„Wir werden von Leuten regiert, die keine Ahnung vom Krieg haben“

„wir werden von leuten regiert, die keine ahnung vom krieg haben“

Werbung der Bundeswehr auf einer Berliner Straßenbahn.

Die Wahl zum Europäischen Parlament ist vorbei und die Politiker-Reflexe greifen wie gewohnt, genauso wie die der Medien. Caren Miosgas Wahlauswertung natürlich ohne jemanden aus dem Osten, die Politiker sinnieren darüber, dass sie ihre Botschaften nur besser verkaufen müssen, was an den Intentionen des Wahlviehs aber vorbeigeht. Denn die ostdeutsche Herde hat genau diese Art der Politik abgewählt.

Und die „Westmedien“ – wo ist nur der kalte Krieger Karl-Eduard von Schnitzler abgeblieben? – überbieten sich in ihren Erklärungsversuchen, begreifen nicht, dass sie Teil des Problems sind. Ich hatte vor einiger Zeit einen „Wut-Brief“ – wie ihn die Berliner Zeitung nannte – geschrieben, nachdem ich auf der Onlineseite der FAZ einen Text über die Verbrüderung von Anton Hofreiter und Norbert Röttgen gelesen hatte, die den Defätismus von Bundeskanzler Scholz in der Taurus-Frage geißelten.

Die Gedankenlosigkeit der beiden Bundestagsabgeordneten zeigt sich schon in ihrer Fahrlässigkeit im Umgang mit Sprache: Defätismus war einer der Lieblingsbegriffe von Goebbels am Ende des Zweiten Weltkrieges. Damit bezeichnete er Kritik am Naziregime, die für viele, die sie geäußert hatten, den Tod bedeutete. Interessant, dass den Redakteuren der FAZ das nicht auffiel.

Ich lese die Onlineausgaben von FAZ, Zeit und Spiegel, auch wenn sie mir immer wieder gegen den Strich gehen, weil ich es wichtig finde, nicht immer in der gleichen Blase, die eine Echokammer ist, herumzurudern, um sich in deren freundlich-warmen Klima wieder und wieder bestätigen zu lassen. Ich mute mir auch Filme wie „Ukraine – Kinder im Krieg“ zu, weil ich wissen möchte, was der von Russland angezettelte Krieg für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Er ist eine Katastrophe!

Aber spätestens seit dem Beginn dieses Krieges, wahrscheinlich schon mit der Corona-Krise, bemerkte ich einen einschneidenden Paradigmenwechsel bei den genannten Zeitungen, die ich plötzlich nicht mehr wiedererkannte. Das betraf auch andere Medien, wie ARD, ZDF, den Deutschlandfunk, die plötzlich über diesen Krieg und seine Auswirkungen in einer Einhelligkeit berichten, die mir Angst macht.

Da mein Interesse an Verschwörungstheorien gering ist, glaube ich nicht an aktive „Gleichschaltung“ durch staatliche Institutionen, sondern bin bestürzt, dass aus einem mir unergründlichen mythischen Urgrund plötzlich eine indifferente Phalanx emporsteigt, welche die Sprache des Krieges aus vergessenen Tiefen hervorholt und sie spricht, als wäre es ihre eigene. Da gibt es kaum Versuche, die unterschiedlichen, sich möglicherweise widersprechenden Argumente auszubreiten, die es zu einem so komplexen Geschehen vor dem Hintergrund einer komplexen Historie geben könnte. Stattdessen werden die Geschehnisse dieses Krieges mit einer Einseitigkeit bewertet, die mich an die DDR erinnert.

Als Harald Welzer und Richard David Precht vor über einem Jahr mit „Die vierte Gewalt“ ihre polemische Abrechnung mit den „Leitmedien“ veröffentlichten, gab es empörte Einwände durch dieselben, weil die „empirischen Beweise“ dafür nicht geliefert worden wären. Als Harald Welzer die Daten im April des vergangenen Jahres nachlieferte, herrschte Schweigen im Blätter-Wald, weil sich dummerweise auch die Empirie auf die Seite der Polemik geschlagen hatte.

Hinzu kommt, dass in Fernsehsendern Gesprächsrunden zusammengestellt werden, bei denen die Einseitigkeit Programm ist. Wenn die Redaktion des ZDF-„Morgenmagazins“ auf den ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew Anton Hofreiter folgen lässt, die sich beide übereinstimmend für die Lieferung von Taurus-Raketen aussprechen, frage ich mich, warum ich vor einer Propaganda-Sendung sitze.

Als ich mich in einer E-Mail dazu kritisch äußerte, war die Antwort des ZDF: „Wir suchen die Gäste für unsere Sendungen sorgfältig aus. Idealerweise vertreten die verschiedenen Gesprächspartner fundiert das aktuelle Thema und unterschiedliche Standpunkte. Die Zusammensetzung unserer Gesprächsrunden diskutieren wir jede Woche aufs Neue. In diesem Sinne danken wir für Ihre Rückmeldung.“ Das Quotenvieh soll das Maul halten. In Talkshows läuft das ähnlich, deren Besetzung durch die Redaktionen lassen eine Agenda vermuten.

Da gibt es keinen Aufschrei, auch nicht, wenn der Bandera-Liebhaber Melnyk, damals noch Botschafter der Ukraine, den Präsidenten der Bundesrepublik beschimpft; es gibt nicht mal den Hauch einer Irritation, wenn der gleiche Mann den ja eher freundlich-harmlosen SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich als „widerlich“ beschimpft, weil der zu fragen wagt, ob man über das „Einfrieren“ des Konflikts mal nachdenken könnte, vom Papst ganz abgesehen. Dem werden sofort Handlangerdienste für Putin zugeschrieben, man kommt sich vor wie in den Moskauer Prozessen, wo die Angeklagten mindestens im Auftrag Trotzkis gehandelt haben, aber auf alle Fälle in dem des „Klassenfeinds“.

Da herrscht plötzlich „Einheitsfront“, da werden die publizistischen Reihen fest geschlossen, da gilt nicht mal mehr ein Minimum an bürgerlichem Anstand. Die Muster – Unterstellungen und Diffamierungen – scheinen aus dem Handwerkskasten des Stalinismus zu kommen, auf den ich noch einen schielenden Blick werfen werde.

Auf der Fahrt nach Österreich hält der Zug am Erfurter Hauptbahnhof. Rechter Hand der Erfurter Hof, das Hotel, aus dessen Fenster Willy Brandt 1970 seinen ostdeutschen Landsleuten zugewunken hatte. Die Mauer umschloss Berlin noch mit festem Betongriff, aber Brandt hatte mit seiner Entspannungspolitik Dynamit unsichtbar an ihre Fundamente gelegt; die deutsche Einheit ist deren Folge. Viele der Politiker, die heute die Brandt-Politik als naiv bezeichnen, eine Revidierung fordern, als ob man Geschichte verschwinden lassen könnte, wären ohne sie undenkbar.

Mein Text erschien damals in der Onlineausgabe der Berliner Zeitung; ich war ein bisschen enttäuscht, dass er nicht in der gedruckten Ausgabe stand, aber bemerkte schnell, dass er im Netz eine andere Dynamik entfaltete, eine für mich zugegeben zwiespältige: Nach einem Tag sagte ich zu einem befreundeten Kollegen, der den Brief nicht mochte, dass ich nach den Reaktionen im Netz enttäuscht bin, dass die AfD Pankow mir noch nicht die Stelle des Ortsgruppenführers angeboten habe.

Triumphierend blickte er mich an – selber Schuld, entnahm ich seinem Blick. Aber die Reaktionen, die eigenartige Mischung von Schwarmintelligenz und Schwarmdummheit waren interessant. Jeder hatte sich für seinen geistigen Kleingarten das herausgepickt, was er durch Prägung, Erziehung, Haltung herauslesen wollte, das Grünen- bzw. Obrigkeitsbashing zum Beispiel.

Aber das war für mich eher die Unterhaltungsebene. Mich interessiert mehr, wie die Ideologiegetriebenheit der Politiker an Ahnungslosigkeit gekoppelt ist bzw. wie das eine das andere verdeckt. Wir werden von Leuten regiert, die in ihrer überwiegenden Anzahl keine Ahnung von Krieg, keine Ahnung von militärischen Fragen haben. Ich weiß zumindest, was Armee bedeutet; ich war in der Nationalen Volksarmee, es war die traumatischste Zeit meines Lebens und ich verstehe die Hohepriesterin der Freiheit, Frau Strack-Zimmermann nicht, die keinen Moment bedenkt, dass alles, was mit militärischer Ordnung zusammenhängt, das Unfreieste ist, was die Welt zu bieten hat.

„wir werden von leuten regiert, die keine ahnung vom krieg haben“

Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Außenministerin, kommt auf dem Flughafen von Helsinki für das Treffen der Außenministerinnen und Außenminister des Ostseerats an.

Ach ja, Freiheit. Das Freiheitsgeschrei der Hl. Agnes und der Hl. Annalena, das ständige Hantieren mit diesem gleißenden Begriff soll das Sterben ausblenden wie die Maskerade der Straßenbahnen, die mittlerweile durch Berlin fahren: tarnfarben, mit dem Bild eines deutschen Soldaten, der seine Waffe mit weißen Handschuhen präsentiert. Daneben die Slogans „Mach, was wirklich zählt“ und „Bei uns geht es ums Weiterkommen, nicht nur ums Stillstehen“ rahmen den Blick des unschuldigen Jungengesichts. Goebbels war eine gute Schule, nicht nur in der militaristischen Propaganda. Aber worüber wir nicht reden, ist über das Sterben, nicht über das Blut, das Leid, die sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen von vielen, vielen Unschuldigen.

Ich war nach der Veröffentlichung meines Textes noch über etwas anderes überrascht. Mir wurde in vielen Mails immer wieder für meinen Mut gedankt. Aber ich fühlte mich nicht mutig. Mutig war ich, als ich mich während des Studiums weigerte, Reserveoffizier zu werden. Aber augenscheinlich gibt es bei vielen Menschen in unserem Land die Meinung, dass es mutig ist, etwas zu sagen, was nicht der Meinung der Regierenden entspricht. Das erzählt von einem Klima der Angst, das ich bisher nicht wahrgenommen habe, vielleicht weil ich in einem Milieu agiere, wo es möglich ist, alles zu sagen. Das wird zunehmend schwieriger, auch weil identitätspolitische Debatten politische Korrektheit einfordern, die das Klima der Ambivalenz, das für Theater und die Gesellschaft lebensnotwendig sind, gefährden.

Interessant auch die Differenz zwischen Reaktionen aus Ost und West, auch wenn dieses Verhältnis nicht statisch ist, hier Zustimmung aus dem Osten, dort Ablehnung aus dem Westen. Aber ein von mir geschätzter, kluger Mensch, aus dem Westen, reagierte harsch: „Wahrscheinlich ist für Dich der Maidan auch ein vom CIA geplanter Umsturz und Selenskyj ein jüdischer Nazi, der das neurussische Volk versklavt. Für mich galt immer: pacta sunt servanda und die Menschenrechte. Aber wahrscheinlich täusche ich mich, wenn ich verkenne, dass Putin ein lupenreiner Demokrat ist und in Russland weder die Meinungsfreiheit noch die Menschenrechte grob verletzt werden. Oje – da trennen uns wirklich Welten!“

Eine Reaktion, die mich ob ihrer Emotionalität verwunderte und ob der Unterstellungen. In seiner Mail wurde, von ihm unbewusst, wie in Zeitungen, auf Bundestagsdiskussionen usw. das Handwerkszeug des Stalinismus ausgepackt, das ein Ziel verfolgt: die (nicht physische) Vernichtung durch Diffamierung.

Kurz nach Erscheinen des Textes traf ich auf der Straße eine Frau, die ich lange kenne und deren Klugheit ich schätze; sie monierte die Form meines Briefes. Ich antwortete ihr, dass es die einzige Form war, in der ich das schreiben konnte. Ich kann doch nicht weinerlich auf den Zynismus der Regierenden reagieren. Dann erzählte ich ihr von der harschen Mail und fragte sie, die aus Hamburg kommt, woher die unterschiedlichen Reaktionen herrühren.

Sie: „Das sind Prägungen. In der DDR waren die Russen Freunde, bei uns im Westen eher nicht.“ Sie hatte recht und irrte, es war, wie manches in der DDR, widersprüchlicher. „Die Russen“, das war in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung nicht das Brudervolk. Brudervolk war Ideologie, der ein Großteil der Menschen nicht über den Weg traute. Die Vergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Russen hatten sich ebenso ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben wie der Abtransport von Industrieanlagen als sogenannte Reparationen. Aber trotzdem hatte sich in vierzig Jahren DDR irgendwo in tieferen Gedächtnisschichten ein diffuses Gefühl gegenüber den Russen erhalten, was nicht auf Feindschaft beruhte und sich auch durch die Frontstellung im Kalten Krieg behauptete.

Mein Bild von den Russen war vielschichtig. Als Kind war ich scharf auf die Abzeichen der russischen Kinder, deren Offizierseltern unweit von uns in der Kaserne gewohnt haben. Ich kann mich an den Geruch der Soldaten erinnern, ein Gemisch aus Leder und Schweiß, an die schmutzig-grüne Farbe der ungehobelten Holzbretter, welche die Kaserne umzäunten, die an meinem Schulweg lag.

Nach dem Abzug der Russen wurde dort die SED-Kreisleitung untergebracht, nach der Wende das Finanzamt. Besser lässt sich die Verschiebung von Machtverhältnissen nicht beschreiben. Gorbatschow war für mich die schnell welkende Hoffnung auf „den Kindertraum von einem Sozialismus ohne Panzer“. Noch im Studium habe ich mit meinem Freund Stefan Kolditz nach zwei Jahren Russisch-Unterricht eine Konversation über das Berliner Ensemble veranstaltet, eine unangenehme Fleißaufgabe, da uns nichts, aber auch gar nichts mit dieser Sprache verband. Keine zehn Jahre später, mit dem Berliner Ensemble im Moskau der Jelzin-Ära. Ich konnte gerade so die kyrillischen Buchstaben entziffern und mich vorstellen.

Aber jenseits des Persönlichen gab es für die ehemaligen DDR-Bürger noch etwas anderes, das sich eingeprägt hat: die Bilder der abrückenden Soldaten aus der auseinanderfallenden Sowjetarmee. Das waren nicht die strahlenden Sieger vom Ehrenmahl in Treptow, nicht die ordensbehängten, martialisch marschierenden Soldaten-Reihen auf dem Roten Platz, sondern armselige, hungrige Verlierer.

Und man hat sich – auch das ein Ergebnis der deutschen Vereinigung – eher mit den Verlierern identifiziert als mit den Siegern; das waren ja die anderen, die mittelmäßigen Eliten aus dem Westen, die „unsere“ Betriebe, „unsere“ Hochschulen und Universitäten und „unsere“ Kulturinstitutionen übernommen hatten. Kollektive Mentalitätsgeschichte, die eine Geschichte gemeinsamer Erfahrung ist, wirkt länger als die kurzatmige des politischen Überbaus.

(Als ich am Tag, nachdem Sebastian Kurz in Österreich die Wahlen gewonnen hatte, über Wien einflog, sah ich Vierkanthöfe. Über die Landschaft verteilt Vierkanthöfe, Vierkanthöfe, Vierkanthöfe und ich begriff, dass Österreich – Internet hin, Digitalisierung her – ein mentalitätsgeschichtlich agrarisches Land geblieben war, deren äußerster Eindruck, der das Fremde abschirmende Vierkanthof ist.)

Für den Westen Deutschlands war Gorbatschow eine kurze, überschwänglich gefühlte Zäsur, die mit Jelzins Machtantritt schnell dem Desinteresse wich. Putin und dessen kleptokratische Clique machte es in den letzten Jahren leicht, bruchlos an den Kalten Krieg anzuknüpfen, der eine Fortsetzung des Russlandfeldzuges war, mit liberalen Mitteln versteht sich.

„wir werden von leuten regiert, die keine ahnung vom krieg haben“

Helmut Kohl (l.) im Gespräch mit Michail Gorbatschow, aufgenommen im Juli 1990.

Neben dem zwiespältigen Gedächtnis an die Russen – „Die Hälfte der Menschheit lebt vom löchrigen Gedächtnis der anderen Hälfte“ (Brecht) – kam, kommt bei den Ostdeutschen etwas anderes hinzu: eine andere Sensibilität gegenüber den Lügen. Wir sind mit Lügen aufgewachsen, die vor allem das Politische betrafen, auch wenn sie in das persönliche Leben hineinragten. Wir wussten aber auch, dass das Lügen sind, wussten, dass man dem neuen Deutschland nicht glauben konnte. Das uneinlösbare Glücksversprechen des Ostens hatte man individuell als Ideologie entlarvt, als Lüge.

Horst Sagert, Bühnenbildner des poetischen Lehrstücks über die Diktatur schlechthin, „Der Drache“: „Jeder Staat ist zu einer besonderen Lüge in der Lage; die DDR hat das nicht geschafft: Wer nicht schön verführen kann, soll die Waffen niederlegen.“ Nichts anderes hat Günter Schabowski am 9. November 1989 getan.

Seitdem steht für die Leute aus dem Osten das Glücksversprechen des Westens auf dem Prüfstand. Nach dreißig Jahren haben sie begriffen, dass der gewachsene Wohlstand tagtäglich bezahlt werden muss, aber auch, dass die glücksverheißende Welt der Waren ihre Verheißung nicht einlösten. Diese schmerzliche Erfahrung geht, spätestens seit der Corona-Krise, mit einer anderen Erfahrung einher, die Verengung des Meinungskorridors einerseits und eine moralgeleitete Ideologieproduktion auf der anderseits. Und das, nachdem wir nicht nur den Zusammenbruch eines Systems, sondern auch dem Zerbersten einer Ideologie, einer Lüge beiwohnen durften.

Es gab zwei Problemfelder, mit denen Heiner Müller sich bis in die letzten Lebenszüge mit großer Verve verbissen hatte. Nicht verstanden hatte ich seine nicht enden wollende Beschäftigung mit dem Stalinismus. Ich war mir sicher, dass es ein Phänomen der Vergangenheit war. Dass er immer wieder für „Ideologiezertrümmerung“ plädierte, behauptete, dass Brecht dies nach dem Zweiten Weltkrieg als Hauptaufgabe begriffen hatte, verstand ich eher. Müller beschrieb Ideologie „als falsches Bewußtsein. Sie wird geschaffen, indem wesentliche Aspekte von Wirklichkeit einfach weggelassen werden.“

Mittlerweile wird deutlich, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist. Instrumente stalinistischer Herrschaft sickern unbemerkt in die Debatten der Gegenwart ein. Was einst im Namen der sozialistischen Moral, in der Auseinandersetzung mit dem „Klassenfeind“ gepflegt wurde, wird immer mehr zu einem Werkzeug in öffentlichen Auseinandersetzungen.

Keine Diskussion über die Ukraine ohne die Verurteilung des „brutalen russischen Angriffskrieges“ (ich kann mich nicht erinnern, dass während des Einmarschs der Amerikaner im Irak mit Zehntausenden Toten die Medien mit derartigen Geschützen aufgefahren sind, von der Lüge Powells schweige ich), keine Verurteilung der tausendfachen (!) Tötung der Bevölkerung von Gaza ohne die Verurteilung des Terrorangriffs der Hamas. Stattdessen laufende Forderung nach Zurücknahme von Gesagtem.

Russische Sängerinnen und Dirigenten werden vor Auftritten Ergebenheitsadressen abverlangt. Vertreter der Documenta, der Berlinale werden verdächtigt, beschuldigt und zur Selbstkritik aufgefordert, als ob wir uns im Jahr 1938 befinden. Das Gespenstische dabei, dass immer häufiger Vertreter staatlicher Institutionen, ob nun Frau Roth oder Herr Chialo, nicht nur die Diskurshoheit beanspruchen, sondern damit drohen, deren Durchsetzung zu erzwingen.

Thomas Heise hat in dieser Zeitung auf die Wortwahl des Kultursenators Joe Chialo aufmerksam gemacht. Wenn Chialo laut überlegt, dass Jurys nur noch nach politischer Willfährigkeit besetzt werden, hört er sich an wie ein SED-Kreissekretär, wenn mit „klaren Ansagen“ und „Anweisungen“ in die „Kulturräume hinein diskutiert“ werden soll, klingt er wie ein FDJ-Funktionär; das bedeutet aber auch das Ende eines demokratischen Diskurses, da weht der zarte Pesthauch der Diktatur.

Diese ideologische Denkweise ist im Zusammenhang mit Israel besonders pikant. Wenn in Israel eine rechtsextreme Regierung ihre antidemokratischen Gesetze durchpeitscht, stellt sich die Frage, wie sich das zu deutscher „Staatsraison“ und „wertegeleiteter Außenpolitik“ verhält. Diese vollkommen willkürlichen Begriffskonstruktionen rahmen den riesigen Kinderfriedhof von Gaza; die blutige Realität hat den Sinn der Begriffe pulverisiert.

Was wird mit dem „unverbrüchlichen transatlantischen Bündnis“, wenn Trump Präsident wird und Putin die Ukraine in den Schoß fallen lässt? Dann werden sich all die Formeln als so leer erweisen wie die „deutsch-sowjetische Freundschaft“, die „blühenden Landschaften“ und die Hülsen der Artilleriegeschosse in der Ukraine. Kluge nannte das den Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit. Aber die Zeit schlägt zurück: „Wo früher Geister kamen aus Vergangenheit, so jetzt aus Zukunft ebenso.“

Die Momente der ideologischen Vereinnahmung und Zurichtung sickern ein wie die Gifte des russischen Geheimdienstes. Wo leben wir denn? Wenn ich etwas ernst genommen habe an diesem System, dann die freie Meinungsäußerung. Aber auf einmal wird all das schrittweise zurückgenommen, was angeblich gegen „die Russen“ verteidigt werden soll.

Das wird natürlich über Geld geregelt werden, über „Zuwendungen“ im Kulturbereich etwa, dafür haben wir ja den Kapitalismus, und über Canceln. Wobei auch Letzteres ökonomische Folgen hat: Wenn durch das Canceln Aufträge ausbleiben, bedroht das die bürgerliche Existenz, weil man die Miete nicht bezahlen kann.

Heiner Müller gab mir während seiner „Mauser“-Inszenierung am Deutschen Theater ein Buch: „Humanismus und Terror“ von Maurice Merleau-Ponty, einem Philosophen im Umkreis und vom Range Jean-Paul Sartres. In Reaktion auf Koestlers „Sonnenfinsternis“ hat er sich auch mit dem Stalinismus beschäftigt. Müller interessierte bei Merleau-Ponty eine Überlegung: „Was aber in Wahrheit gefährlich ist und die Zivilisation bedroht, ist nicht, daß man einen Menschen wegen seiner Ideen tötet (das ist in Kriegszeiten oft getan worden), sondern, daß man dies tut, ohne es sich einzugestehen und ohne es zu sagen, sondern der revolutionären Gewalt die Maske des Strafrechts aufsetzt. Denn dadurch, dass man die Gewalt verbirgt, gewöhnt man sich an sie und institutionalisiert sie.“ Es geht also um das, was man landläufig als „Ehrlichmachen“ bezeichnet.

Ehrlich machen heißt, die geopolitischen Ziele des Westens offenzulegen. Das kann sich nicht im Vorzeigen eines ideologisch verbrämten Freiheitsbegriffes erschöpfen.

Zur Ehrlichkeit gehört auch eine Kostenrechnung, welche die Politik bisher schamhaft vermieden hat. Gewinn-und-Verlust-Rechnungen kennt jeder Freischaffende. Abstrakte, also ideologische Posten wie „Freiheit“ verbieten sich dort, weil die das Finanzamt, zumindest auf meiner Steuererklärung, nicht anerkennt. Wenn klar ist, wie viel der Ukrainekrieg jeden Einzelnen kostet, wird das Nachdenken endlich auf ordentliche kapitalistische Füße gestellt.

Und weil die westliche Welt sich auch in einem ideologischen Konflikt befindet, sollten wir endlich eingestehen, dass die Regierenden genauso Propaganda betreiben wie der Gegner, „der Russe“: Herr Pistorius, der die Kriegstauglichkeit der Armee beschwört, Frau Stark-Watzinger, die Schüler besser auf den Krieg vorbereiten möchten, Zeitungen wie FAZ, Zeit und Spiegel, welche den Kriegsbefürwortern den breiten Raum einräumen, der ihrer ideologischen Präferenz entspricht, aber nicht der Ausgewogenheit eines politischen Meinungsspektrums.

Ach ja, und die Berliner Verkehrsgesellschaft natürlich auch. Wenn die seriösen Medien, zu denen ich all die genannten zähle, nicht die Breite dieses Spektrums abbilden, wird sich Öffentlichkeit immer weiter atomisieren, in den Untergrund des Netzes, in die Echokammern abtauchen, wird die Gesellschaft noch weiter auseinanderdriften als bisher. Wenn Politiker Denkverbote erteilen, Freiheitsräume in Kunst und Kultur durch die Verteilung finanzieller Zuwendungen einschränken wollen, was nichts anderes als Zensur bedeutet, wird das öffentliche Leben genauso langweilig und genauso beschränkt werden wie die Politik, aber was schlimmer ist, autoritärer.

Ich kann mich an unseren Bataillonskommandeur erinnern, der auf den schönen sprechenden Namen Eisenschmidt hörte. Er räsonierte darüber, dass wir uns gut auf den Angriff des Klassenfeindes vorbereiten müssten, aber natürlich den Kampf dorthin tragen werden, von wo er ausgeht: „Wir lassen uns doch nicht unsere Häuser zertöppern, unsere Schulen und unsere Kindergärten. Wir dürfen nicht so tun, als wäre auf der Welt alles Friede, Freude – und hier versprach er sich – Eiterkuchen.“ Recht hatte er, oder mit Hamlet: „Es ist was faul im Staate Dänemark.“  Oder: Am vergangenen Sonntag ist das Haus der Lüge zusammengebrochen, erst mal im Osten.

Stephan Suschke stammt aus Weimar. Von 1982 bis 1987 studierte er Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Er begann seine Karriere als Dramaturg am Theater Greifswald und wurde danach Mitarbeiter bei den Inszenierungen Heiner Müllers in Berlin und Bayreuth. Von 1997 bis 1999 war er künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles. Derzeit ist Stephan Suschke Schauspieldirektor am Landestheater Linz.

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