Die Ukraine braucht nichts mehr als Artilleriemunition. Eine Initiative Tschechiens gewinnt nun an Dynamik. Sie könnte tatsächlich eine Wende im russischen Angriffskrieg bringen. Die Herkunft der Granaten aber soll ein Rätsel bleiben – ganz bewusst.
Tschechiens Präsident Petr Pavel Reuters/Christophe Ena, Getty Images, picture alliance/Associated Press; Montage: Infografik WELT
Russland drängt die Ukraine an den Abgrund – aber Europa und die USA helfen nicht genug. Kiew braucht dringend Artilleriemunition, die jeweiligen Reserven an solchen Geschossen entscheiden in diesem Krieg über Sieg und Niederlage. Aber in Washington stecken neue Lieferungen im Kongress fest und die EU ist zu träge und uneins, um ihre Versprechen für frische Granaten einzuhalten.
Inzwischen ist eine Initiative eines Zehn-Millionen-Einwohner-Staats die größte Hoffnung des Westens: Tschechien könne bis zu 1,5 Millionen Artilleriegranaten beschaffen, sagte Außenminister Jan Lipavsky in einem Interview mit Bloomberg. „Wir können weit mehr besorgen als die Zahlen, die wir zu Beginn ins Auge gefasst haben.“
Im Rahmen des Plans, der seit Februar bekannt ist, hatte Tschechiens Präsident Petr Pavel bisher von 800.000 Geschossen gesprochen. Die Idee: Tschechien fahndet weltweit nach Artilleriemunition. Die europäischen Staaten finanzieren den Kauf der Granaten, die dann an die Ukraine geliefert werden.
Berichten zufolge unterstützen bisher mindestens 18 Staaten die Initiative, außer Kanada sind es ausschließlich europäische Länder, auch Deutschland ist dabei. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte zuletzt erklärt, Deutschland übernehme die Finanzierung von 180.000 Artilleriegranaten. Die Kosten der deutschen Tranche beziffert die Bundesregierung bisher auf einen dreistelligen Millionenbetrag, ohne eine genaue Summe zu nennen.
Aus lettischen Regierungskreisen hieß es am Mittwoch, dass das baltische Land 2000 Granaten im Wert von sieben Millionen Euro finanzieren werde. Dies entspräche einem Preis von 3500 Euro pro Geschoss. Nach den bisherigen tschechischen Erklärungen würde eine Granate allerdings im Schnitt nur einen Preis von 1800 Euro haben. Bei einem Preis von 1800 Euro beliefe sich der Gesamtwert der Initiative auf 2,7 Milliarden Euro. Bei einem Preis pro Geschoss von 3500 Euro wären es 5,3 Milliarden Euro.
„Von allen Kontinenten“
Das am sorgsamsten gehütete Geheimnis ist die Herkunft der Geschosse. Von an der Initiative beteiligten Staaten heißt es, die Lieferländer wollten sich nicht als Unterstützer der Ukraine zeigen. Sie seien aber durchaus bereit, Granaten zu verkaufen, wenn dies nicht öffentlich werde. Aus den lettischen Regierungskreisen verlautete lediglich, als Lieferländer kämen die Türkei und Indien infrage.
Dass seinen Informationen zufolge Indien unter den Lieferländern sei, bestätigte der im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg gut informierte italienische Militärblogger Thomas C. Theiner gegenüber WELT. Außerdem nannte Theiner Ägypten, Thailand, Vietnam und Argentinien als mutmaßliche Lieferländer. Aus Tschechien habe er gehört, dass es sich um „Munition von allen Kontinenten“ handeln solle. Experten brachten zudem Länder, die über große Bestände alter Sowjet-Munition verfügen ins Spiel, darunter Albanien und Bosnien-Herzegowina sowie Aserbaidschan und Ägypten.
In fast allen Fällen handelt es sich um Staaten, die sich im Ukraine-Krieg zwischen dem Westen und dem russisch-chinesischen Block positionieren – und ihre geostrategische Machtposition durch eine Schaukelpolitik zwischen beiden Polen ausbauen wollen. Für die Türkei als Lieferland spricht auch, dass sie zuletzt die Produktion von Artilleriemunition mit dem Nato-Standard von 155 Millimetern hochgefahren hat, die das Gros der Tschechien-Initiative bilden dürfte.
Südafrika wiederum hat die größte Waffenindustrie in Afrika, auch der deutsche Hersteller Rheinmetall ist dort mit einem Joint Venture vertreten. Allerdings erscheinen südafrikanische Lieferungen weniger wahrscheinlich. Im vergangenen Jahr hatte die von der Kreml-nahen ANC-Partei dominierte Regierung bereits Exporte an Polen blockiert.
Wahrscheinlicher ist eine Beteiligung Indiens, das sich konsequent zwischen den beiden Seiten des Ukraine-Kriegs positioniert. Oder auch aus Südkorea, das ohnehin fest in den westlich-proukrainischen Block gehört. Seoul hatte schon vergangenes Jahr mit den USA zusammengearbeitet, um 300.000 Granaten an die Ukraine zu schicken.
Südkorea will mit der Unterstützung auch die nordkoreanischen Lieferungen an Russland kontern. Schon Anfang Februar hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell angedeutet, dass Südkorea ein Lieferant für die dringend benötigten Granaten sein könnte.
Wobei Borrell und die Europäische Union (EU) in der tschechischen Initiative keine Rolle spielen. Prag hat das Projekt vielmehr gestartet, um das Versagen der EU-Länder bei der Munitions-Beschaffung zu korrigieren. Die Europäische Union hatte Anfang 2023 versprochen, bis Ende März 2024 eine Million Artilleriegranaten an die Ukraine zu schicken. Der symbolträchtige Vorstoß sollte auch zeigen, dass Europa in Verteidigungsfragen handlungsfähig und relevant ist.
Inzwischen aber ist der Stichtag erreicht – und die Mitgliedsländer haben gerade einmal die Hälfte der versprochenen Geschosse für die Ukraine bereitgestellt. „Es wäre auch jetzt wieder besser, wenn es europäisches Geld wäre und wenn es eine europäische Initiative wäre“, heißt es aus den lettischen Regierungskreisen. „Aber wenn es die EU nicht tun kann, dann ist es gut, dass die Tschechen es tun.“
Zunächst pochte bei der EU-Initiative Frankreich darauf, dass die Munition nur in Europa gekauft werden müsse. Dann dauerte es, bis Rahmenverträge mit Rüstungsfirmen geschlossen waren. Als diese vorlagen, distanzierten sich mehrere EU-Staaten von dem Projekt. Hinter dem Zögern steckten auch eigene Interessen. Denn die Munitionsbestellungen der Initiative gingen vollständig an die Ukraine. Manche Regierungschefs wollten jedoch auch die knappen eigenen Bestände füllen.
Tschechiens Präsident Petr Pavel (l.), hier mit Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron Anfang März in Prag REUTERS / David W Cerny
Tschechien hatte das Schauspiel satt und schickte drei hohe Regierungsbeamte um die Welt, um in Staaten außerhalb der Europäischen Union neue Munition aufzutreiben. Es sollte eine absolute Geheimoperation werden. Aber dann besuchte der tschechische Präsident Petr Pavel die Münchener Sicherheitskonferenz.
Dort war die Stimmung so deprimiert und der Glaube an einen erfolgreichen ukrainischen Widerstand so gering, dass sich der Staatschef spontan entschloss, die Initiative seines Landes öffentlich zu machen, um ein Signal zu setzen, dass die Wende im Krieg doch noch möglich sein würde.
Globale Netzwerke
Als langjähriger Vorsitzender des Nato-Militärkomitees – in dem alle Streitkräftechefs versammelt sind – verfügt Pavel über ausgezeichnete Kontakte. Zudem dürfte Tschechien noch sowjetische Bestände in seinen Lagern haben. Auch half nach Recherchen des tschechischen Magazins „Respekt“ die heimische Rüstungsindustrie, die globale Netzwerke hat.
Der Waffenhersteller CSG (Czechoslovak Group) fuhr seine Produktion drastisch hoch. Laut eigenen Angaben entfallen auf die Firma etwa ein Viertel der europäischen Kapazitäten zur Produktion von Artilleriegranaten des 155-Millimeter-Kalibers.
Aktuell hat Russland bei der Munition einen Vorteil von etwa fünf zu eins. 1,5 Millionen zusätzliche Granaten für die Ukraine könnte die Dynamik auf dem Schlachtfeld ändern. Der britische Geostrategie-Thinktank RUSI schätzt, dass Russland dieses Jahr rund vier Millionen neue Geschosse erhalten wird, schätzungsweise etwa die Hälfte aus Nordkorea.
„Unsere Initiative hilft der Ukraine schon jetzt“, sagte der tschechische Außenminister Lipavsky im Interview mit Bloomberg. „Weil sie wissen, dass es Nachschub an Munition geben wird, hat das ihre Perspektive auf die Nutzung der aktuellen Bestände verändert.“ Die ersten Granaten sollen die Ukraine nach tschechischen Angaben im Juni erreichen.
Allerdings hängt auch hier wieder vieles an Details. „Es gibt einige Dinge, die alles verändern könnten“, heißt es aus den lettischen Regierungskreisen. So gebe es in manchen Ländern eine sehr umfangreiche Bürokratie beim Export von Waffen. „Das könnte einige Zeit in Anspruch nehmen, was bedeutet, dass manche Granaten nicht binnen Wochen, sondern binnen Monaten ankommen werden.“
Die wichtigste Frage aber ist: Sind die europäischen Staaten bereit, für den Kauf der Granaten zu bezahlen? Die Munition für eine Wende auf dem Kriegsschauplatz ist da. Nun kommt es zum Schwur, ob die Verbündeten im Ernstfall alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um die Ukraine zu retten.
Mitarbeit: Carolina Drüten, Alfred Hackensberger, Christina zur Nedden, Christian Putsch, Gregor Schwung
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