Nationalsozialismus: Hätte eine Machtelite Hitler beseitigen können?
Anfang der 1930er-Jahre hätte die deutsche Reichswehr Hitler und sein System beseitigen können.
Immer wieder wird in der Wissenschaft, Politik und in der Gesellschaft die eine entscheidende Frage gestellt: Hätten Hitler und seine Vasallen, hätte der furchtbare NS-Staat mit seinem einmaligen Zivilisationsbruch schon früh gestoppt werden können? Eine brisante These wird in diesem Kontext bisher kaum behandelt. Nach der Quellenlage gab es damals, Anfang der 1930er-Jahre, nur eine Machtelite, die Hitler und sein Unrechtssystem hätte beseitigen können: Die deutsche Reichswehr, die dann ab 1935 Wehrmacht hieß, hätte dazu die Möglichkeit gehabt.
Bereits der Chef der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein, der als Konservativer die Republik verteidigte, sagte zu Hitler persönlich: „Herr Hitler, wenn Sie legal an die Macht kommen, soll es mir recht sein. Im anderen Fall werde ich schießen.“ Der zukünftige Diktator kam, wie wir wissen, insbesondere aufgrund des Versagens des uralten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg legal an die Macht, die er dann sofort korrumpierte. Es gab eine Reihe von einflussreichen Generälen, die Hitler verhindern oder gleich wieder absetzen wollten: Hammerstein, Kurt von Schleicher oder Ferdinand von Bredow stehen stellvertretend für solche Überlegungen, die sich jedoch nicht zu dezidierten Plänen formten.
Ein Militärputsch hätte Deutschlands Schicksal auf andere Weise entschieden. Sicherlich wäre ein Staatsstreich als Ultima Ratio ein letztes mögliches Mittel gewesen; jedoch wäre mit einer Militärregierung sehr wahrscheinlich der spätere „große Krieg“ und vor allen Dingen der systematische Mord an den jüdischen Bürgern verhindert worden. Warum kam es dazu nicht? Weshalb entschied sich Deutschlands so desolat anders?
In den Morgenstunden des 30. Juni 1934 ließ Hitler nicht nur den SA-Chef Ernst Röhm und seine obersten Anhänger verhaften und später erschießen. Der sogenannte „Röhm-Putsch“ war gar keiner. Hitler selbst hatte einen möglichen Putsch Röhms, der die große paramilitärische SA befehligte, als Grund seines brutalen Vorgehens genannt – eine Lüge, wie so oft. Röhm hatte nie an einen Aufstand gegen seinen „Führer“ gedacht.
Zugleich jedoch ließ der Reichskanzler die Generäle von Schleicher (und auch dessen Frau Elisabeth, was Goebbels in seinem Tagebuch zynisch als „kleine Panne“ vermerkte, d. Red.) und von Bredow ermorden sowie ultrakonservative Mitarbeiter des Vizekanzlers Franz von Papen – wie den bekannten Edgar Julius Jung – erschießen. Die Reichswehr intervenierte nicht, sie unterstützte Hitler sogar dabei, die SA als ihren großen innenpolitischen Gegenspieler nachhaltig auszuschalten. Wie konnte sich das Militär als Machtelite nur so korrumpieren? Warum nutzte es nicht – und Hitler als Hasardeur hatte das durchaus befürchtet – diesen kriminellen Schlag gegen seine eigenen Generäle zur aktiven Gegenwehr aus?
Kurt von Schleicher mit seiner Ehefrau Elisabeth
Die Auflösung dieser entscheidenden Frage liegt in der großen List und Taktik Hitlers. Die Reichswehr wurde durch viele Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg gedemütigt: der Verlust des einstigen Prestiges und des „Elite-Status“ noch unter der Monarchie, die Reduzierung zum 100.000-Mann-Heer und die radikale Zurücknahme der Waffenausrüstung. Nun erlebte die Armee durch neuen Zuspruch wie die sogenannte „Wehrhaftmachung der Nation“ entscheidende Wertschätzung. So forcierte Hitler die militärische Wiederaufrüstung, die Vergrößerung des Personals und größere Verantwortung. Insbesondere bekam das Militär wieder staatlich legitimierte gesellschaftliche Anerkennung. Wichtige Generäle wie Walter von Reichenau und Werner von Blomberg ließen sich auf den Deal ein.
Kurz nach der Machtergreifung, mit Beginn des Februars 1933, erklärte der Diktator sein Ziel: Ein Krieg im Osten stehe in absehbarer Zeit bevor. Hierfür brauche er das Militär, damit könne es wieder wahre Größe zeigen. Es gab durchaus Skeptiker im Generalstab, die diesen Eroberungsvorschlag als „Wahnsinn“ bezeichneten, aber die inzwischen schon auf Linie gebrachte Mehrheit der Generalität setzte sich durch. Im Grunde wollte keiner aus dem Generalstab Hitlers Aussagen Anfang 1933 ganz glauben, nur die rasant zunehmende Wertschätzung nahm man sehr wohl billigend in Kauf.
Die SA hatte als brutale Stoßtruppe die NSDAP an die Macht geprügelt, kam für Hitlers krude Welteroberungspläne jedoch als undiszipliniertes Massencorps nicht infrage. Der treue Röhm wurde seinem Chef zu mächtig. Demgegenüber stand der klare Plan einer Aufwertung der Reichswehr als zukünftige große militärische Macht bei gleichzeitiger Eindämmung der SA.
Die Hitler treuen Generäle Reichenau und Blomberg setzen sich mit ihrem Kalkül durch: Mit Hitler sind wir wieder stark nach Jahren der empfundenen Demütigung. Wer garantiert uns denn nach einem möglichen Putsch diese Stärke? Der Monarch als einstiges verehrtes Machtzentrum hatte abgedankt, und viele Offiziere dachten durchaus noch in monarchistischen Kategorien. Und überhaupt: Würde das Volk einen Schlag gegen den überwiegend „geliebten Führer“ verstehen und damit hinter dem Militär stehen? Diese Überlegungen begleiteten die Generalität am 30. Juni 1934 und in den folgenden Tagen.
Die absurde Lüge des Diktators über einen angeblichen Putsch Röhms sowie das daraus folgende Morden bekamen von dem bekannten und systemtreuen Staatsrechtler Carl Schmitt sogar noch eine juristische Legitimation: Er erklärte in seinem berüchtigten Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ aufgrund seines heute wieder aktuellen „Freund-Feind-Denkens“ denjenigen als wirklich souverän, der über den Ausnahmezustand herrsche. Und das war eben nicht die Reichswehr, sondern der Diktator selbst. Dieser wurde damit zum obersten Richter erhoben. Jegliche juristische Unparteilichkeit war verschwunden.
Am 2. August 1934 starb der greise Reichspräsident Hindenburg. Von da an ließ Hitler alle Soldaten nicht mehr auf ihr Land Treue schwören, sondern mit dem berüchtigten „Führereid“ auf ihn allein. Das hatte weitreichende Konsequenzen: Zehn Jahre später hatten viele Persönlichkeiten des Widerstandes, die das Attentat am 20. Juli 1944 planten, aufgrund dieser „Ehrenbezeugung“ große Gewissensbisse, die Tat zu vollziehen. Durfte man mit einem Staatsstreich wirklich einen Ehrenkodex, einen Schwur brechen?
Das Kalkül der Reichswehr, sich durch Hitler als eigenständige Macht zu etablieren, hatte sich bereits 1934 als Illusion erwiesen. Die große Chance auf Eigenständigkeit, um eine Wende in der deutschen Geschichte herbeizuführen, war schon früh mit Beginn der Diktatur vertan.