„Der Abgrund winkt“ – Alarmierender Zuwachs im weltweiten Atom-Arsenal
Die Zahl der sofort einsatzbereiten Atomsprengköpfe auf der Welt ist gestiegen, wie ein Bericht der Sipri-Friedensforscher zeigt. Die Experten zeigen sich beunruhigt – und wählen markante Worte. Eine große Nation rüstet besonders kräftig auf.
Kopf einer ehemaligen US-Interkontinentalrakete picture alliance/ZUMAPRESS.com/Brian Cahn
Die Experten des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri sehen bei Atomwaffen einen alarmierenden Trend. Zwar sinkt die Gesamtzahl der Atomwaffen kontinuierlich seit dem Kalten Krieg - aber das Arsenal sofort einsetzbarer Atomsprengköpfe steigt. Rund 3.900 Sprengköpfe hätten im Januar 2024 für den Abschuss mit Raketen und über Flugzeuge zur Verfügung gestanden, 60 mehr als im Vorjahr, heißt es im jüngsten Sipri-Jahresbericht. Davon waren 2.100 in höchster Alarmbereitschaft auf Raketen montiert, 100 mehr als im Vorjahr.
Sipri-Direktor Dan Smith zeigt sich beunruhigt: „Wir befinden uns in einer der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte.“ Er verweist auf die zahlreichen Ursachen der globalen Instabilität, wie politische Rivalitäten, wirtschaftliche Ungleichheiten, ökologische Störungen und ein beschleunigendes Wettrüsten. „Der Abgrund winkt, und es ist an der Zeit, dass die Großmächte einen Schritt zurücktreten und nachdenken. Vorzugsweise gemeinsam“, sagt der Experte.
Die Sipri-Experten haben bei der Waffenanalyse ein Handicap: Russland und die USA verfügen zusammen über fast 90 Prozent aller Kernwaffen. Nach der russischen Invasion in der Ukraine habe die Transparenz in Bezug auf die Nuklearstreitkräfte abgenommen, beklagt Sipri. So beruhen einige Angaben auf Schätzungen. Sipri hat auch keine schlüssigen Beweise, dass Russland Atomwaffen auf belarussischem Gebiet stationiert.
Die Sipri-Experten gehen von neun Staaten mit Nuklearwaffen aus: USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel. Sie alle würden ihre Arsenale modernisieren. Die weltweite Gesamtzahl aller Atom-Sprengköpfe im Januar wird auf 12.121 beziffert und damit niedriger als vor einem Jahr (12.512), weil alte Bestände aus dem Kalten Krieg abgebaut werden. Die US-Streitkräfte und Russland verfügten jedoch über jeweils gut 1.700 mehr oder minder sofort einsatzfähiger Sprengköpfe.
Bemerkenswert ist, dass China den Sipri-Schätzungen zufolge sein Atombombenarsenal binnen eines Jahres von 410 auf 500 ausbaute und wohl weiter aufstockt. Zum ersten Mal könnte China nun auch in Friedenszeiten eine kleine Anzahl von Sprengköpfen auf Raketen einsetzen. Die Sipri-Experten gehen davon aus, dass China bis zur Jahrtausendwende über mindestens so viele ballistische Interkontinentalraketen (ICBMs) verfügt wie Russland oder die USA - obwohl der Bestand an nuklearen Sprengköpfen immer noch viel kleiner sein dürfte als der dieser beiden Länder.
„China baut sein Atomwaffenarsenal schneller aus als jedes andere Land“, sagt der international renommierte Nuklearwaffenexperte Hans M. Kristensen, der federführend bei Sipri die Atomwaffenanalysen leitet. Er verweist darauf, dass es in fast allen nuklear bewaffneten Staaten entweder konkrete Pläne oder erhebliche Bestrebungen gibt, die Nuklearstreitkräfte zu vergrößern.