Bernhard Schlink: „Man hätte die DDR-Aufarbeitung den Ostdeutschen selbst überlassen sollen“

bernhard schlink: „man hätte die ddr-aufarbeitung den ostdeutschen selbst überlassen sollen“

Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink im Gespräch mit der Berliner Zeitung

Als Treffpunkt schlägt Bernhard Schlink ein Café am Viktoria-Luise-Platz vor. An dem grünen Platz mit Springbrunnen ist es vormittags ruhig, man kann gut reden. Erst abends, wenn die Spiele der Fußball-EM beginnen, werde es am Platz laut, sagt Schlink, der in der Nähe wohnt.

Seine Romane werden regelmäßig Bestseller, im vergangenen Jahr „Das späte Leben“. Das Gespräch gilt allerdings nicht diesem Buch, sondern dem Verhältnis zwischen Ost und West. Schlink hat sich früh für Ostdeutschland interessiert, hat es bereist und kennt es wie wenige Westdeutsche seiner Generation. Gleich nach dem Mauerfall war er der erste Gastprofessor aus dem Westen an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Herr Schlink, woher kommt Ihr Interesse für den Osten?

Die Ferien meiner Kindheit und Jugend habe ich bei meinen Großeltern in der Schweiz verbracht. Mein Großvater hatte nicht Geschichte studiert, dafür war die Familie zu arm, er hatte aber ein großes historisches Wissen. Auf unseren Wanderungen hat er mir viel aus der deutschen Geschichte erzählt, die Geschichte des ganzen Deutschlands. Außerdem bin ich in einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen, mit Luther, Bach und Zinzendorf, und empfand das östliche Deutschland ebenso als meines wie das westliche. Deshalb bin ich 1964 zum Studium nach West-Berlin gegangen. Ich wollte auch Ost-Berlin erleben, das ganze Deutschland kennenlernen.

Sind Sie 1964 das erste Mal in die DDR gereist?

Ich hatte als Schüler eine Reise nach West-Berlin mit Besuch in Ost-Berlin gemacht. 1964 war ich beim Pfingsttreffen der deutschen Jugend. Anders als die West-Berliner Studenten durften wir Westdeutschen rüber. Wir waren neugierig auf unsere Altersgenossen im Osten, und sie waren neugierig auf uns. Die Kontakte fielen leicht.

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Berlin, 1964: „Wir hatten gerade erlebt, wie die Mauer gebaut und die Stadt zerrissen wurde.“

Wie war Ihr erster Eindruck?

Ost- und West-Berlin waren einander noch ähnlich. Vom Kudamm abgesehen war auch West-Berlin noch eine arme, graue, vielfach zerstörte Stadt.

Und Ihre Altersgenossen im Osten?

Sie hatten die Fragen, die man in dem Alter hat und die auch wir hatten. Wie wollen wir leben, was erwartet uns, was können wir gestalten? Sie wollten wissen, was wir lasen, was für Filme wir sahen, was für Musik wir hörten. Mein Freundeskreis war im Osten bald größer als im Westen; wir haben unsere Bücher mitgebracht, und sie gaben uns ihre mit. Und ich hatte eine Freundin in Ost-Berlin. Was haben wir Christa Wolfs „Geteilten Himmel“ diskutiert!

Musste man damals schon 25 D-Mark umtauschen, wenn man einen Tag in die DDR einreisen wollte? War das nicht viel Geld für einen Studenten?

Das musste man. Aber in den Buchhandlungen waren die Klassiker billig zu haben, wahre Schätze, und wir westdeutsche Studenten gingen zum Bücherkaufen rüber, in die Theater und Museen – wir interessierten uns für den Osten.

Das kann man sich heute kaum vorstellen. Noch immer trifft man Westdeutsche, die noch nie im Osten waren …

… und stolz darauf sind …

… und die noch nie von Christa Wolf gehört haben.

Das war damals anders. Wir hatten gerade erlebt, wie die Mauer gebaut und die Stadt zerrissen wurde – und waren nicht bereit, es einfach zu akzeptieren.

Haben Sie sich politisch mit den Ost-Berlinern auseinandergesetzt?

Wir im Freundeskreis haben Literatur studiert, Medizin, politische Ökonomie, ich Jura. Es gab viel zu reden, aber keine Auseinandersetzung West gegen Ost. Ich erinnere mich, wie wir aus dem Westen unsere Freunde aus dem Osten gefragt haben, ob sie nicht mal einen überzeugten Kommunisten einladen könnten, wie sie in der DDR-Literatur immer wieder positiv beschrieben wurden. Ihnen fiel niemand ein, nicht unter ihren Freunden, nicht unter ihren Bekannten, nicht unter ihren akademischen Lehrern.

bernhard schlink: „man hätte die ddr-aufarbeitung den ostdeutschen selbst überlassen sollen“

„Was haben wir Christa Wolfs ‚Geteilten Himmel‘ diskutiert!“: Szene aus der Verfilmung des Buchs von 1964, Regie führte Konrad Wolf.

Wie hat Ihre Familie darauf reagiert, dass Sie so viel drüben waren?

Mein Vater war Theologieprofessor, die Kirche und auch er hatten immer Kontakte in die DDR. Von seinen Reisen hat er Noten mitgebracht, auch sie billig und gut ediert, ein Geschenk für unsere Hausmusik. Kritisch sahen meine Eltern erst auf meine Kontakte in den Osten, als ich meine Freundin in den Westen holen wollte. Das fanden sie falsch.

Sie haben Ihrer damaligen Freundin zur Flucht verholfen.

Wir brauchten dafür gefälschte Papiere, die viel Geld kosteten, und ich dachte zunächst, meine Eltern würden mir etwas leihen. Die dachten nicht daran, und ich habe es mir anders zusammengeborgt.

Was waren die Vorbehalte Ihrer Eltern?

Sie waren dagegen, einen jungen Menschen von seinen Wurzeln zu reißen. Sie meinten, auch wenn meine Freundin es jetzt wolle, sei es doch ein Bruch mit ihrer Familie, mit ihrem Leben, mit ihrer Welt. Sie fragten mich, ob ich die Verantwortung dafür übernehmen könne.

Hatten Ihre Eltern Angst um Sie? Fluchthilfe war nicht ungefährlich.

Das stand für sie nicht im Vordergrund. Sie fanden uns zu jung – ich war 20 Jahre alt, meine Freundin ein Jahr älter.

Sie beschreiben die Flucht Ihrer Freundin in Ihrem Roman „Die Enkelin“, der 2021 erschienen ist. Birgit flieht darin über Tschechien mit einem gefälschten Pass zu Kaspar in den Westen. Lief das alles ohne Probleme?

Ja und nein. Aus unserem Freundeskreis haben einige auch noch anderen bei der Flucht geholfen, eine von uns wurde im Osten festgenommen und kam nach drei Jahren durch einen Austausch frei. Sie erzählte uns, dass die Flucht meiner Freundin schon unter den Augen der Staatssicherheit stattgefunden hatte, die nur noch nicht eingriff, weil sie noch nicht wusste und wissen wollte, wie wir an die Papiere gekommen waren.

Wie kam Ihre Freundin im Westen zurecht?

Sie hat die Flucht nie bereut. Aber etwas von dem, was die Bürger und Bürgerinnen der DDR nach der Wende erlebt haben, hat sie schon als Einzelne erlebt. Auch um diese Erfahrung geht es in dem Roman.

Sie beschreiben darin, wie eine Frau, die aus der DDR geflohen ist, ihre Identität und Vergangenheit versteckt.

Meine Freundin hat in einer Fabrik gearbeitet und geholfen, die Schulden, die wir durch die Kosten der Flucht hatten, abzutragen. Mit ihrer Ost-Vergangenheit kam sie nicht gut an. Als wolle sie sich’s im Westen auf dessen Kosten gut gehen lassen. Im Studium ist ihr Ähnliches passiert.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Es hat uns empört. Genauso die Einkäufe mit den Gutscheinen, die sie vom Senat bekam. Damit war sie als Bittstellerin und Almosenempfängerin abgestempelt.

Sind Sie danach weiter in die DDR gereist?

Nein, bis zum Grundlagenvertrag 1972 ging das nicht mehr, für die Freundin wegen ihrer Flucht, für mich wegen meiner Fluchthilfe. Über die Jahre sind einige Freunde aus unserem Kreis in den Westen gekommen, zumal Mediziner, die im Westen gesucht wurden und denen West-Krankenhäuser die Flucht finanzierten.

Sind Sie nach 1972 wieder in den Osten gefahren?

Meine Freundin und ich blieben befreundet und sind gemeinsam durch die DDR gereist. Ich erinnere mich an Halle, Jena, Weimar, Dresden. Und ich erinnere mich an die Fahrten über das Land, bei denen ich oft dachte: Das ist das alte Deutschland. Man fährt, dann beginnt ein Dorf mit den Häusern, mit denen es schon vor Jahrzehnten begonnen hat, man fährt durch, und dann hört das Dorf wieder auf. Es zerfleddert nicht, wuchert nicht ins Land. Ich mochte das sehr. Gut, es gab auch genug Hässliches.

Zum Beispiel?

Die Plattenbauten und die dem Abriss überlassenen oder lieblos wieder aufgebauten Häuser in den Städten.

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Borna bei Leipzig, 1985: „Ich erinnere mich an die Fahrten über das Land, bei denen ich oft dachte: Das ist das alte Deutschland“

Sind Sie weiter mit Menschen in der DDR ins Gespräch gekommen?

In den 1970er-Jahren hat mein Sohn als kleiner Junge in Heidelberg einen Ballon mit seiner Adresse steigen lassen, der bis in den Harz flog. Daraus ergab sich eine Brief- und Päckchenfreundschaft zu einer Familie dort. In den 1980er-Jahren waren wir bei ihr zu Besuch, einer Familie in eigenem Haus, er Ingenieur, sie Kindergärtnerin oder Lehrerin, ein selbstverständliches und glückliches Leben in der DDR.

Interessant fand ich, dass die 13-jährige Tochter beeindruckt von den beiden Mitschülern erzählte, die sich als Nazis bekannten. Sie fand sie radikal und mutig. Sie hatte wohl ein Gefühl für die Verlogenheit, mit der von der SED bis zu den Kirchen das gemeinsame humanistische Erbe beschworen wurde, und bewunderte die beiden jungen Nazis, die als Einzige dagegen rebellierten. Das ist einer der Faktoren, die nach der Wende zum Aufblühen des Rechtsradikalismus unter den Jugendlichen beigetragen haben.

Nach dem Mauerfall, im Dezember 1989, nahmen Sie am Zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin teil. Als Berater der Arbeitsgruppe, die eine neue Verfassung für die DDR entwerfen sollte. Wie kam es dazu?

Kurz nachdem die Mauer offen war, sprach mich Christian Pfeiffer an, ein Strafrechtskollege aus Hannover, später niedersächsischer Justizminister. Er hatte Kontakte zur Sektion Jura an der Humboldt-Universität und den Eindruck, sie hätte gerne einen Gastprofessor aus dem Westen. Er selbst konnte nicht, weil er die Braunkohlenluft im Osten nicht vertrug. Ich hatte damit kein Problem, bin hingefahren und habe mich vorgestellt. An der Humboldt-Uni hatte nicht jeder Professor sein eigenes Zimmer; es gab eine Art Lehrerzimmer mit Spinden an den Wänden und einem großen Tisch in der Mitte. Ich wurde an dessen Ende gesetzt und vernommen.

Wie war die Stimmung?

Mein Eindruck war, dass sie nicht wirklich jemanden aus dem Westen wollten, aber meinten, jetzt jemanden von dort wollen zu müssen. Jedenfalls haben sie mich genommen. Am Tisch saß auch Rosemarie Will, Professorin für Staatsrecht. Sie wusste, dass ich ein Lehrbuch über die Grundrechte geschrieben hatte. Nach einer Vorlesung sprach sie mich an, ob ich nicht als Experte an den Runden Tisch kommen könne, an dem gerade über die Grundrechte gesprochen wurde, und gab mir den Schlüssel ihres Trabis, der vor der Universität auf dem Mittelstreifen stand. Ich bin Richtung Pankow gefahren und mitten auf dem Alexanderplatz stehen geblieben.

Wie haben Sie ihn wieder in Gang gebracht?

Ein freundlicher Volkspolizist kam, beugte sich rein, legte ein Hebelchen um, und dann floss der Reservetank in den Motor.

Wie verliefen die Gespräche zur Verfassung am Runden Tisch?

Mir wurde schnell klar, dass mit wirklichem Engagement nur die Bürgerrechtler beteiligt waren, die die Revolution gemacht hatten. Die Vertreter der Blockparteien hielten sich zurück; sie wussten, dass die Karten des politischen Spiels nur vorläufig verteilt waren und erst mit der Volkskammerwahl endgültig verteilt würden. Bei den spannenden Verfassungsfragen, bei den Grundrechten und bei der Ausgestaltung der Demokratie, war das Interesse größer als bei den mehr technischen Fragen. Man wollte unter anderem ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Wohnung, keine reine Parteiendemokratie, sondern auch eine Demokratie der Bewegungen, plebiszitäre Elemente.

Wie sahen Sie diese Ideen als Jurist, der im Grundgesetz zu Hause ist? Wären sie eine Bereicherung gewesen?

Für keinen Verfassungsrechtler ist die Verfassung sakrosankt. Man kann immer dieses und jenes anders und besser gestalten. Die Ideen der Bürgerrechtler wären es wert gewesen, in die deutsche Einheit eingebracht zu werden. Aber hinter ihnen war nicht genug politische Kraft, und die Volkskammerwahl im März 1990 hat das besiegelt.

Was hätte eingebracht werden können?

Mehr plebiszitäre Elemente hätten dem Grundgesetz gutgetan. Auch und gerade weil sie die Enttäuschung, die die Parteiendemokratie des Grundgesetzes in den neuen Ländern hervorgerufen hat, wenn nicht verhindern, dann doch hätten mildern können. Und auch die Erweiterung der Grundrechte hätte nicht geschadet.

Ab 1990 waren Sie als Professor an der Humboldt-Universität. In dieser Zeit haben viele Ostdeutsche ihre Positionen an der Uni verloren. Haben Sie mitbekommen, dass das für viele eine schwierige Zeit war?

Ja, natürlich. Es gab die Großkopferten, die sofort die Zeichen der Zeit verstanden haben, mit Professorentitel ausgeschieden sind, sich einen Assessor aus dem Westen genommen und eine Anwaltskanzlei aufgemacht haben. In einem Land, in dem es gerade mal 800 Anwälte gab, haben sie alsbald reüssiert.

bernhard schlink: „man hätte die ddr-aufarbeitung den ostdeutschen selbst überlassen sollen“

Diskussion unter Historikern der Humboldt-Universität, 1990: „Man hätte die Aufarbeitung den Ostdeutschen überlassen sollen“

Und die anderen?

Der Westen meinte, bei Juristen besonders genau hinschauen zu müssen, weil sie für den Staat besonders wichtig und ihm besonders nahe gewesen seien. Das war eine Westsicht auf den Osten. Die Bedeutung, die Juristen im Westen haben, hatten sie im Osten nicht – die entscheidende Bedeutung hatte die Partei. Aber durch diese Westsicht hatten es die Kollegen aus dem Osten schwer.

Ich erinnere mich an einen Zivilrechtler, der mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch noch bestens vertraut war, an eine wunderbare Arbeitsrechtlerin – sie wurden überprüft und sortiert, und manche mochten sich dem schließlich selbst nicht mehr aussetzen. Ich verstand die Kollegin, die sich nicht daran festhalten lassen wollte, dass sie mit 16 der Staatssicherheit zugearbeitet hatte.

Sie konnten die Strenge nicht nachvollziehen, mit der die Leute aussortiert wurden?

Nein, das konnte ich nicht.

bernhard schlink: „man hätte die ddr-aufarbeitung den ostdeutschen selbst überlassen sollen“

Hans Modrow, letzter Regierungschef der DDR, im Jahr 1989 in Berlin: „Als lasse sich Geschichte verrechnen“

Wenn herauskommt, dass jemand eine Stasi-Vergangenheit hat, wird bis heute darauf fast reflexartig mit Verurteilung reagiert.

Damals habe ich von Richtern und Staatsanwälten, die aus dem Westen in den Osten kamen, oft gehört, jetzt gelte es gutzumachen, was unsere Eltern bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus versäumt hätten. Damals sei mit den Funktionsträgern nicht gehörig abgerechnet worden, jetzt könne und müsse das nachgeholt werden. Als lasse sich Geschichte derart verrechnen!

Außerdem gab es eine naive, ahnungslose Redlichkeit, mit der Richter aus dem Westen in der ehemaligen DDR über Wahlbetrug entschieden haben. Für sie war Wahlbetrug eben Wahlbetrug. Dass im Osten bei allen Wahlen gelogen und betrogen worden war, spielte keine Rolle. Die Verfahren gegen Hans Modrow, den letzten SED-Regierungschef, halte ich für abwegig.

Was hätte man bei der Aufarbeitung anders machen sollen?

Man hätte sie den Ostdeutschen selbst überlassen sollen. Warum dieser Aufarbeitungseifer?

Wurden die wichtigen Posten in der Uni dann rasch mit Westdeutschen besetzt?

Es ist der große Verdienst von Rosemarie Will, dass die juristische Fakultät der HU nicht abgewickelt wurde, anders als alle anderen juristischen Fakultäten der DDR. Als Dekanin immatrikulierte sie so viele Studenten, dass man nicht mehr abwickeln konnte. Und schließlich konnten auch acht Kollegen und Kolleginnen aus der DDR bleiben.

Sie haben im vergangenen Jahr gesagt, allmählich wachsen Ost und West zusammen, und das festgemacht an lauter werdenden ostdeutschen Stimmen, wie der von Dirk Oschmann. Der Soziologe Steffen Mau sagt, dass sich die Unterschiede zwischen Ost und West immer weiter verfestigen.

Es war immer eine törichte Annahme, dass der Osten einfach zum Westen wird. Das habe ich nicht gemeint. Wenn man sich die Wahlergebnisse der AfD im Westen ansieht, kann man feststellen, dass auch der Westen sich dem Osten annähert. Und es gibt mehr und mehr ostdeutsche Stimmen, die Teil des Diskurses sind; es ist nicht mehr nur ein westdeutscher, es wird ein gesamtdeutscher Diskurs.

Haben Sie das Buch von Oschmann gelesen?

Ich schreibe fast nie an Autoren, aber Dirk Oschmann habe ich nach der Lektüre geschrieben, dass ich sein Buch eine richtige und wichtige Stimme im gesellschaftlichen und politischen Diskurs finde.

Haben Sie den Eindruck, dass durch sein Buch ein gesamtdeutscher Diskurs entstanden ist? Er selbst hat daraus vor allem im Osten gelesen.

Es war die Zeit, als ich mit „Die Enkelin“ auf Lesungen unterwegs war. Ich wurde immer wieder auf sein Buch angesprochen, auch in der westdeutschen Provinz. Gewiss, mir sind dort auch die Leute begegnet, die stolz erzählten, sie seien noch nie jenseits der Elbe gewesen. Aber denen kann man auch klar und herb sagen, dass sie sich kein Urteil über etwas anmaßen dürfen, das sie nicht kennen.

Über Bücher ostdeutscher Autorinnen wird derzeit viel diskutiert. Jenny Erpenbeck, Katja Hoyer, Anne Rabe. Den einen wird vorgeworfen, die DDR-Geschichte zu verharmlosen, der anderen, ein zu düsteres, klischeehaftes Bild zu zeichnen. Verfolgen Sie diese Debatten?

Ich lese die Bücher. Manche gefallen mir besser, manche schlechter. Gerade habe ich „Kairos“ von Jenny Erpenbeck gelesen. Sie hat eine große sprachliche, erzählerische und gestalterische Kraft.

Jenny Erpenbeck wird von manchen der Vorwurf gemacht, sie zeichne in „Kairos“ die DDR und auch Moskau als Sehnsuchtsorte, sie betreibe „Ostdeutschtümelei“. Wie sehen Sie das?

Wir müssen endlich akzeptieren, dass die DDR viele Gesichter hatte. Meine Sekretärin ist in meinem Alter, sie schreibt seit über dreißig Jahren für mich. Sie ist ein Kind der DDR, hat dort ein normales Leben geführt und schaut darauf ohne Nostalgie – vieles ist besser geworden –, aber auch ohne Schrecken zurück. Solche Menschen kenne ich viele. Ich kenne auch Menschen, denen die Stasi übel mitgespielt hat. Das eine wird durch das andere nicht aufgehoben. Ich sollte auch nicht zu erwähnen vergessen, was ich an den Ostdeutschen immer besonders gemocht habe.

bernhard schlink: „man hätte die ddr-aufarbeitung den ostdeutschen selbst überlassen sollen“

Bernhard Schlink

Und zwar?

Ihre Ernsthaftigkeit. Vielleicht mag ich sie auch, weil ich Kind eines protestantischen Elternhauses bin. Bei meinen Gesprächen haben die Menschen aus der DDR gesellschaftliche und menschliche Probleme und Kultur, Kunst, Literatur, Theater, Musik in einer Weise ernst genommen und tun das immer noch, wie es das im Westen nur selten gab und gibt. Der Westen ist ein gutes Stück weit die Spaßgesellschaft geworden, als die er sich selbst ironisiert hat.

Welche Literatur aus der DDR hat Sie neben Christa Wolf begeistert?

Werner Bräunig, Karl-Heinz Jakobs, Erwin Strittmatter, Erik Neutsch, Hermann Kant, Brigitte Reimann, Maxie Wander, Christoph Hein, Stefan Heym, Günter de Bruyn – ich habe versucht, auf dem Laufenden zu sein, und was mich literarisch nicht begeistert hat, war politisch interessant.

Stimmt es, dass Sie mal bei der Familie von Angela Merkel zum Abendessen eingeladen waren?

Ihr Vater hatte eine kleine Kapelle renoviert, veranstaltete dort Lesungen und lud mich ein. Danach gab es bei Merkels ein Abendessen. Es war die Pfarrhaus-Atmosphäre, die ich gut kannte. Ein schöner Abend. Angela war nicht dabei.

Wie schauen Sie darauf, wenn dem Osten nach einer Wahl die Demokratiefähigkeit abgesprochen wird?

Nach der Revolution und bei der Wiedervereinigung hatte ich den Eindruck, dass sich die Menschen auf die Demokratie freuten. Allerdings hatten sie eine Bilderbuchvorstellung von Demokratie und erwarteten, dass sie als Bürger direkten Einfluss haben, dass die Abgeordneten ihnen erkennbar und einforderbar verantwortlich sind, das die Parteien sich nicht abschotten, dass es keine Lobbys gibt, keine Seilschaften, keine Netzwerke. Die Parteiendemokratie im Westen sieht anders aus, und die demokratische Hoffnung, der demokratische Optimismus, die es im Osten zunächst gab, mussten enttäuscht werden.

Diese Enttäuschung von der Demokratie ist keine Unfähigkeit zur Demokratie. Sie ist freilich auch keine Entschuldigung dafür, sich auf die real existierende Demokratie nicht einzulassen.

Wie kann man dieser Enttäuschung begegnen?

Ich finde mehr Plebiszite und mehr Partizipation wichtig, Bürgerräte, gemeindliche Zentren des bürgerlichen, gesellschaftlichen Austauschs, Politiker, die mit den Bürgern reden und sich ihren Fragen, ihrer Kritik, ob sachlich oder unsachlich, stellen. Ich denke auch, dass die Brandmauer auf der kommunalen Ebene nicht förderlich und deshalb zu Recht brüchig geworden ist. Entscheidend kann nur sein, mit wem sich, wenn auch kontrovers, vernünftig Demokratie leben und Politik machen lässt und mit wem nicht. Um zu gewährleisten, dass auch unter einem AfD-Bürgermeister oder -Landrat nichts Abwegiges und Rechtswidriges passiert, gibt es die Fach- und Rechtsaufsicht.

Sind Sie nicht besorgt um den Zustand unserer Demokratie?

Ich bin besorgt. Und das kommende Demokratieförderungsgesetz macht meine Sorge nicht geringer. Die eigentliche Demokratieförderung geschieht in Kindergärten und Schulen. Hier lernt man, einander zu respektieren, einander zuzuhören, fair zu sein, zusammenzuarbeiten, Kompromisse zu schließen, Konflikte auszuhalten und ohne Aggression auszutragen, hier lernt man all das, wovon Demokratie lebt – oder vielmehr: hier kann man es lernen, wenn die Kindergärten und Schulen richtig und anders als derzeit gefördert werden.

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