Ukrainekrieg: Wie kriegsbegeistert ist Wladimir Putins Russland wirklich?
Der russische Präsident Wladimir Putin
In seinem Kommentar zu aktuellen Umfrageergebnissen des renommierten – von der russischen Regierung als „Auslandsagent“ gebrandmarkten – Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum stellt Roland Bathon die überaus berechtigte Frage nach der Glaubwürdigkeit der Umfragen, die unter repressiven Bedingungen und zu Kriegszeiten zustande kommen.
Dabei führt Bathon die Analyse des Expertenportals Re:Russia an, welche feststellt, dass kritisch eingestellte Russen die Teilnahme an Umfragen zwei- bis viermal häufiger für potenziell gefährlich halten als Regierungsanhänger und aus diesem Grund im Ergebnis unterrepräsentiert seien. Solcherart mahnt der Autor zur Vorsicht und warnt vor allzu vorschnellen Vorverurteilung der Russen als „ultrakonservativ“ und „kriegsbegeistert“. Die grundsätzliche Unterstützung für Wladimir Putin rühre in erster Linie aus der aktuell noch zufriedenstellenden materiellen Situation.
Auch wenn diese Schlussfolgerung zweifelsohne richtig ist, ist die Kritik des Autors an den Umfragen des Levada-Zentrums fehlgeleitet. Das allgemeine gesellschaftliche Klima ist in Russland seit Februar 2022 selbstredend repressiver geworden und wirkt sich gewiss auf das Antwortverhalten sowie die grundsätzliche Antwortbereitschaft bei Umfragen aus. Ein dramatischer Unterschied im Stimmungsverhalten ist allerdings kaum feststellbar. Dazu genügt bereits ein oberflächlicher Blick auf die Datenauswertungen der früheren Jahre durch das Levada-Zentrum.
Der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Waffenmesse
Abgesehen davon geht das Levada-Zentrum sehr wohl auf die Kritik seiner Methoden ein und problematisiert die gesamtgesellschaftliche Stimmung. Alexey Lewinson, Leiter der Abteilung für sozial-kulturelle Forschung am Levada-Zentrum, gibt beispielsweise zu, dass die genauen Zahlen nicht zwingend den Umfrageergebnissen entsprechen müssen. Gleichzeitig zeigt er sich aber überzeugt, die Grundstimmung richtig wiederzugeben. Letztendlich ist genau das Verständnis der Grundstimmung der Mehrheit und nicht die Analyse vereinzelter kritischer Stimmen entscheidend. Die stabil hohe, positive Grundstimmung ist allerdings keinesfalls mit einer wie auch immer gearteten Kriegsbegeisterung gleichzusetzen. Doch gerade die Annahme, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten ihre wahren Ansichten verheimlichen könnte, zeuge vom Unwillen der Bevölkerungsmehrheit, ihre Unzufriedenheit in die Tat umzusetzen. Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen sei nur eine schwindende Minderheit dazu bereit, auf die Straße zu gehen, um ihre Meinung zu äußern, so Lewinson sinngemäß.
Deswegen gibt es auch in Russland, wie Roland Bathon es richtig schreibt, „keine Masse ideologisch durchdrungener Landsleute“. Tatsächlich gehen die russischen Soziologen seit Invasionsbeginn davon aus, dass sich die Zahl der radikalen Anhänger des Angriffskrieges gegen die Ukraine bei höchstens rund 20 bis 25 Prozent bewegen dürfte. Einer aktivistischen ideologisierten massenhaften Unterstützung des Putin-Regimes bedarf es auch nicht, denn sein Regime lebt von fatalistischer Gleichgültigkeit. Der Krieg sowie die Repressionspolitik des Kremls werden nicht zuletzt durch passive Akzeptanz, Apathie, Verweigerung offener Kritik an der eigenen Staatsführung in Kriegs- und Krisenzeiten sowie die daraus resultierenden stabil hohe Unterstützungswerte für alle staatlichen Institutionen und insbesondere für den Staatspräsidenten ermöglicht.
Der passiven Mehrheit der russischen Bevölkerung ist die politische Lage ihres Landes weitgehend gleichgültig. Dies jedenfalls solange sie selbst und ihre unmittelbare Umgebung von den Entscheidungen der Staatsspitze nicht allzu stark betroffen sind. Eine wie auch immer geartete Verantwortung möchten nur die wenigsten übernehmen. Der nicht selten geäußerte Einwand der grundsätzlichen Handlungsbereitschaft der Bevölkerung bei Vorliegen einer sichtbaren politischen Alternative, so wie Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre, geht leider am Kern des Problems völlig vorbei. Die spätsowjetische Gesellschaft war im Vergleich zur modernen russischen Gesellschaft aus ideologischen Gründen politisch ungleich aktivistischer, damit aber auch verantwortungsbereiter und für das Regime ungleich gefährlicher. Die aktuelle Passivität der russischen Bevölkerung ist zwar vom Kreml unter Wladimir Putin bewusst herbeigeführt worden, diese schleichende Gleichschaltung ist jedoch kaum auf einen nennenswerten gesellschaftlichen Widerstand gestoßen und damit selbstverschuldet. Man sollte sich also nicht wundern, wenn einem das selbstverschuldete Verhalten zum Vorwurf gemacht wird. Letzteres ist gerade für die russische Exilopposition und Exilrussen besonders schmerzvoll.
Doch ist die Wahrheit nun einmal oftmals äußerst schmerzvoll und dennoch wird sie dadurch nicht weniger richtig. Die Invasion der Ukraine ist zwar ein Projekt des russischen Präsidenten und seiner Systemspitze, gleichzeitig jedoch ist diese Invasion der Ausfluss eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Die Levada-Daten sind in diesem Punkt eindeutig: Der weit überwiegende Teil der russischen Bevölkerung betrachtet das Vorgehen der russischen Streitkräfte zumindest als ein notwendiges Übel, verortet allerdings die Schuld für die Notwendigkeit der sogenannten Spezialmilitäroperation ganz klar bei der Ukraine sowie dem Westen und wünscht letztlich – selbst bei einem grundsätzlichen Wunsch nach Verhandlungen und Frieden – keine Zugeständnisse gegenüber der überfallenen Ukraine. Von einer allseitigen Kriegsbegeisterung zeugt diese Einstellung nicht, doch von einer grundsätzlichen Unterstützung aus einem Pflichtgefühl heraus. Denn schließlich, so denkt wohl die überwiegende Mehrheit, wenn das eigene Haus am Brennen ist, löscht man den Brand und hält sich nicht mit Fragen nach den Brandursachen sowie dem Brandstifter auf.
30.05.2024, Russland, Moskau: Der russische Präsident Wladimir Putin (l) verleiht Leutnant Chalym Chuldum-ool den Titel „Held Russlands“ bei einer Feier zur Verleihung der höchsten staatlichen Auszeichnungen im St. Katharinen-Saal im Kreml.
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass in einem rund 150 Millionen großen Land und einer rund 15 Millionen starken hauptstädtische Agglomeration in den ersten Invasionstagen gegen den Angriffskrieg nur wenige Menschen protestierten und nach Verhängung der repressiven Gesetze so gut wie niemand mehr. Und noch sehr viel weniger Russen waren über die vergangenen zehn Jahren seit Kriegsbeginn in der Ukraine zu Protesten bereit gewesen. Angesichts der gesellschaftlichen Passivität gilt dies im Übrigen sowohl für die Anti-Kriegs- als auch für die Pro-Kriegs-Protestbereitschaft.
Eine nicht unwichtige Ausnahme waren die allgemein positiven Reaktionen auf die Annexion der Krim und den sogenannten „Russischen Frühling“. Darin zeigt sich das ganze erschreckende Ausmaß des großrussischen Chauvinismus, der inneren Radikalisierungsbereitschaft von weiten Teilen der russischen Gesellschaft sowie die Phantomschmerzen des imperialen Zerfallssyndroms. Selbstverständlich hat der Kreml unter Wladimir Putin die innere Radikalisierungsbereitschaft der russischen Gesellschaft für seine Zwecke instrumentalisiert und ja auch befeuert. Die Grundvoraussetzungen sind allerdings nicht von Putin geschaffen worden und existierten schon vor seiner Zeit.
Ähnliches gilt auch für die antiukrainische Propaganda russischer Staatsmedien. Die Staatspropaganda funktioniert deshalb so gut, weil sie auf den fruchtbaren Boden tradierter russischer Geschichtsschreibung (vorrevolutionärer, kommunistischer, postsowjetischer) über die ukrainische Nation fällt, welche die Eigenstaatlichkeit der Ukraine grundsätzlich äußerst kritisch sieht und die ukrainische (wie auch die belarusische) Nation als einen integralen Bestandteil des russischen Volkes darstellt. Angesichts dieser Grundeinstellung bedarf es einer ausdrücklichen massenhaften Zustimmung den nationalpatriotischen Idealen gegenüber absolut gar nicht.
Einen weiteren, scheinbar banalen Indizienbeweis für die Radikalisierungsbereitschaft russischer Gesellschaft liefert seit sehr vielen Jahren das Sortiment einer durchschnittlichen russischen Buchhandlung. Die Regale sind unter anderem voller Sowjetnostalgie, Antiamerikanismus, Phantomschmerzen ob des imperialen Zerfalls, des Traumes von Russlands Wiedergeburt als Großmacht, absurder Verschwörungsmythen (darunter zahlreicher offen antisemitischer), Relativierung und Apologie des Nazismus (im Übrigen ein ganz spannender Widerspruch zur Putins Forderung nach „Entnazifizierung“ der Ukraine) sowie des Personenkultes Josef Stalins. Und nein, der russische Büchermarkt arbeitet mit Sicherheit nicht auf Geheiß des Kremls im nordkoreanischen Stil an den Wüschen potentieller Kunden vorbei. Denn die genannten Themen werden sowohl im Non-Fiction- als auch im Fiction-Bereich ausführlich behandelt.
30.05.2024, Russland, Moskau: Auf diesem von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik via AP veröffentlichten Foto blickt der russische Präsident Wladimir Putin auf den hochdotierten 100-jährigen Weltkriegsveteranen Ibragim-Pasha Sadykov, nachdem er ihm bei einer Feier zur Verleihung höchster staatlicher Auszeichnungen im St. Katharinen-Saal im Kreml den Titel „Held Russlands“ verliehen hat.
Vor diesem Hintergrund sollte die Frage nach der Kollektivschuld zumindest gestellt werden dürfen. Das Konzept der Kollektivschuld im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine lehnt aber die weit überwiegende Mehrheit der russischen (Exil-)Oppositionellen ab; so beispielsweise der ehemalige russische Ölmagnat, Oligarch und politische Häftling Michail Chodorkowskij sowie eine führende russische Politologin und ehemalige Richard-von-Weizsäcker-Fellow an der Robert Bosch Academy Ekaterina Shulman. Auch wenn diese Ansicht aus innenpolitisch pragmatisch-taktischen Gründen auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheint, ist sie bei näherer Betrachtung doch problematisch. Denn die soziologischen Umfragen ergeben ungeachtet jedweder Kritik an den Methoden ein klares Bild der Grundstimmung innerhalb der russischen Bevölkerung.
Im Interview mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) vom 9. April 2023 zeichnet der Direktor des Levada-Zentrums Lew Gudkow ein düsteres Bild seiner Heimat, widerspricht scharf allen Kritikern der Meinungsumfragen des Levada-Zentrums und formuliert dabei äußerst treffend: „Wir haben nach wie vor zuverlässige Daten. [...] Das Material ist gut. Aber was es aussagt, ist halt furchtbar.“ Den russischen Oppositionellen wirft Gudkow vor, die Wahrheit zu verleugnen und sich mit den Umfrageergebnissen nicht auseinandersetzen zu wollen. Denn die Forschung des Levada-Zentrums mache einen „depressiv“ und gebe einem das „Gefühl der Hoffnungslosigkeit“. Viele seiner Landsleute würden „nicht mehr mit dem eigenen Kopf“ denken, sondern nur noch das wiederholen, „was ihnen das Fernsehen bietet“, so Gudkow.
Die schwerwiegende Frage der Kollektivschuld und der Verantwortung des Einzelnen hat Karl Jaspers 1945 eingehend thematisiert. Man muss wahrlich kein Freund keulender Nazi-Vergleiche sein, um festzuhalten, dass auch das Post-Putin Russland der schmerzvollen Schuldfrage nicht weichen kann. Solcherart sollte die russische Exilopposition (und auch die deutschen Freunde des russischen Volkes) der an die Deutschen gerichteten Worte Karl Jaspers aus „Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands“ eingedenk sein: „Daher gilt für uns, für jeden einzelnen: Wir wollen nicht so leicht uns unschuldig fühlen, uns nicht bemitleiden als Opfer eines Verhängnisses, wollen nicht Belobigung erwarten für Leiden, sondern uns selbst fragen, uns unerbittlich durchleuchten: Wo habe ich falsch gefühlt, falsch gedacht, falsch gehandelt? – wollen die Schuld möglichst weitgehend bei uns suchen und nicht in den Dingen und nicht bei den andern, wollen nicht ausweichen in die Not.“ Spannenderweise hat sich Alexej Nawalny kurz vor seiner mutmaßlichen Ermordung die Frage nach der Kollektivschuld zu erörtern begonnen und sich dabei seiner eigenen Verantwortung auf einer sehr persönlichen Ebene gestellt.
Noch lebt die Hoffnung fort, dass einmal ein russischer Karl Jaspers die Kollektivschuld seines Volkes anerkennend für sein Land einen zukunftsweisenden Weg der Freiheit in der Verantwortung zeichnen wird: „Politische Freiheit beginnt damit, dass in der Mehrheit des Volkes der Einzelne sich für die Politik seines Gemeinwesens mit haftbar fühlt – dass er nicht nur begehrt und schilt – dass er vielmehr von sich verlangt, Realität zu sehen und nicht zu handeln aus dem in der Politik falsch angebrachten Glauben an ein irdisches Paradies, das nur aus bösem Willen und Dummheit der anderen nicht verwirklicht werde – dass er vielmehr weiß: Politik sucht in der konkreten Welt den je gangbaren Weg, geführt von dem Ideal des Menschseins als Freiheit.“
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