Diskussion um Schulnoten - „Gefährliche Krabben-Mentalität“: Wie wir Schüler bewerten sollten

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Mobbing wird zu einem immer größeren Problem an vielen Schulen imago images/photothek

Die Abschaffung von Schulnoten wird wieder heiß diskutiert. Psychologe Florian Becker warnt im Gastbeitrag vor einer gefährlichen „Krabben-Mentalität“, die ernste Folgen für die Gesellschaft hat – und schlägt vor, wie man Schüler stattdessen bewerten sollte.

Sozialingenieure basteln am Schulsystem – und an den Kindern. Eben geht es durch die Medien: Die Anzahl der Fehler in Deutschaufsätzen soll nicht mehr direkt in die Notengebung einfließen. Stattdessen soll es eine „qualitative Rückmeldung“ an die Schüler geben. Da werde ich hellhörig. Qualitativ bedeutet letztlich einen frei formulierten Text oder Textbausteine statt einer klaren Note oder Kennzahl. Und warum eigentlich „stattdessen“ und nicht „sowohl als auch“? Jetzt wäre diese Maßnahme allein nicht dramatisch, wenn es nicht seit Jahren einen ganzen Trend in diese Richtung gäbe. Harte Standards, klare Messung und ehrliche Rückmeldung werden systematisch abgeschafft. Das fängt an bei den Bundesjugendspielen in den Grundschulen, geht über Hausaufgaben und zieht sich bis zur Notengebung durch.

Der Angriff auf die Bundesjugendspiele

Was bei den Noten noch in Arbeit ist, hat man bei den Bundesjugendspielen in den Grundschulen bereits umgesetzt. Echter Wettbewerb und klare Bewertungen nach Tabellen wurden abgeschafft, Stoppuhr und Maßband verdrängt. Mitunter zählt nur noch, dass eine Aufgabe „gemacht“ wurde – egal wie. Alle sollen jetzt immer super sein. Der Grund: Eltern hatten Druck gemacht. Ihre große Sorge: Wenn Kinder nicht zu den besten im Sport gehören, dann würden sie beschämt, ja sogar traumatisiert.

Excuse me: Wenn mein Kind durch eine schlechte Leistung im Sport „traumatisiert“ wird, dann gibt es gröbste Defizite bei der Resilienz . Die Lösung sollte dann doch nicht sein, die Spiele für alle anderen zu verzerren und jedem mittelmäßigen Schüler eine Spitzenurkunde zu geben, damit es bloß keine Tränen gibt. Stattdessen sollte sich unsere Gesellschaft fragen: Was läuft falsch mit vielen Kindern, wenn sie immer nur gewinnen müssen, um nicht traumatisiert zu werden?

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Das Wort «Mathematik» ist auf einem Zeugnis zu lesen. picture alliance/Sebastian Gollnow/dpa/Illustration

Krabben-Mentalität bei den Hausaufgaben

Eine weitere Front in diesem Feldzug gegen Leistungsstandards sind die Hausaufgaben. „Hausaufgaben verschärfen die Chancenungleichheit!“ lässt sich das Narrativ dort zusammenfassen. Tatsächlich profitieren Kinder aus sozioökonomisch besser gestellten Familien mehr von Hausaufgaben.

Doch was bedeutet der Wunsch Hausaufgaben abzuschaffen? Etwas soll weg, weil manche davon mehr profitieren als andere. Bedeutet konkret: Lieber profitiert niemand , als dass jemand etwas mehr als andere profitieren könnte. PUSH – Interview mit Carsten Stahl – Präventions-Experte mit Klartext: Schulen lügen bei Gewalt – aus Angst vor der Politik

Dieses traurige Mindset nennt man Krabben-Mentalität . Der Begriff ist abgeleitet von Anekdoten über Krabben, die in einem Eimer gefangen sind. Immer wenn eine Krabbe versucht an der Wand hochzuklettern, dann ziehen die anderen Krabben sie wieder hinab – und sichern das kollektive Verderben.

Das verdrehte Narrativ dahinter lautet: „Wo es erfolgreiche Kinder gibt, da gibt es eben auch weniger erfolgreiche. Das ist dann nicht schön für diejenigen, die nicht so erfolgreich sind. Deshalb sollte niemand erfolgreicher als alle anderen sein dürfen! Dann ist es gerecht.“

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Diplom-Psychologe Florian Becker privat

Schulnoten unter Druck

Eine immer stärkere Lobby hetzt geradezu gegen Schulnoten. Manche Lehrerverbände fordern beispielsweise, Noten ganz abzuschaffen, in einigen Grundschulen laufen Versuche dahingehend. Das Motto: „Wir müssen künftig die Prozesse beurteilen und nicht das Ergebnis.“

Man stelle sich vor, ein Arzt würde in ähnlicher Weise sagen: „Zugegeben, wir haben aus Versehen das falsche Organ operiert – aber gucken Sie auf den Prozess: die tolle Umsetzung, die perfekten Schnitte, die erstklassige Wundversorgung!“ Oder der Vertriebsmann berichtet uns: „Ja, ich habe keinen Umsatz gemacht – aber ich habe viel telefoniert und bin im Monat 4000 km mit dem Dienstwagen gefahren!“ Das erinnert mich an Politiker, die nichts erreichen, aber uns erzählen, wie wenig sie schlafen und die viele Fotos von sich machen.

Als Professor frage ich mich: Sollen wir an den Hochschulen jetzt Ingenieure, Ärzte, Psychologen etc. auf die Menschheit loslassen, weil sie in einer mündlichen Prüfung „viel geredet“ oder „sich lange vorbereitet“ haben oder die Bachelorarbeit „viele Schriftzeichen“ hat?

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Wenn es nach der Linken geht, sollen Noten und Hausaufgaben bald der Vergangenheit angehören Sebastian Gollnow/dpa

Das sind die Vorteile von Schulnoten

Daten aus Ländern, die Noten abgeschafft haben, etwa Schweden, sowie andere Studien sprechen für mich eine klare Sprache:

  • Kinder aus bildungsfernen Haushalten und Mädchen profitieren tendenziell besonders von Noten in der Grundschule. Sie merken so: „Hey, ich bin ja gar nicht so schlecht, wie ich dachte!“
  • Ohne Noten profitieren eher Kinder aus gebildeten Haushalten der Oberschicht.

    Sie können dann ggf. länger glauben: „Ich bin super! Hat Mama mir auch schon immer gesagt.“

  • Wer gut ist und gute Noten hat, wird dadurch zusätzlich motiviert. Noten können hier das Selbstbewusstsein stärken.
  • Wer leistungsschwach ist oder ein überzogenes Selbstkonzept hat, für den sind frühe Noten oft demotivierend.

Lernen, mit Misserfolgen umzugehen

Genau auf den letzten Punkt schießen sich einige der Gegner von Noten ein und sagen: „Noten können leistungsschwache Kinder zusätzlich demotivieren. Deshalb müssen die weg.“ Die anderen Aspekte lassen sie dabei gerne unter den Tisch fallen.

Ich finde: Wir können nicht alle anderen opfern , nur damit sich ein paar Egos und Leistungsschwache besser fühlen. Wichtig ist stattdessen, dass alle Kinder lernen, mit Misserfolg umzugehen , diesen als Ansporn verstehen. Kurz: Wenn jemand schlechte Leistungen zeigt und durch eine schlechte Note demotiviert wird, dann hat das Kind nicht gelernt, mit Misserfolg konstruktiv umzugehen. Dort ist anzusetzen – und nicht für alle anderen die Noten abzuschaffen. Schulleiter packt aus – „Der Lehrer denkt sich: Bevor ich Ärger mit der Familie kriege, gebe ich eine Vier“

Ist „qualitative Rückmeldung“ besser als Noten?

Im Kampf gegen ambitionierte Standards und klare Leistungsmessung suggerieren jetzt einige besonders schlaue Experten: Noten und differenziertes Feedback seien doch Alternativen – man müsse sich eben für eines von beiden entscheiden.

Unfug. Beides sollte stattfinden! Der Weg und das Ergebnis müssen zählen. Denn: Wenn das Ergebnis nicht stimmt, dann hilft uns der Weg nichts.

Das bedeutet: Kinder profitieren maximal von Noten und differenziertem Feedback zusätzlich! Entsprechendes zeigen Studien – und meine eigene Erfahrung. Ja, ich muss eine Note begründen können und zusätzlich differenziertes Feedback geben könne, wo das gewünscht ist. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die differenziertes Feedback schwer einordnen können. Sie nehmen beispielsweise selektiv nur das Gute wahr. Gerade da ist eine Note eine notwendige und maximal klare und reduzierte Zusammenfassung der Gesamtleistung.

Die Entwertung der Noten

Tatsächlich gibt es auch aus meiner Sicht ein Problem bei Schulnoten. Sie werden immer besser – obwohl die objektiven Leistungen der Kinder immer schlechter werden. Bessere Noten für schlechtere Leistung also. Hurra! Woran sieht man das? Immer mehr machen Abitur – und immer mehr haben eine Eins vor dem Komma. Bundesweit etwa 30 Prozent. Das Problem: Objektive Bildungsstudien zeigen gleichzeitig seit über zehn Jahren eine abnehmende Leistungsfähigkeit. Am bekanntesten ist die PISA-Studie, die in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft einen regelrechten Absturz der Leistungsfähigkeit dokumentiert. Andreas Schleicher – Pisa-Chef rechnet mit deutschen Lehrern ab: „Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis“

Meine Meinung dazu ist: Was sind gute Noten noch wert, wenn sie verschenkt werden? Statt Noten abzuschaffen, müssen sie dringend wieder mehr aufgewertet werden. Mit dem Verschenken muss Schluss sein. Wir sollten die Standards heben.

Der Preis für unsere Gesellschaft

Unsere Gesellschaft erträgt Unterschiede im Erfolg nicht mehr. Die ideologische Marschrichtung ist klar: Es soll nur noch „Gewinner“ geben, auch ohne Leistung. Dafür wurden sämtliche Standards gesenkt und Scheinerfolge geschaffen. Die Konsequenzen sind brutal für die Kinder – und brutal für unsere Zukunft:

  • Problem 1 : Weil viele junge Menschen niemals echtes Feedback bekommen haben, wissen sie kaum etwas über ihre wirklichen Stärken und Schwächen.
  • Problem 2 : Die Kompetenzen der jungen Menschen in so einem Umfeld wachsen kaum, da den Kindern jede Möglichkeit genommen wurde, aus echter Rückmeldung zu lernen.
  • Problem 3: Für jemanden, der permanent positives Feedback erhalten hat, ist Scheitern unbekannt – und eine riesige Bedrohung für das Ego. Das führt dazu, dass die Kinder sich unambitionierte „kleine“ Ziele aussuchen. Damit bleiben die Kinder auch selbst „klein“. Sie wachsen nicht an Herausforderungen, bleiben in ihrer Komfortzone.
  • Problem 4 : Aus diesen Kindern werden Jugendliche und schließlich Erwachsene, die kaum in soziale Gefüge integrierbar sind, in denen sich nicht alles um sie dreht und in denen sie jeden Tag als Heldin oder Held gefeiert werden.

Das Ergebnis ist eine Gesellschaft aus Low-Performern. Damit sind wir nicht zukunftsfähig . Philipp Schwarzenberg von der Sympathica Partnervermittlung – Eine gesunde Partnerschaft ist einer der wichtigsten Resilienzfaktoren in der Psychologie

Wir brauchen eine Wende im Mindset

Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren als Psychologe mit der Frage, was manche Menschen effektiv macht und völlig über sich hinauswachsen lässt. Während immer mehr andere schon am ganz normalen Alltag scheitern. Ich bin überzeugt: Mit der aktuellen Bildungsideologie werden wir international nicht bestehen.

Wir brauchen eine Wende im Mindset:

  • Kinder sollten wieder lernen, mit Misserfolg umzugehen , diesen als Ansporn sehen, als Chance zu lernen – statt als Bedrohung für ihr Ego. Wir brauchen eine sinnvolle Fehlerkultur, in der es o.k. ist mal zu scheitern – um daran zu wachsen.
  • Kinder in der Komfortzone zu lassen und zu unterfordern ist keine Liebe. Menschen wollen und sollen in die Wachstumszone . Wer nicht gefordert wird, immer in seiner Komfortzone bleibt, wächst nicht. Daher sollten wir die Standards wieder anheben – statt absenken. Dafür sind unsere weltweiten Wettbewerber zu gut und zu ambitioniert.
  • Unsere Gesellschaft sollte wieder lernen, Unterschiede im Erfolg zu begrüßen – statt zu bekämpfen und als Bedrohung zu sehen. Wir sind in einer Gesellschaft angekommen, die Erfolg bekämpft, weil es keinen Misserfolg mehr geben darf. Niemand soll mehr wachsen, erfolgreicher sein dürfen – so sind alle gleich. Sie schneiden allen anderen die „Beine“ ab, damit sich niemand mehr klein fühlt.

Eine Erfahrung, an die ich mich erinnere, als unsere Kinder noch im Kindergarten waren, bringt den traurigen Zustand auf den Punkt: Es gab ein Spendenkonto. Die Eltern konnten dort spenden, was viele auch gemacht haben. Davon wurde Spielzeug gekauft, Ausflüge bezahlt, Geräte erneuert etc. Doch plötzlich wurde das Konto geschlossen. Begründung der Kita: „Das geht nicht mehr. Die Stadt will nicht, dass manche Kitas mehr Geld haben als andere. Wir kaufen davon dann ja eine schönere Schaukel oder neue Bastelsachen. Das ist für die anderen dann traurig, die das nicht haben.“  So denken leider mittlerweile viele. Lasst uns dieses Denken ändern! Wir brauchen unsere Besten.

Im Juni erscheint Florian Beckers neues Buch „Positive Psychologie – Wege zu Erfolg, Resilienz und Glück“ – hier können Sie es vorbestellen .

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