Café Keese in Berlin-Charlottenburg: Partnerbörse, Lasterhöhle, Flirttelefone – alles bald zu Ende?
Heute ist noch immer Lametta: das Café Keese in Berlin-Charlottenburg ist das letzte Tanzlokal seiner Art.
Samstagabend um 19.30 Uhr im Café Keese, Bismarckstraße 108, Charlottenburg. Unter dem Firmensignet prangt am Schaufenster der altfranzösische Sinnspruch „Honi soit qui mal y pense“, zu deutsch: „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“. Links des Foyers verkauft Udo wie so oft Eintrittskarten für fünf Euro und Garderobenobhut für zwei Euro. Er trinkt Wasser aus einem mit der Aufschrift „0%“ versehenen Weizenbierglas.
Wie lange er hier schon arbeite? „Manche sagen zu lange“, entgegnet eine knarzige Stimme. Als das Café Keese im Jahre 1966 seine Pforten zum ersten Mal geöffnet hat, war die tonangebende Farbe des Interieurs blau – und Udo vermutlich gerade im Stimmbruch. Mittlerweile ist das Tanzlokal in Rot gehalten, doch die Kronleuchter von damals funkeln bis heute. Dieser Ort ist vieles, vor allem aber eine Zeitreise in das popkulturelle Herz der alten Bundesrepublik.
Über die Länge einer ganzen Wand sind elf Tierkreiszeichen auf goldenen Grund gedruckt – alle bis auf das der Jungfrau. Seit Männer und Frauen sich hier im Paartanz begegnen, kommen sie einander auch näher. Sündige Geschichten erzählt man vor weißen Tischdecken: Eine Zeitlang etwa sei ein verheirateter Herr gekommen, der seiner Gattin Friedhofsgänge vorgegaukelt habe. Tatsächlich aber habe es ihn auf das Tanzparkett gezogen. Augenfällig begegnen sich die meisten Liebenden hier dennoch mit sehr viel mehr Verbindlichkeit als hinter den Gemäuern elektronischer Hauptstadtclubs. Etliche Partnerschaften haben hier im sinnlich-schummrigen Licht des Cafés ihren Anfang genommen.
An einem der Tische nahe der Bar berührten sich vor zwei Jahren die Lippen von Thomas und Ute zum ersten Mal. Wie ungefähr vier Fünftel des Publikums zählen sie zu den Stammgästen. Während Thomas sich unter anzüglichen Witzen zu inszenieren weiß, stehen seine Augen weit hervor. Obwohl er kaum Alkohol trinkt, umgibt ihn die Aura eines Lebemanns. Sein Geld verdient der gebürtige Ruhrpottler in der Baubranche. Vom halben Laden wird er für seine überkandidelten Spaßetteln geschätzt. „Die Männer holen sich hier die Streicheleinheiten, die sie auf der Straße nicht bekommen. Weil sie am Tag zu schüchtern sind, um Frauen anzusprechen“, verlautbart er. Dass er damit die anderen meint, ist offenkundig.
Für gehemmtere Charaktere gibt es mit Nummern versehene Tischtelefone. Sie sollen den Erstkontakt für einen Flirt oder die Aufforderung zum Discofox erleichtern. Anfang der Neunziger hat sie der Vater der heutigen Besitzerin Nadine Ludwig-Kibwebwe eigenhändig verkabelt. Schon seit 1986 ist das Etablissement in Familienbesitz, der Großvater war ein Tanzpalast-Impresario. Heute führt Nadine Ludwig-Kibwebwe das Café Keese gemeinsam mit ihrem Ehemann Frank. Er hatte als Kellner angefangen und war dann zum Geschäftsführer aufgestiegen. Die Leben und Herzen der beiden gehören dem Lokal. Man spürt es in jedem ihrer Sätze.
Der Mann, der die Musik auflegt: DJ Teddy im Café Keese in Berlin.
Auch der Kellner Rainer braucht und genießt seine sporadische Arbeit zwischen den Tischen. Mit zwei Gummis hat er aus seinem weißen Bart einen kleinen Zopf geformt. Eine wüste und herzerwärmende Erscheinung. Manchmal gleitet ihm der Sektverschluss aus den Händen auf den Boden. Tunlichst bleibt er darauf bedacht, dass seine Gäste ihre Gläser bloß nicht selbst nachfüllen müssen. Irgendwann habe er es einmal mit der Selbstständigkeit probiert, doch daraus wurde nichts. Ob er auch tanze? „Discofox interessiert mich nicht, mich interessiert Geld verdienen“, entgegnet er.
Derweil legt DJ Teddy Musik auf: „Dancing in the moonlight“, „I’ve been thinking about you“, „Warum tanzt du so allein“. Dua Lipa und Roland Kaiser. Das Gros der Damenwelt trägt Stöckelschuhe und nicht allzu wuchtige Kleider. Nur einige setzen auf weite Blusen mit Farbverläufen, wie man sie von der Herstellerin Ulla Popken kennt. Vereinzelte Frauen ähneln in Stil und Antlitz der Rockröhre Doro Pesch. Die meisten ihrer männlichen Pendants stecken Kurzarmhemden in Chinos oder Jeans.
Auch Anzugträger mit schütterem Haar waren zwischenzeitlich aufgekreuzt. Sie sind aber bereits verschwunden, als Serge Gainsbourg und Jane Birkin an diesem Samstagabend kurz vor 23 Uhr ihre Liebesbekundungen auf das Parkett hauchen. Hände wandern in weibliche Hüftregionen, und Damenhäupter sinken auf die Schultern ihrer Tanzpartner. Manche Tänze münden in Küssen. Um Mitternacht gratulieren Nadine und Frank einem Geburtstagskind mit Sektglas und Wunderkerze. „Legendär seit dem 26. Mai 1962“ steht auf dem Shirt des Jubilars. Es folgt eine Polonaise, dann verklingt die Nacht.
Gerne Gäste im Café Keese: Thomas und Ute posieren für ein Bild vor Ort.
Das Café Keese erscheint als eingeschworene Tanzgemeinde, in der man aufeinander achtgibt: ausgiebige Willkommenheißungen unter den Stammgästen, Deo und Haarspray auf den Toiletten, mittelschwellige Etikette. Im Oktober aber legten sich dunkle Wolken über die Diskothek.
Wegen der Beschwerden eines einzigen Nachbarn sieht sich die letztverbliebene Discofox-Bastion der Hauptstadt in ihrer Existenz bedroht. Die Stammgäste haben Angst vor dem Verlust ihrer platonischen Familie und zweiten Heimat. Aus manchen spricht die Wut. Nach der Erzählung der Inhaber wurzeln die Querelen in einer persönlichen Kränkung: Während der Pandemie bezog der Nachbar eine Wohnung an der sechsspurigen Bismarckstraße 108. Nach der Wiedereröffnung habe er das Lokal in seinem Erdgeschoss wöchentlich frequentiert. Dann hätten mehrere Frauen beklagt, der Mann würde gegen ihren Willen Fotos und Filme aufnehmen. Nach einigen Ermahnungen erteilten ihm die Besitzer ein Hausverbot, wie sie berichten.
Was seit Oktober folgte, gleicht einer Tortur. Das Bauaufsichtsamt suchte erfolglos nach unbefugt eingerissenen Wänden und auch Hygienekontrolleure fanden keinerlei Mängel.
Erst nach einem Lärmgutachten des Umweltamts hielt der Verschmähte einen Hebel in den Händen: Messungen in seiner Wohnung zufolge überschritt der Schallpegel nach 22 Uhr den Grenzwert von fünfundzwanzig Dezibel.
Binnen weniger Monate kam es dann zu dutzenden Polizeieinsätzen. Weit hatten es die Beamten nicht. Meist rückten sie aus einer nur hundertfünfzig Meter entfernten Wache an. Viele von ihnen hegten Mitgefühl mit den Betreibern, wie diese berichten – doch Gesetz bleibt Gesetz. Seit der Eröffnung vor fast sechs Jahrzehnten sei bis vergangenen Herbst keine einzige Beschwerde bei den Behörden eingegangen, versichert die Besitzerin.
Schön schwofen: Im Café Keese tanzt man, mit wem man mag.
Vor einigen Wochen setzte man einen zeitgeschalteten Lautstärkebegrenzer in Gang. Ab 22 Uhr wird es nun stiller. Insgesamt 5000 Euro kostete das Brimborium das Ehepaar Ludwig-Kibwebwe bereits. Sie wirken betrübt über die Situation und dennoch kämpferisch. Die Folgen bekommt neben den Betreibern auch DJ Teddy zu spüren. Zu seiner Gage gehört eine Provision, deren Höhe davon abhängt, wieviele Gäste er in das Café lockt. Und leisere Tanzmusik bedeutet: weniger Zulauf.
Dienstagabend, 18 Uhr. Wie jede Woche gibt der Discjockey im Café Keese Tanzstunden. An diesem Abend werden rund hundert Menschen erscheinen. Die Wiege des Discofox liegt in den späten Sechzigern. Grundlage war und ist bis heute die klassische Tanzhaltung des Foxtrott – jedoch angereichert mit den Nuancen anderer Stile: Wickelfiguren der Salsa, die Akrobatik des Rock ’n’ Roll, Drehtechniken der Rumba und sogar ein klein wenig von der Freiheit im Swing kulminieren in dem wohl deutschesten aller Tänze. Klassischerweise führt der Herr die Dame im Viervierteltakt. Er geht mit seinem linken Bein einen kleinen Schritt vor; gleichzeitig macht sie mit ihrem rechten Fuß einen Schritt zurück. So beginnt es. In fast jedem Tanz steckt ein kleiner Flirt. Ein Spiel aus Anziehung und Abstoßung, Willkommen und Abschied.
DJ Teddy möchte den Tänzern heute die sogenannte Schiebetür näherbringen: „Jetzt wollen wir die Dame noch etwas weiterdrehen. Und zwar, dass sie mal den Rücken des Mannes kennenlernt. Wenn sie ihre Handtasche sucht, ist diese Figur gut – sie sieht den ganzen Raum.“ In jeder Sekunde der eineinhalbstündigen Lektion trotzen seine Hüften der Zeit.
An einem Tisch abseits der Tanzstunde sitzt eine Frau, die ihren rechten Zeigefinger extravagant im Rhythmus der Musik bewegt. Wie sich herausstellt, ist Ingrid (Rufname: Inge) 88 Jahre alt. Wann immer möglich, fährt sie vierzehn Stationen mit der U2 vom Alexanderplatz zum Ernst-Reuter-Platz. Im Café Keese habe sie einen älteren Verehrer: „Der ist bestimmt über 90.“ Leider sei er allzu eifersüchtig und könne nicht damit umgehen, wenn sie mit anderen Männern tanze. Obendrein wolle er eine Partnerschaft. Das sei ihr zu viel: „Ich möchte meine Freiheiten, denn man wird schnell eingeengt.“
Ihr Lachen klingt leicht frivol, und ein wenig sehnt sie sich dann doch nach ihrem Schwärmer. Sein Auto habe sie vor dem Laden bereits gesichtet. Glasklar würde sie ihn gerne neben sich wissen. Auch Thomas ist wieder hier. Bei einer Zigarette erfährt man, dass er aus taktischen Gründen Inges Bier bezahlt: Einfühlsamkeit passe nicht nur zu seiner Wesensart, sondern komme auch bei den Frauen in seinem Alter gut an. Früher habe er vor seinen Gespielinnen mit offenen Karten gespielt: Sieben Zahnbürsten, eine davon gehörte ihm. Mittlerweile sind es nur noch zwei, für Ute hat er sein Hallodridasein aufgegeben.
Bismarckstraße 108, Charlottenburg: Der Eingang hat einen eher (g)rauen Charme.
Wenn Zeit wirklich relativ ist, dann vergeht sie in Berlin schneller als anderswo. Keine Stadt auf der Welt verwandelte sich in der jüngeren Vergangenheit mit solch rasendem Tempo. Vielleicht kann man es auf folgende Formel bringen: Wo der Umbruch zur Gepflogenheit wird, sehnen sich die Menschen im Alter nach ein klein wenig Beständigkeit. Nadine und Frank. Ute und Thomas. Rainer und Udo. DJ Teddy und Inge. Sie alle haben Orte entstehen und vergehen gesehen. Sommer zogen ins Land und Winter hinterließen mancherlei Furchen im Gesicht. Liebe kam, Liebe zerbrach. Was immer blieb, war das Café Keese.