Katja Hoyer: „Unzufriedene Westdeutsche gehen lieber gar nicht wählen“

katja hoyer: „unzufriedene westdeutsche gehen lieber gar nicht wählen“

Schriftstellerin und Autorin, Katja Hoyer.

„Eine saftige Niederlage“, nannte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen den Absturz seiner Partei bei der Europawahl am letzten Sonntag. Für Juso-Chef Philipp Türmer ist das Rekordtief der SPD „ein Schlag in die Magengrube“. Franziska Brandmann, die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, treibt um, dass die FDP „nur drei Prozent von den Arbeitern gewählt haben“.

Dass die Ampelparteien vor allem im Osten, bei jungen Wählern und bei Arbeitern schlecht abgeschnitten haben, schien viele Politiker zu überraschen, ist aber kaum verwunderlich. Diese Gruppen fühlen sich in ihren Belangen besonders unterrepräsentiert, obwohl für sie besonders viel auf dem Spiel steht.

Dass die Menschen im Osten mal wieder anders wählen als ihre Landsleute im Westen, machte schnell Schlagzeilen. Die „Europa-Wahl teilt Deutschland“ titelte die Bild über einer Karte, in der fast alle Wahlkreise „zwischen Sylt und Oberammergau“ schwarz waren, weil dort CDU und CSU die Oberhand hatten, und deren östliche Seite „von der Insel Rügen bis ins Erzgebirge“ fast durchgängig AfD-blau eingefärbt war.

Angesichts der Tatsache, dass die AfD bei den Europawahlen in den ostdeutschen Bundesländern zwischen 27,5 Prozent (Brandenburg) und 31,8 Prozent (Sachsen) erreichte und auch bei den Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg stärkste Kraft wurde, schlussfolgerte die Bild, dass Ost- und Westdeutschland offenbar politisch noch immer unterschiedlich ticken.

Das stimmt, greift aber zu kurz. Zum einen suggeriert die schwarze Hälfte der Karte mehr Einhelligkeit, als im Westen tatsächlich vorhanden ist, denn dort sehen viele Menschen ebenfalls in der Union keine Alternative, obwohl deren Wahlsieg das so aussehen lässt. Die Ampelparteien verloren bundesweit insgesamt fast elf Prozentpunkte, während die CSU keinen einzigen Prozentpunkt zulegte und die CDU auch nur gut einen. Die Diskrepanz lässt sich durch das Wahlverhalten der knapp 17 Prozent Ostdeutschen allein nicht erklären.

Viele Ostdeutsche trugen ihren Frust zur AfD, aber wo sind die unzufriedenen Westdeutschen hin, wenn die Union stagniert? Ein Teil ging auch dort zur AfD, die in allen Flächenländern zugelegt hat. Wie die Wahlwanderungsanalyse zeigt, konnte die AfD insgesamt von allen anderen Parteien Wähler abziehen (darunter jeweils mehr als eine halbe Million von SPD und Union), während sie selbst nur 160.000 Stimmen an das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) verlor und 380.000 an Nichtwähler abtrat.

Anders als im Osten sehen viele Menschen im Westen, die mit dem traditionellen Parteienangebot unzufrieden sind, in der AfD keine Alternative und gehen lieber gar nicht wählen: 5,4 Millionen ehemaliger Wähler der Union, SPD, Grüne und FDP entschieden sich nicht für andere Parteien, sondern gegen die Wahl als solche.

Dass das Vertrauen in politische Parteien auch im Westen tief verletzt ist, haben Studien immer wieder gezeigt. Das Institutionen-Vertrauensranking von Forsa befand Anfang des Jahres, dass im Osten nur neun Prozent der Befragten den Parteien vertrauen, aber im Westen waren es auch nur 14 Prozent. Um das Vertrauen in politische Parteien ist es also auch im Gebiet der ehemaligen Bonner Republik nicht gut bestellt, auch wenn unzufriedene Wähler dort anders reagieren als im Osten.

Eine weitere Komponente, die zu wenig Bedeutung in den Analysen findet, ist die der sozialen Schichten. Wie Franziska Brandmann, die Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, im eingangs genannten Zitat andeutet, haben viele der etablierten Parteien die Arbeiterschicht aus den Augen verloren, und das rächt sich im Osten stärker als im Westen, weil es im Osten weniger Mittel- und Oberschicht gibt.

Wie die Analyse der Europawahl zeigt, liegt die AfD bundesweit bei Arbeitern mit einigem Abstand an erster Stelle. Ein Drittel dieser Schicht stimmte für sie, gefolgt von 24 Prozent für die Union. Die Jungen Liberalen erkennen, dass die drei Prozent, die sie aus dieser Schicht bekommen, ein Signal sind, und das ist ein guter Anfang. Aber wo ist die Bestürzung in der SPD, Deutschlands alter Arbeiterpartei, darüber, dass ihr nur noch zwölf Prozent dieser Gruppe vertraut?

Dass der Anteil der Akademiker im Bundestag von 44 Prozent im Jahr 1949 auf 87 Prozent im Jahr 2021 angestiegen ist und man dort Schwierigkeiten hat, überhaupt noch Arbeiter zu finden, hat sicher dazu beigetragen, dass man die Sorgen und Bedürfnisse dieser Gruppe schlechter versteht beziehungsweise angehen oder ansprechen kann.

Das gilt auch mit Bezug auf junge Wähler, um die sich nun viele der Parteien Sorgen machen, vor allem die Grünen. Winfried Kretschmann sagte, es schmerze ihn, „dass wir gerade bei den Jungen so dramatisch eingebrochen sind“. In der jüngsten Wählerkohorte entschieden sich nur noch elf Prozent für seine Partei, also ein Drittel der Rekordwerte von 2019. Die AfD gewann dort währenddessen elf Prozent dazu und kam auf 16 Prozent. Auch die Union legte fünf Punkte zu und erreichte 17 Prozent. Die größte Gruppe aber bildeten die Kleinstparteien, die zusammen 28 Prozent bekamen, was zeigt, dass junge Menschen ziemlich gezielt nach Antworten suchen und diese oftmals nicht bei den großen Parteien finden.

Bemerkenswert ist hierbei, dass es die Ampel war, die sich dafür einsetzte, auch 16- und 17-Jährige abstimmen zu lassen, denn, so die Grünen: „die Absenkung des Wahlalters nimmt junge Menschen und ihre Anliegen ernst“. Angesichts des positiven Abschneidens ihrer Partei bei der Bundestagswahl 2021, wo sie bei den 18- bis 24-Jährigen mit 23 Prozent auf Platz 1 landeten, knapp vor der FDP mit 21 Prozent, sind sie sicherlich davon ausgegangen, dass sich die Anliegen junger Menschen mit denen der Ampel decken.

Außerdem fanden in der Zeit noch viele Fridays-for-Future-Protestaktionen statt, bei denen oftmals Zehntausende Jugendliche auf deutschen Straßen eine radikalere Klimapolitik forderten, was nicht nur viele Grüne, sondern auch einige Medien als Stimme „der jungen Generation“ deuteten.

Dass die von Greta Thunberg inspirierten Schulstreiker keineswegs repräsentativ für ihre Altersgruppe waren, haben auch schon damals viele Studien angedeutet. So zeigte eine Umfrage der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung, dass sich knapp zwei Drittel der Schüler, die bei den Fridays-for-Future-Demonstrationen mitmachten, der „Oberen Mittelschicht“ oder der „Oberschicht“ zuordneten. Nur sieben Prozent gaben an, aus der Arbeiterschicht zu kommen.

Es ist also schon länger bekannt, dass die Interessen der jungen Jahrgänge nicht unbedingt mit denen der Klimabewegung gleichzusetzen sind. Eine Studie des Jugendforschers Simon Schnetzer sorgte Ende April für Aufregung, als sie einen Rechtsruck der 14- bis 29-Jährigen prognostizierte, mit bis zu 22 Prozent AfD-Wählern in dieser Altersgruppe.

Natürlich hat sich diese Zahl in der Europawahl als zu hoch erwiesen, aber die Vorhersage, der AfD würde es gelingen, sich jungen Menschen „als Protestpartei für die Ampel und als Problemlöser für die aktuellen Sorgen anzubieten“, war nicht falsch. Anstatt sich mit den Inhalten der Studie, die die Sorgen junger Menschen aufgeschlüsselt hat, auseinanderzusetzen, kritisierten viele Kommentatoren lieber die Ergebnisse. Eine Statistikexpertin sagte zum Beispiel der Tagesschau, dass sie „nicht repräsentativ“ seien, woraufhin die ARD dann andere Umfragen präsentierte, die der AfD 14 Prozent zuschrieb und der Union und den Grünen jeweils 21 Prozent.

Interessanter als die absoluten Zahlen in Schnetzers Studie sind die Angaben junger Menschen zu ihren Sorgen und Ängsten. Klimawandel ist noch immer wichtig für die Hälfte der Befragten und nur leicht rückläufig, verglichen mit den beiden Vorjahren. Aber an erster Stelle steht mittlerweile „Inflation“ – knapp zwei Drittel der Befragten geben das als ihr „Top-Problem“ an, 2022 waren es 46 Prozent, also weniger als die Hälfte. „Krieg in Europa und Nahost“ steht an zweiter Stelle mit 60 Prozent, gefolgt von „teurem/knappen Wohnraum“. Für viele junge Deutsche sind existenzielle und unmittelbare Sorgen um die eigene Zukunft wahlentscheidend.

Ein weiteres Thema, das heute wichtiger ist als noch vor zwei Jahren, ist die „Zunahme von Flüchtlingsströmen“. Das hat bis letztes Jahr nur ein Viertel der Befragten interessiert. Dieses Jahr wurde es von 41 Prozent der Befragten genannt.

Natürlich kann man nun argumentieren, dass die junge Generation von der AfD im Internet verführt wird, so wie es zum Beispiel auch der Studienautor Schnetzer tut, wenn er sagt, dass soziale Medien das Spielfeld seien, „auf dem die AfD so erfolgreich ist wie keine andere Partei“. Aber misst man hier nicht mit zweierlei Maß? Man möchte die Belange der jungen Menschen ernst nehmen, traut ihnen aber nicht zu, sich kritisch zu informieren.

Dazu passt, dass der Grünen-Bildungspolitiker Kai Gehring nach Schnetzers Studie für „eine gezieltere politische Bildung“ und einen „Check und ein Update“ aller Lehrpläne plädierte. Louisa Basner von der Bundesschülerkonferenz forderte angesichts des Verhaltens ihrer Generation bei den Europawahlen, dass „politische Bildung an den Schulen eine Querschnittsaufgabe sein und in allen Fächern geleistet werden“ müsse. Man könnte zum Beispiel auch „in Mathe Aufgaben mit politischem Bezug rechnen“, fügte sie hinzu – eine Aussage, die eine breitflächige Politisierung der Schulbildung suggeriert, die gerade im Osten bei vielen weniger gute Erinnerungen wachrufen dürfte.

Der Lehrer Niko Kappe ist anderer Meinung. „Wahlen werden nicht durch TikTok-Videos gewonnen“, sagte er der Tagesschau. Natürlich spielt Kommunikation eine Rolle, aber eben auch, was auf der Agenda steht. Viele junge Leute hätten „sich aktiv mit den Inhalten auseinandergesetzt und dann entschieden“. Dem stimme ich zu. Die Politik muss die wirtschaftlichen und sozialen Sorgen dieser Generation ernst nehmen, wenn sie festlegt, dass sie in der Lage ist, mündige Wahlentscheidungen zu treffen.

Dieses Prinzip gilt im Übrigen für alle Wähler. Das veränderte Wahlmuster sollte weder als Ost-Seltsamkeit, noch als Rücksicherung, dass im Westen alles beim Alten bleibt, wahrgenommen werden. Schaut man genauer hin, zeigt sich insgesamt eine rapide Entfremdung zwischen Parteien und Wählern, und so etwas ist letztlich kein einseitiger Prozess in einer Demokratie.

Die Europa- und Kommunalwahlen waren ein deutliches Signal dafür, dass nun entweder aufgegriffen oder weiter weggeredet werden kann. Keine Partei hat in einer parlamentarischen Demokratie ein automatisches Bestandsrecht. Wer weiter den Kopf in den Sand steckt, wird auch bei zukünftigen Wahlen dafür die Quittung erhalten.

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