Theater in Freiburg: Männliche Stärke als höchste Lust

theater in freiburg: männliche stärke als höchste lust

Ertrag’ es, meine Schöne: Martin Hohner als großer Gopnik bedrängt Angela Falkenhan als Frau des Autors.

„Der große Gopnik“, Viktor Jerofejews autobiographischer Putin-Roman, wurde nur ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen vom Theater Freiburg als Auftragswerk auf die Bühne gebracht. Die Geschichte vom komplexgetriebenen Schlägertypen, der mit KGB-Methodik und mafiöser Intelligenz zum mächtigsten Mann Russlands wird, einen Krieg vom Zaun bricht und gleichwohl die Mehrheit seines Volkes hinter sich bringt, steht für eine Herausforderung der Demokratien, deren Aktualität sich nur verstärkt. Der 76 Jahre alte Jerofejew, der seit Russlands Großinvasion in die Ukraine im Berliner Exil lebt, hat eine Dramenversion verfasst, welche seine fiktionalisierte Biographie mit der des einige Jahre jüngeren Gopnik engführt, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnte: Hier der weltläufige Sohn einer privilegierten Familie aus der Sowjetnomenklatura, der für die Freiheit der Kunst einsteht, dort der kriminalisierte Zögling bitterarmer Hinterhöfe, wie ihn die russische Vokabel Gopnik bezeichnet. Der um zwei Generationen jüngere Regisseur Eike Weinreich hat das Stück kongenial inszeniert als epische Horrorkomödie und Revue der Grenzüberschreitungen in den erogenen Zonen von Kultur und Macht.

Wer sich dabei durchsetzen wird, das vergegenwärtigt der militärgestiefelte Unterkörper aus Gips, den die Ausstatterin Bettina Meyer während des Zweieinhalbstundenabends symbolisch über der Drehbühne thronen lässt, während ein Szenenkarussell durch Schlüsselereignisse im Leben der Helden führt. Das Autor-Ich wird vom schlaksigen Thieß Brammer als lässig-selbstbewusster Chronist und Erbe der Klassik seines Landes verkörpert, der sich in Gestalt seiner „Schwester“ O. ein provokant-orgiastisches Alter Ego zugelegt hat, eine Art Hommage an George Batailles obszönes Credo. Die fabelhafte Janna Horstmann gibt die vital-anarchische Anima-Figur, die Jerofejews Thesen vom russischen Märchenbewusstsein und russischen Dominanzgelüsten ausagiert, gehüllt in Bianca Deigners prächtige Kostüme, bald als Schneekönigin im Nacktanzug, bald als Vagina-Balletteuse in rosa Riesenrüschen.

Der attraktive Oppositionelle überschätzt sich selbst

Ein Glücksfall ist Martin Hohner als Darsteller des großen Gopnik, den Horstmanns O. als literarische Zirkusdirektorin zu Beginn in einer Art Jenseitsvision mit der im März 2022 von Russen bombardierten Geburtsklinik von Mariupol konfrontiert. Während auf mit Theatertoten übersäten und durch blutrote Videos erleuchtete Treppenstufen eine Ärztin ihm von Schwangeren berichtet, die durch den Beschuss verstümmelt wurden oder ihr Kind verloren, wehrt sich Hohner, indem er ihr entgegnet, die ukrainischen Nazis hätten sich selber beschossen, und die Feindpropaganda würde Russland neuerdings mit toten Kindern bekriegen, wobei er in putinesker Kleinganovenmanier den Hals reckt und die Lippen vorschiebt. Das leblos daliegende Ensemble, das der Gopnik später aufschichtet und umformt, das durch Gesichtsstrümpfe zur anonymen Masse verschmilzt oder hinter ihm herkriecht, ist der Refrain des Krieges – den, wie die Conferencieuse O. dem Autor-Ich Brammers erklärt, der Gopnik aus bloßer Unlust an konstruktiver Politik angezettelt hat, und der ihm das euphorisierende Erlebnis absoluter Macht beschert.

Weinreich schildert indes die – vielleicht nicht nur russische – Politik auch als Markt käuflicher Erotik, auf dem erfolgsverwöhnte Liberale sich leicht überschätzen. Martin Müller-Reisinger spielt mit edler Physiognomie und Garderobe die Sammelfigur des Oppositionellen, der den Gopnik fatalerweise nicht ernst nimmt, und als er seinen Fehler erkennt, mit Unterschriften-Säcken gegen die altneue Sowjethymne oder einer Parlando-Beschwörung von des Gopniks hoffentlich zahllosen Krankheiten nur noch zu selbstparodistischen Ersatzhandlungen Zuflucht nehmen kann. Die Figur ist teils von dem 2015 ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow inspiriert, dessen Erfolg bei Frauen und dessen Vorliebe für rosa Stringtangas ein farcenhaftes Leitmotiv werden – sogar die frustrierte Schriftstellerfrau (ausdrucksvolle Tänzerin der Überlebenskunst: Angela Falkenhan) fliegt auf ihn. Er versucht noch – wie der ebenso charismatische und von den Frauen geliebte Alexej Nawalnyj – Straßenproteste zu organisieren, wird aber von der Statisterie zugedeckt und liegt schließlich leblos am Boden.

Männertanz im rosa Tanga

Die Erotik des Gopnik choreographiert Weinreich durch den Tanz eines nur mit rosa Tanga bekleideten Mannes, der – zu Technoklängen durch Videogewitter mit Putin-Fratzen in die Kindheit des Helden führt. Hohner lässt sich zusammenschlagen, von Mädchen verhöhnen, er spuckt Kunstblut, bis sein ahnungsloser deutscher Freund (Antonis Antoniades verkörpert Schröderhafte Unterwürfigkeit) den Angreifer zu stoppen versucht. Da erscheinen Schlägertypen, die einen Passanten, der Hohners Gopnik verhöhnte, niederstrecken. Wie Hohner, breitbeinig über ihm stehend, eine Ketchupflasche auf ihn ausleert, zeigt, dass diese Grenzüberschreitung der Vergeltung ihn in echte Ekstase versetzt.

Als Patron des Gopnik tritt Stalin auf (wie ein patriarchenhaftes Urmonster: Holger Kunkel), dessen grotesk langes Stoffglied beim vertraulichen Sauna-Schwitzen überragende Potenz vergegenwärtigt. Der lobt seinen Adepten, dessen fehlende Tötungshemmung und insbesondere den Krieg in der Ukraine.

Horstmanns Muse des dramatischen Gedichts lässt den Gopnik sterben, erfüllt den Traum der russischen Intelligenzia und Emigranten, extrapoliert sogar die Zeit nach dem Ende des Krieges. Doch über sein Volk fällt Jerofejews Befund vernichtend aus: Sein einfacher Russe der Zukunft behauptet, einen Krieg habe es nie gegeben, er habe alles vergessen. Das Publikum jubelt.

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