„Wir irrlichtern durch die Energiewende“ – Industriegewerkschaft kritisiert Ampel scharf

Die IGBCE bekommt großen Zulauf – auch, weil viele Beschäftigte um ihre Jobs fürchten. Die Gewerkschaft gilt eigentlich als gemäßigt. Doch nun geht ihr Chef Vassiliadis scharf mit der Ampel ins Gericht – und fordert neue Subventionen in Höhe von hunderten Milliarden Euro.

„wir irrlichtern durch die energiewende“ – industriegewerkschaft kritisiert ampel scharf

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) picture alliance/dpa/Fabian Strauch

Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IGBCE) gilt als eine der weniger aufwieglerischen Gewerkschaften hierzulande. Vergleichbar kurze Tarifrunden, überschaubare Lohnsteigerungen und seltene Streiks prägten das Bild der Chemie- und Energie-Gewerkschaft in den zurückliegenden Jahren.

Die drastischen Standort-Warnungen und der Einbruch der Produktion angesichts hoher Energiepreise könnten nun jedoch die Trendwende einleiten. Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis geht auf Konfrontationskurs mit der Ampel. Deren Handeln sei von „unerklärlichem Leichtsinn“ geprägt, sagte er auf der Jahrespressekonferenz der IGBCE.

Nachdem die Debatte um den Industriestrompreis und die drohende Deindustrialisierung weite Teile des Sommers geprägt hatte, war der Begriff im Spätherbst aus den Schlagzeilen verschwunden. Im Oktober hatten sich die Ampel-Spitzen nach langem Hin und Her auf einen Kompromiss geeinigt: Statt der Deckelung auf 60 Euro je Megawattstunde (MWh) sollte die Steuer auf verbrauchten Strom auf das EU-Minimum von 50 Cent pro MWh gesenkt werden. Doch nur eine Woche nach der Einigung fällte das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Haushaltspolitik der Ampel – und stellte die Zusage prompt infrage.

„wir irrlichtern durch die energiewende“ – industriegewerkschaft kritisiert ampel scharf

Zwar hat Finanzminister Christian Lindner (FDP) zugesichert, an einer „massiven Stromsteuersenkung in Höhe von drei Milliarden Euro für alle Unternehmen des produzierenden Gewerbes“ festzuhalten. „Diese Absenkung gilt für die Jahre 2024 und 2025. Sie soll um weitere drei Jahre verlängert werden“, so Lindner Ende Dezember. Es gibt jedoch eine Einschränkung: Das gelte nur, „sofern für die Jahre 2026 bis 2028 eine Gegenfinanzierung im Bundeshaushalt dargestellt werden kann.“

Reicht das aus, um die energiehungrigen Sektoren wie Chemie und Pharma am Standort D zu halten? Die Auswirkungen sind jetzt schon immens. So ist die Produktion der Chemie- und Pharmaindustrie 2023 laut Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) um acht Prozent geschrumpft.

„Betrachtet man die chemische Industrie ohne Pharma, liegt das Produktionsminus bei elf Prozent“, so Verbandsgeschäftsführer Klaus-Peter Stiller. Die Branche hat 2023 einen Umsatz von 230 Milliarden Euro erzielt – 2022 waren es noch 261 Milliarden Euro. Das entspricht einem Minus von fast zwölf Prozent.

Über ein Drittel der Beschäftigten bangen um ihre Jobs

Auch Vassiliadis hat Zweifel, ob sich das Niveau der zurückliegenden Jahre halten lässt. „Nicht ganze Standorte, aber einzelne Anlagen werden schon stillgelegt. Das sieht man von außen manchmal gar nicht“, sagte er bei der Konferenz im Berliner Gewerkschaftshaus. „Es sieht düster aus.“

38 Prozent der Beschäftigten haben sehr große oder große Angst vor dem Verlust von Arbeitsplätzen im eigenen Betrieb, wie eine IGBCE-Mitgliederumfrage zeigt. „Zukunftsängste und Pessimismus prägen die Stimmung“, so Vassiliadis. „Es muss schon etwas Großes passieren, dass sich die Leute so äußern.“

Das Land stecke fest zwischen Vielfachkrise, globaler Nachfrageschwäche und hausgemachten Problemen. „Eine gefährliche Grundstimmung aus Abstiegsängsten und Staatsverdrossenheit macht sich in der Bevölkerung breit, die allein den Radikalen und Populisten in die Hände spielt“, warnte Vassiliadis.

Die Energiepreise hätten sich zwar auf ein „New normal“ eingependelt. Das liege aber immer noch über dem Vorkrisenniveau und sei im Vergleich zu konkurrierenden Ländern zu hoch. „Gefordert haben wir den Industriestrompreis. Bekommen haben wir das – Strompreispaket.“ Vassiliadis zog das Wort in die Länge, in seiner Stimme war ein Hauch von Abscheu zu hören.

Das Paket könne „die Schieflage nicht beheben“, zumal nun die Subventionen für die Netzentgelte gestrichen wurden. Der Hintergrund: Der ursprünglich auch für 2024 geplante Bundeszuschuss kann laut Lindner „infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht weiter finanziert werden“. Die damit verbundenen Ausgaben – 5,5 Milliarden Euro – müssten nun eingespart werden.

„wir irrlichtern durch die energiewende“ – industriegewerkschaft kritisiert ampel scharf

Klar sei aber: Ohne erhebliche Subventionen sei die Transformation nicht machbar. „Viele Betriebe sind schwer verunsichert, ob sich die Produktion in Zukunft jemals lohnt“, warnte Vassiliadis. „Wir irrlichtern durch die Energiewende.“ Die Industrie brauche jetzt schnellere grüne Energie. „Es reicht aber nicht, wenn der Strom grün und klimagerecht ist, er muss auch bezahlbar sein.“

Sein etwas vager Vorschlag: die Schaffung eines „staatlich abgesicherten Pools“ zur Finanzierung erneuerbarer Anlagen. Das würde fünf bis sechs Cent pro Kilowattstunde möglich machen. Auch solle der Bund bei den Netzbetreibern einsteigen, um den Ausbau zu beschleunigen.

„Ich rede nicht von Verstaatlichung, sondern vom Einsteigen“, relativierte Vassiliadis. Auch sei klar: „Wenn wir Knappheit haben, muss die Industrie den Strom zuerst bekommen.“ „Vorfahrt für energieintensive Betriebe bei Versorgung mit Grünstrom“, nennt er das.

Die Unsicherheiten in der Industrie bewegen die Gewerkschaften derzeit zu hochtrabenden Forderungen. So schlug unlängst IG-Metall-Chefin Christiane Benner für die kommenden sechs Jahre ein Sondervermögen von 600 Milliarden Euro für den ökologischen Umbau der Industrie vor.

Grundsätzlich sei die Forderung der IG Metall richtig, so Vassiliadis auf Nachfrage. Auf eine konkrete Zahl wollte er sich nicht festlegen. Er betonte aber auch: „600 Milliarden Euro bis 2030 halte ich für keinesfalls zu viel.“ Was das in der Folge hieße, und woher das Geld kommen soll, auch dazu blieb er unkonkret. Er sagte nur so viel: „Zukunftsinvestitionen müssen von der Schuldenbremse ausgenommen werden.“

Immerhin in einem Punkt geht es für die Gewerkschafter bergauf. Die IGBCE verzeichnete 2023 ein Rekordwachstum. Die Zahl der Neuzugänge stieg um elf Prozent gegenüber dem Vorjahr. Damit liegt die Gewerkschaft im Trend. Auch Verdi beispielsweise brüstet sich mit dem höchsten Zugang seit Gründung: 193.000 Arbeitnehmer traten der Dienstleistungsgewerkschaft bei.

Real allerdings schrumpft die Chemie-Gewerkschaft. Das zweistellige Wachstum kann die Verluste nicht ausgleichen. Demografiebedingt ist die Zahl der Mitglieder um 1,3 Prozent auf 573.200 zurückgegangen. Die Rückgänge seien zum größtenteils auf Rentner oder Todesfälle zurückzuführen. „Wir wachsen aber im Betrieb“, sagte Vassiliadis. Jeder Dritte in der Branche ist Gewerkschaftsmitglied.

Mit der letzten Tarifrunde zeigt man sich retrospektiv unzufrieden. „Die massiven Preissteigerungen wurden nicht ausgeglichen“, so Vassiliadis. „Die Inflationsausgleichsprämie ist inzwischen verpufft.“ Die zurückliegenden Tariferfolge seien aufgezehrt, was für Beschäftigte einen Reallohnverlust bedeute.

Im April steht die nächste Runde bevor. Auf Arbeitgeberseite dämpft man die Erwartungen bereits. „2024 steuert die Chemie auf eine Krisen-Tarifrunde zu“, so Klaus-Peter Stiller. „Es kann nicht darum gehen, Zuwächse zu verteilen, die nicht vorhanden sind.“

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