Brief aus Istanbul: Dieser Brief kann mich hinter Gitter bringen
Der türkische Präsident am Montag in Ankara bei einer Ernennungszeremonie für Richter und Staatsanwälte
Ein hervorstechendes Merkmal von Erdoğans politischer Führung war seine Unberechenbarkeit. Mit plötzlichen, unvermuteten Initiativen stieg er zum Gipfel seiner Macht auf und irritierte Kontrahenten im In- und Ausland. Doch seit sein Stimmenanteil sinkt, wie bei allen Wahlen seit 2017 und zuletzt deutlich bei den Kommunalwahlen Ende März, ist Erdoğan nicht mehr so unberechenbar. Denn in der Klemme, in der er seither steckt, ist sein Handlungsspielraum geschrumpft.
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Vor einem Monat stellte ich in meinem Brief die Frage, ob die Wahlniederlage Tauwetter bei Erdoğan auslösen würde, und begründete, warum das nicht möglich sei. Zum einen hält die Aussetzung der Demokratie Erdoğan an der Macht, eine freie, demokratische Atmosphäre würde seine Verweildauer im Palast verkürzen. Zum anderen würde die ultranationalistische MHP, Erdoğans einziger verbliebener Verbündeter, eine Öffnung nicht zulassen.
Was seither in der Türkei geschah, ist nicht meiner Voraussage geschuldet, sondern der Klemme, in der Erdoğan steckt. Zwar sagte er nach der Wahl, die Politik sei in eine Phase der Entspannung eingetreten, und traf den neuen Vorsitzenden der Oppositionsführerin CHP, mit der er acht Jahre lang nicht gesprochen hatte, doch das entsprang keinem echten Wunsch nach Entspannung. Vielmehr brauchte er die Maske des Demokraten, um den Westen zur Öffnung der Geldhähne zu veranlassen. Zudem braucht er die Stimmen der Opposition für die Verfassungsänderung, die ihm die Wiederwahl ermöglichen soll. Die jüngsten Ereignisse aber deuten darauf hin, dass Erdoğan sich auf seine Werkseinstellungen zurückgesetzt hat.
Bülent Mumay
Unliebsame Studenten
Fangen wir mit der dramatischsten Entwicklung an. Seit 2016 ist der kurdische Politiker Selahattin Demirtaş inhaftiert, jetzt wurde er im sogenannten Kobane-Prozess zu 42 Jahren Haft verurteilt. Warum? Nun, als IS-Milizen 2014 die kurdische Stadt Kobane in Nordsyrien angriffen, rief Demirtaş als Ko-Vorsitzender der HDP zum Protest auf, damit dem Massaker ein Ende gesetzt werde. Vielerorts in der Türkei gingen Kurden auf die Straße, die Polizei ging brutal gegen die Proteste vor, 46 Menschen kamen dabei ums Leben. Allein wegen seines Aufrufs zum Protest, ohne dass er irgendetwas mit den Todesfällen zu tun hatte, wurde Demirtaş jetzt zu 42 Jahren Haft verurteilt, und die damalige zweite Ko-Vorsitzende der Partei, Figen Yüksekdağ, zu dreißig Jahren.
Bei dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar 2023 kamen in der Türkei rund 62.000 Menschen um. Für die hohe Opferzahl waren zwei Gründe und ein einziges Subjekt verantwortlich: die Regierung hatte marode Bauten geduldet und im Rahmen einer sogenannten „Bau-Amnestie“ illegal errichtete Gebäude gegen Geld legalisiert. Kurz nach der Katastrophe hatte ein Mediziner in den sozialen Medien an Erdoğan gerichtet gepostet: „Für alle, die aufgrund Ihrer Fahrlässigkeit ums Leben kamen, sollten Sie sich verantworten müssen.“ Nun kam, was kommen musste: Der Facharzt wurde wegen Präsidentenbeleidigung verklagt, nachdem Erdoğan erst letzte Woche verkündet hatte: „Die Leute können ihre Gedanken in den unterschiedlichen Medien frei schreiben und teilen, solange sie damit nicht Terrorismus rühmen, zu Gewalt aufhetzen oder beleidigen.“ Das Verfahren könnte damit enden, dass der Angeklagte zu mindestens drei Jahren Haft verurteilt wird.
Und weiter aus dem Land der Erdoğan-Demokratie: In Giresun am Schwarzen Meer gewann die Opposition die Wahlen, jetzt verbot der Erdoğan unterstellte Gouverneur den Konsum von Alkohol in der Öffentlichkeit, am Strand, beim Picknick oder im Auto darf nicht mehr getrunken werden. Und in Ankara wurden Ermittlungen gegen Studenten eingeleitet, weil sie sich an Protestaktionen an der Technischen Universität des Nahen Ostens ODTÜ beteiligt hatten. Wenige Tage zuvor hatte die Universitätsleitung noch die Pro-Palästina-Aktionen der Studenten in den USA unterstützt und amerikanische Universitäten kritisiert, „unverhältnismäßig auf den friedlichen Protest von Studenten“ zu reagieren. In der Industriemetropole Bursa wiederum konnte das von dortigen Studenten organisierte Frühlingsfestival nicht stattfinden, weil der Rektor erklärte, keine Konzerte zu wollen, bei denen Mädchen und Jungen zusammenkommen. Und auf der Buchmesse in einer von Erdoğans AKP regierten Stadt wurde verboten, Bücher von regierungskritischen Journalisten zu verkaufen.
Sieben Jahr Haft
Das größte Drama nach Erdoğans Entspannungsversprechen sei die Verurteilung kurdischer Politiker zu hohen Haftstrafen, hatte ich gesagt. Nun, ein vom Palastregime angekündigtes neues Gesetz dürfte dafür sorgen, dass die kurdischen Politiker im Gefängnis nicht allein bleiben. Das geplante Gesetz gegen ausländische Einflussnahme, wie Russland es bereits 2012 erlassen und wie es in den letzten Tagen Georgien erschüttert hat, wird die Türkei voraussichtlich in ein offenes Gefängnis verwandeln. Wer in der Türkei „im Auftrag oder im strategischen Interesse eines ausländischen Staates oder einer ausländischen Organisation zum Schaden der Sicherheit oder der außenpolitischen Interessen des Staates“ recherchiert oder forscht, wie es vage heißt, ist mit bis zu sieben Jahren Haft bedroht.
Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, wie die im Gesetz stehende Formulierung „gegen die Türkei gerichtete Propaganda“ zum Einsatz kommen wird. Als 2022 das „Desinformationsgesetz“ aufgelegt wurde, hatte die Regierung behauptet, Journalisten seien davon nicht betroffen. Doch kaum war es in Kraft, wurde gegen etliche Journalisten ermittelt, es gab Festnahmen und Haftbefehle. Wenn das Gesetz gegen ausländische Einflussnahme in den nächsten Tagen durchkommt, wäre möglich, dass ich angeklagt werde, weil ich diese Kolumne für die F.A.Z., „eine ausländische Organisation“, geschrieben und „gegen die Türkei gerichtete Propaganda“ betrieben habe, und dafür sieben Jahre ins Gefängnis muss.
Propaganda mit EU-Mitteln
Das Gesetz bedroht nicht bloß Journalisten, sondern auch NGOs, Forscher und Wissenschaftler, die mit internationalen Institutionen kooperieren. Ein Ökonom, der für eine internationale Organisation die türkische Wirtschaft analysiert, könnte inhaftiert werden, weil er angeblich der Wirtschaft schade, indem er verhindere, dass der Staat Kredite bekommt. NGOs, die offizielle Statistiken hinterfragen oder Berichte über Menschenrechtsverletzungen oder die Lage der Flüchtlinge in der Türkei schreiben, könnten als „Einflussnahme-Agenten“ und „Spione“ betrachtet werden. Kurz, jeder, der sagt: „Der König ist nackt“, muss damit rechnen, zum Landesverräter erklärt zu werden.
Mit dem Gesetz wäre es auch strafbar, die Fonds internationaler Organisationen wie etwa der EU zu nutzen. Allerdings wären davon nicht bloß echte NGOs betroffen. Denn Einrichtungen im Hinterhof des Palastes betreiben mit den Millionen europäischer Steuerzahler seit Jahren Propaganda für die AKP. Beispielsweise erhielt eine Jugendorganisation, der der Erdoğan-Sohn Bilal vorsteht, einen Zuschuss von 700.000 Euro aus dem Erasmus-Fonds der EU. Und dem Sportverein desselben Sohnes flossen 500.000 Euro von der EU zu. An den Frauenverein einer Erdoğan-Tochter wurden 51.000 und an eine islamistische Stiftung, in deren Wohnheimen Kinder missbraucht wurden, 40.000 Euro gezahlt. An den AKP-„Think-Tank“ SETA, der 2019 Journalisten, die für ausländische Presse tätig sind, auch mich, zu Agenten erklärte, gingen von Ihren Steuergeldern 291.000 Euro. Das Palastregime muss also auf der Hut sein. Denn wie bei der Französischen Revolution frisst letztlich jede Revolution ihre eigenen Kinder.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.