Dennis Radtke: Einst Sozialdemokrat, bald schon neuer Arbeiterführer der CDU
Estrel Congress Center, 36. Parteitag der CDU Deutschlands - Tag 2: Dennis Radtke data-portal-copyright=
Beim Sozialflügel der Partei beginnt der Generationswechsel: Karl-Josef Laumann konzentriert sich auf sein Amt als Stellvertreter von CDU-Chef Merz. Der Europapolitiker Radtke übernimmt.
Karl-Josef Laumann offenbarte am Wochenende seinem Bundesvorstand, was seit Monaten Gesprächsthema bei der CDU ist: Der Chef des Arbeitnehmerflügels (CDA) macht nach fast 20 Jahren Platz für Dennis Radtke. Der 45-jährige Radtke lebt mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern in Bochum-Wattenscheid, wo er auch geboren wurde. Im September soll der Europapolitiker fürs Ruhrgebiet neuer Vorsitzender der CDU-Vereinigung werden.
Laumanns Abschied und Radtkes Aufstieg werden weitreichende Folgen für die CDU haben. Auf dem Bundesparteitag hatten die Delegierten den Münsterländer Laumann bereits zum Stellvertreter von Parteichef Friedrich Merz gekürt.
Mit der neuen Macht ausgestattet, wird der 66-Jährige stärker auf einem klaren sozialpolitischen Profil der Partei bestehen. „Eine prominente Stellung im Wahlprogramm von CDU und CSU“ solle das Soziale bekommen, wie Laumann, im Hauptberuf Arbeits- sowie Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, dem Handelsblatt sagte. „Die CDU muss deutlich machen, dass sie die Partei der gewerblichen und industriellen Produktion ist.“ Flankiert wird er dabei von Radtke. Beide sehen die historische Chance angesichts der Schwäche der SPD. „Aber dazu müssen wir etwas im Angebot haben.“ Der Gewerkschafter scheut sich nicht zu polarisieren.
Vor zwei Jahren etwa warnte er vor den „Merz-Ultras“ in der Parteizentrale und einem Rechtsruck unter dem Wirtschaftskonservativen Merz. Radtke wirbt für einen „Mix aus Industriepolitik und sozialer Sicherheit“, für den er nicht zuletzt wegen seines Ruhrpott-Slangs authentisch steht.
„Glück auf!“, grüßt er, wenn er ein Gespräch beginnt. Seine Großväter waren aufrechte Sozialdemokraten, schleiften den jungen Dennis mit zu Parteiveranstaltungen. Natürlich trat er mit 14 Jahren in die SPD ein. Er lernte Industriekaufmann, trat in die IG BCE ein und engagierte sich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung.
Mindestlohn als „Rechenaufgabe“ für Statistiker
Radtke hatte aber auch einen Kinderfreund aus der Nachbarschaft: Philipp Missfelder. Der wurde 2002 Chef der Jugendorganisation der CDU. Der 22-jährige Radtke schloss sich ihm an, sah er doch die alte SPD längst verloren.
Der Konvertit beichtete seinem verbliebenen Großvater. „Hättest du nicht warten können, bis ich auch tot bin?“, gab der ihm zur Antwort.
Radtke blieb seiner sozialen Ader und der Gewerkschaft treu, wurde Gewerkschaftssekretär und verhandelte zwölf Jahre lang Tarifverträge. Auch deshalb weiß er um den Wert der Sozialpartnerschaft und wirbt vehement für mehr Tarifbindung.
Es gehe nicht nur um die Frage nach mehr Lohn, betont er. Ohne gelebte Sozialpartnerschaft werde womöglich eines Tages der Staat nicht nur den Mindestlohn festlegen, sondern auch die Pausen, Arbeitskleidung oder Weiterbildungen.
Wir müssen den Mindestlohn entpolitisieren und zur Aufgabe für das Statistische Bundesamt machen.
Am liebsten sieht Radtke die Dinge entpolitisiert, auch den Mindestlohn. Dessen Höhe solle nicht Topthema in jedem Wahlkampf sein, sondern eine „Aufgabe für das Statistische Bundesamt“. Die CDA will, dass der Mindestlohn als Median der europäischen Durchschnittslöhne ermittelt wird, atuomatisch, regelmäßig, ohne Wahltermine.
Seit 2019 führt Radtke mit der NRW-CDA den mit Abstand größten Landesverband und ist zugleich Laumanns Stellvertreter im Bund. Er steht dem europäischen Dachverband vor und kümmert sich im Europäischen Parlament passenderweise um Industriepolitik, Soziales und Beschäftigung. Dort hat er sich etwa für ein „Recht auf Abschalten“ im Beruf eingesetzt. Drei Jahre ließ er die Sozialpartner verhandeln, vergeblich. „Das Parlament wird sich jetzt mit dem ‚right of disconnect‛ auseinandersetzen müssen“, sagt er.
Klassische Musik und mehr als 3000 Bücher
Das Ziel von Radtke wie von Laumann lautet: Die CDU soll für mehr Arbeiter und Angestellte attraktiv werden und damit die Breite der Bevölkerung repräsentieren. Dazu muss die CDU glaubhaft für die Arbeiter Politik machen. Derzeit laufen sie in Scharen von der SPD direkt zur AfD oder zum BSW. „Die AfD hat bei den Arbeitern einen harten Kern von 30 Prozent“, sagt Radtke. 33 Prozent waren es sogar bei der Europawahl laut Infratest Dimap. Die Partei habe in den letzten Jahren den Sozialpopulismus für sich entdeckt, nun komme auch noch das BSW hinzu.
Radtke liebt Musik, spielt selbst sehr gut Klavier, hätte sogar Musik studieren können. Er ging einen anderen Weg, doch blieb die Begeisterung für die Klassik, die seine Frau „Obsession“ nennt: Mehr als 3000 Bücher besitzt er über Komponisten, deren Psychologie und Musik. Trotz Politik und Familie nimmt er sich abends noch etwas Zeit für seine Leidenschaft.
Sollte Radtke im September gewählt werden, wäre 2024 vermutlich sein erfolgreichstes Jahr: nicht nur, dass die NRW-CDU bei der Europawahl im Ruhrgebiet fast überall gewonnen hat. Auch sein Lieblingsverein Bayer Leverkusen ist endlich deutscher Fußballmeister geworden und hat sogar noch den DFB-Pokal gewonnen.
Nach der Freude aber wird die Arbeit beginnen. Radtke wird vor der Aufgabe stehen, aus der CDA wieder eine schlagkräftige Organisation zu formen. Als Vorbild gilt die Mittelstandsunion. Die hatte 2013 der heutige CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann übernommen und von Grund auf modernisiert. Heute gilt sie mit ihren 25.000 Mitgliedern als gewichtige Stimme. Die CDA fristet im Gegensatz dazu derzeit ein Schattendasein – mit etwa 10.000 Mitgliedern.