Nach der Europawahl: Die EU darf sich vom Rechtsruck nicht lähmen lassen
Marine Le Pen
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Selten hat das so gestimmt wie nach der Europawahl. Welche Folgen diese für die europäische Politik hat, wird sich erst am 7. Juli zeigen. Dann ist der zweite Gang der vom französischen Präsident Emmanuel Macron nach der Niederlage gegen das rechtspopulistische Rassemblement National am vergangenen Wochenende angesetzten Neuwahl beendet. Das Ergebnis könnte Schockwellen durch die EU senden,wie seit dem Brexit nicht.
Bewirbt sich um eine zweite Amtszeit: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
Brüssel spricht vom Macrons „Cameron-Moment“. Das trifft es gut. Was Macron auch zu erreichen erhofft – ein Aufbäumen der Mitte gegen Rechts, die Entzauberungen der Rechten in der Regierungsverantwortung nach einem möglichen Wahlsieg –, es könnte schiefgehen, so wie das Kalkül des britischen Premierministers David Cameron, die Euroskeptiker durch das Brexit-Referendum Matt zu setzen.
Handlungsfähiges Europa gegen Krisen
Gewinnt Marine Le Pens Partei die Wahl, droht der EU Stillstand in einer geopolitischen Phase, in der sie sich es nicht leisten kann. Der Ukraine-Krieg, die zunehmenden Spannungen mit China, der Trend zur De-Globalisierung, das Zurückfallen der EU im Wettbewerb mit Amerikanern und Chinesen und auch der Klimaschutz brauchen ein handlungsfähiges Frankreich und Europa. Allein können die EU-Staaten das nicht bewältigen. Dazu sind sie zu klein.
Macron will zwar nach einer Niederlage im Amt bleiben. Er hat als Präsident das Prä in der Außenpolitik. Dauerhaft kann er aber kaum gegen eine rechtspopulistische und euroskeptische Mehrheit handeln. Er braucht das Parlament nicht zuletzt in Haushaltsfragen. Auf EU-Ebene stehen die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Haushalt bevor, von Hilfen für die Ukraine und der Diskussion über einen Verteidigungsfonds ganz zu schweigen.
Natürlich kann Macron sein Spiel gewinnen. Le Pen kann, wie mancher in Brüssel hofft, nach einem Wahlerfolg „die Meloni machen“ und wie die italienische Ministerpräsidentin auf EU-Ebene geschmeidig agieren. Selbst dann gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Der Rechtsruck bei den Wahlen droht die EU auch sonst zu lähmen. Nicht wegen der Mehrheiten im Europaparlament: Die Mitte dort ist noch stark genug. Die Gefahr geht von den Staaten aus, allen voran den Gründungsländern.
Viel Sand im europäischen Motor
Frankreich ist nur das Extrem. Der Rechtsruck droht den Fokus der Staaten nach innen zu richten, wo er doch nach außen gehen müsste. Das Ringen der Mitte um die „richtige Antwort“ auf den Erfolg der Rechtspopulisten wird viel Sand in den europäischen Motor streuen.
Das wird Folgen haben für die Wirtschaftspolitik und die Frage, wie die EU mit China und den USA mithalten will. Das muss nicht nur negativ sein. Nach dem Regulierungsmarathon der „Kommission von der Leyen I“ täte der EU etwa eine Regulierungspause und Bürokratieabbau in vielen Politikfeldern gut.
Das gilt nicht nur für den Green Deal. Die Unternehmen könnten sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren, gute Produkte zu entwickeln. Wenig bedauerlich wäre auch, wenn die Debatte über neue EU-Schulden ausgebremst wird.
Es dräuen noch mehr Subventionen und Abschottung
Für die anstehende Diskussion über den mehrjährigen EU-Haushalt ist das schlecht. Zwei Drittel fließen in zweifelhafte Strukturhilfen und Agrarsubventionen. Er muss dringend modernisiert werden, um Spielraum für wichtigere Aufgaben zu haben. Das aber ist unmöglich, wenn EU-Staaten und Europäisches Parlament aus Angst vor den Rechten jeden Einschnitt bei Bauern und anderswo blockieren.
Die gravierendsten Folgen drohen in der Industrie- und der Handelspolitik. Die EU tut sich schon heute sehr schwer, neue Handelsabkommen abzuschließen, um sich Märkte zu erschließen und von China (und den USA) zu lösen. Nicht nur Frankreich blockiert aus Angst vor Bauernprotesten und anderen nationalen Befindlichkeiten. Selbst das seit Jahren angewandte Ceta-Abkommen mit Kanada ist in zehn EU-Staaten noch nicht ratifiziert, vom Abkommen mit dem südamerikanischen Mercosur ganz zu schweigen.
Stattdessen dräut eine noch mehr auf Subventionen und Abschottung, vor allem gegen China,ausgerichtete Politik. Es ist einfach zu verführerisch. Handelsverträge wirken immer langfristig. Abschottung schützt unmittelbar Arbeitsplätze. Die mit Milliarden – am besten unter der Überschrift „grüne Industriepolitik“ – geförderte Fabrik kann der unzufriedene Wähler (der Rechtsparteien) greifen. Dennoch muss die EU der Versuchung widerstehen. Denn wenn es schiefgeht, nutzt das wieder nur einem: dem rechten Rand.