gesperrt, wäre das Problem zwar vollständig gelöst – und wären nebenbei Russlands finanzielle Mittel für die Kriegsführung massiv geschmälert. Doch wäre aus Sicht Granholms wohl eine aggressive Reaktion Russlands die Folge. Etwa eine Begleitung der Öltanker mit Kriegsschiffen, was zu einer raschen Eskalation führen könnte.
Zudem würde laut Granholm ein Stopp der russischen Schiffe wohl der Kopenhagener Konvention von 1857 widersprechen, die eine freie Durchfahrt regelt. Granholm kann sich eher vorstellen, dass es künftig die Pflicht geben wird, Lotsen aufzunehmen oder Umwelt- und Sicherheitsinspektionen der Schiffe durch dänische Behörden zuzulassen. Dänemarks Außenminister Lars Lökke Rasmussen sagte zum Thema kürzlich, sein Land habe eine Gruppe verbündeter Staaten gebildet, die Maßnahmen gegen die „Schattenflotte“ prüften. Konkrete Schritte wurden jedoch bisher nicht unternommen.
Kürzlich hat Großbritannien Sanktionen gegen eine russische Versicherungsfirma eingeführt, die als zentral für die Operation der „Schattenflotte„ gilt. Welche Auswirkungen das haben wird, ist noch unklar. Effektiver wäre aus Sicht von Fachleuten eine Sanktionierung der einzelnen Schiffe.
Kurzfristig soll nun zumindest die Reaktion auf eine mögliche Ölpest verbessert werden. Finnlands Regierung und der Grenzschutz des Landes forderten kürzlich die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) auf, sich besser auf eine mögliche Ölkatastrophe in der Ostsee durch die „Schattenflotte“ vorzubereiten. Bisher hat die EMAS demnach nur ein einziges Bereitschaftsschiff zur Ölbekämpfung in der südlichen Ostsee stationiert. Nun soll sie aus finnischer Sicht ein weiteres Schiff für die nördliche Ostsee anschaffen, schließlich sei das Risiko von Ölverschmutzungen insbesondere im Finnischen Meerbusen deutlich gestiegen.