EM 2024: Jude Bellingham erlöst biederes England zum Auftakt gegen Serbien
Kein Team bei der EM steht unter solchem Erwartungsdruck wie England. Am Ende ließ sich der Topfavorit gegen Serbien gar in eine Abwehrschlacht verwickeln. Ein Glück, dass Jude Bellingham kein normaler Spieler ist.
EM 2024: Jude Bellingham erlöst biederes England zum Auftakt gegen Serbien
Der unrealistischste Spieler der Welt: Wäre Jude Bellingham Protagonist eines TV-Cartoons oder eines Videospiels, man würde ihn dafür kritisieren, eine zu unrealistische Heldenfigur zu sein. Nationalspieler mit 17 Jahren, zeitgleich entscheidet sich Jugendklub Birmingham City, Bellinghams Rückennummer 22 nie mehr zu vergeben. Drei Jahre in der Bundesliga, bis er Dortmund als »Spieler der Saison« gen Real Madrid verlässt. Sofort Meister, Champions-League-Sieger, immer noch erst 20 Jahre alt. Leistungsträger. Und nun, vor seinem dritten (!) Großturnier, von Sponsor Adidas und ganz England dazu auserkoren, nach 58 Jahren die Titel-Flaute zu beenden. Und was macht Bellingham? Das 1:0 zum Auftakt, nach nur 13 Minuten, indem er sich mit unbändigem Willen mit dem Kopf voraus in eine abgefälschte Flanke schmeißt. Ob Real- oder England-Trikot, die Superkräfte dieses Ausnahmetalents scheinen nicht im Kostüm zu stecken.
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Das Ergebnis: 1:0 (1:0) gewinnen die Three Lions in Gelsenkirchen gegen harmlose Serben. Damit der Fußball wirklich nach Hause kommt, wird England sich allerdings wohl noch steigern müssen. Zum Spielbericht geht es hier.
Der Löwenbändiger: In der öffentlichen Wahrnehmung gelingt England dieser Tage das Kunststück, sowohl Topfavorit auf den Titel als auch auf die größte Enttäuschung des Turniers zu sein. Diesen Zwiespalt verantwortet ganz entscheidend Nationaltrainer Gareth Southgate. Unter dem ist der EM-Finalist von 2021 so erfolgreich wie schon lange nicht, spielt jedoch lange nicht so dominant, wie es ob der vermeintlich goldenen Generation von vielen erwartet wird. So ging die Generalprobe gegen Island im Wembley-Stadion 0:1 in die Hose. ZDF-Experte und 2014-Weltmeister Christoph Kramer holte gar zur verbalen Ohrfeige aus: »Ich erkenne nicht, was sie vorhaben. Die spielen drauf los. So ganz ohne Plan wird es dann schwierig.«
Trentwende: Eines aber haben die Engländer en masse: Rechtsverteidiger. Da wäre Kyle Walker, der die Position etatmäßig bekleidet. Kieran Trippier, der in der Nationalelf links hinten aushilft, weil Luke Shaw oft nicht fit genug ist, um in Form zu sein. Und dann ist da noch Englands umgekehrter Joshua Kimmich: In Liverpool durfte sich Trent Alexander-Arnold unter Jürgen Klopp über Jahre als kreativster Abwehrmann der Welt profilieren, bei Southgate war er lange außen vor. Doch weil im Mittelfeldzentrum eine Lücke klafft, durfte »TAA« zum Auftakt gegen die Serben dort aushelfen.
Frankfurter Schule: Auf serbischer Seite kehrte ein alter Bekannter auf deutschen Rasen zurück: Filip Kostić setzte sich 2022 in Richtung von Italiens »alter Dame« Juventus ab, nachdem der Außenbahnspieler mit Eintracht Frankfurt die Europa League gewonnen hatte. Das Wiedersehen mit der deutschen Fußball-Infrastruktur wurde jedoch zum Desaster: Die Dribblings von Englands Bukayo Saka machten Kostić defensiv zu Serbiens Sollbruchstelle, Jungspund Bellingham verschaffte sich abseits des Balles per Bodycheck Respekt gegen den Routinier (24.), der dann auch noch vor der Pause verletzt raus musste. Schlimmer hätte es kaum laufen können.
Ein einziger Serbenhaufen: Nicht nur für Kostić, auch für seine Mitspieler war es ein ärgerlicher Auftakt. Die erste Viertelstunde kam Serbien kaum an den Ball (bis zum ersten Pass zum Mitspieler vergingen fast sechs Minuten), nach dem Rückstand war das Team Trainer Dragan Stojković dann fast durchweg die bessere Mannschaft – spielte aber im Angriffsdrittel zu träge, zu mutlos, zu umständlich. Ein Schuss von Aleksandar Mitrović an die Hintertorstange (20. Minute), ein Abschluss von Dušan Vlahović, den Jordan Pickford mit Mühe über die Latte wischte – das war es dann auch schon an serbischen Großchancen, obwohl große Teile der zweiten Hälfte im und am englischen Strafraum stattfanden.
Ohne Titel: Immerhin über einen persönlichen Rekord durfte sich Harry Kane freuen: Mit 23 Einsätzen bei Welt- und Europameisterschaften ist Englands Kapitän nun an der Spitze der ewigen Three-Lions-Bestenliste. Seinem Hauptamt als Torjäger durfte Kane, der vor der Pause nur einmal am Ball war, noch nicht nachgehen – seinen einzigen Abschluss lenkte Predrag Rajković an die Latte (77.). Womöglich nicht schlecht, wenn der Bayern-Stürmer sein Pulver nicht sofort verschießt: Kane ist noch ohne Karriere-Titel, könnte mit einem EM-Erfolg seine persönliche Leidenszeit und die seines Landes mit einem Streich beenden.