VW-Abstimmung in Chattanooga: „Nicht mehr länger Menschen zweiter Klasse“

vw-abstimmung in chattanooga: „nicht mehr länger menschen zweiter klasse“

Weiße Fahrzeuge scheinen derzeit weniger gefragt: Volkswagen-Werk mit Stellflächen in Chattanooga

Zum Schlussspurt gab es ein Barbecue: An diesem Mittwoch beginnt eine möglicherweise wegweisende Abstimmung über einen Einzug der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) im Volkswagen-Werk in Chattanooga im US-Bundesstaat Tennessee. Als eine Art Einstimmung darauf fand am Sonntag in den Räumlichkeiten der Gewerkschaft in Chattanooga ein Grillfest statt. Victor Vaughn, ein Mitarbeiter des Werks, der zu den Anführern der UAW-Kampagne zählt, zeigt sich am Abend guter Dinge.

Viele Menschen seien gekommen, um ihre Solidarität zu bekunden, darunter Vertreter anderer Gewerkschaften und christlicher Organisationen aus Tennessee. Auch eine Delegation aus Deutsch­land sei da gewesen, angeführt von Dariusz Dabrowski, dem General­se­kretär des Europäischen und Weltkonzernbetriebsrats, der eine Rede gehalten habe. Vaughn ist siegesgewiss: „Wir werden unsere Gewerkschaft bekommen.“ Für den kommenden Sonntag, wenn das Wahlergebnis feststehen dürfte, habe die Gewerkschaft schon ein erstes Treffen angesetzt, um Details für künftige Tarifverhandlungen zu besprechen.

Bei der dreitägigen Abstimmung in Chattanooga steht enorm viel auf dem Spiel. Für die UAW soll Volkswagen (VW) ein Türöffner werden, um ihr Revier in der Autoindustrie auszuweiten, das sich bislang weitgehend auf die sogenannten Big Three beschränkt, auf General Motors, Ford und Stellantis . Die UAW hat eine breit angelegte Kampagne gestartet, um sich auch bei allen anderen größeren Herstellern zu etablieren, darunter sind die amerikanischen Niederlassungen von VW, Mercedes-Benz und BMW ebenso wie der vom notorisch gewerkschaftsfeindlichen Elon Musk geführte Elektroautospezialist Tesla.

Cavallo: „Ihr in Chattanooga fehlt uns in unseren Gremien“

VW wird nun der erste Testfall, und schon in wenigen Wochen könnte es auch im Mercedes-Werk im Bundesstaat Ala­bama zu einer Abstimmung kommen. Die UAW weiß bei diesen Vorstößen einen mächtigen Verbündeten im Weißen Haus auf ihrer Seite. Als die VW-Mitarbeiter kürzlich den Weg für ein Gewerkschaftsvotum ebneten, indem sie einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Ar­beitsbehörde National Labor Relations Board (NLRB) einreichten, hat ihnen US-Präsident Joe Biden ausdrücklich dazu gratuliert.

Am Stammsitz von VW in Wolfsburg wird die Wahl aufmerksam verfolgt. Chattanooga gilt als einziges der 114 VW-Werke rund um die Welt ohne Belegschaftsvertretung – ein Unding für Gewerkschafter im stark mitbestimmten Autokonzern. Daniela Cavallo, die mächtige Chefin des Konzernbetriebsrats, hatte sich schon im Januar in einem Brief an die Kollegen in Amerika gewandt. Darin wies sie Gerüchte zurück, dass VW weniger Autos in Chattanooga bauen könnte, wenn UAW gewinnt. Zu solchen Entscheidungen habe der Aufsichtsrat in Wolfsburg das letzte Wort, stellte sie klar. Dort sind die Arbeitnehmervertreter paritätisch vertreten und genießen dank VW-Gesetz sogar Sonderrechte, etwa wenn es um Neubau oder Schließung von Werken geht.

Am Wochenende legte Cavallo in einer Videobotschaft nach. In Wernigerode im Harz, wo sich die deutschen Arbeitnehmervertreter zur Klausurtagung getroffen hatten, unterstrich sie ihre Wahlempfehlung für die UAW. „Ihr in Chattanooga fehlt uns in unseren Gremien“, sagte sie: „Also bitte, nehmt euer Wahlrecht wahr, geht zur Wahl und stimmt dafür, dass ihr euch gewerkschaftlich organisiert! Wir drü­cken euch die Daumen!“ In dem gut zweiminütigen Video stellen sich mehr als 100 IG-Metall-Mitglieder im Hof eines Kongresszentrums auf und formen so die Buchstaben der UAW. Sie blicken entschlossen in die Kamera und skandieren „Your voice – your choice!“, ganz im Stil der Kampagnen amerikanischer Gewerkschaftsfunktionäre.

UAW tritt selbstbewusst auf

Für die UAW ist es der dritte Anlauf in Chattanooga. Schon 2014 und 2019 gab es in dem Werk Abstimmungen über einen Einzug der Gewerkschaft, in beiden Fällen sprach sich eine knappe Mehrheit dagegen aus. Dieses Mal gelten die Chancen der UAW als besser, denn sie geht mit Rückenwind in die Wahlen, wie sie ihn bei ihren ersten Versuchen nicht hatte.

Sie kann auf beachtliche Erfolge in ihren jüngsten Tarifverhandlungen im vergangenen Herbst mit GM, Ford und Stellantis verweisen, in denen sie mit harten Bandagen gekämpft hatte. Sie bestreikte die drei Hersteller sechs Wochen lang, am Ende rang sie ihnen Lohnerhöhungen von 25 Prozent über einen Zeitraum von vier Jahren ab. UAW-Präsident Shawn Fain sagte hinterher stolz, er habe „jede letzte Zehncentmünze herausgepresst“, und machte umgehend klar, nun endlich auch bei anderen Herstellern einen Fuß in die Tür bekommen zu wollen. Die nächsten Tarifgespräche wolle er nicht mehr nur mit den „großen Drei“, sondern den „großen Fünf oder „großen Sechs“ führen.

Um das zu schaffen, will die UAW erhebliche Ressourcen mobilisieren. Sie hat angekündigt, in den kommenden beiden Jahren insgesamt 40 Millionen Dollar in ih­re Kampagnen zu investieren. Und sie versucht, die Mitarbeiter anderer Her­steller mit Rechenbeispielen zu locken. Wer heute bei VW anfange, verdiene 23,40 Dollar in der Stunde und werde es in vier Jahren auf 32,40 Dollar bringen, bei Mercedes-Benz werde es im gleichen Zeitraum von 23,50 auf 27,50 Dollar gehen. Ford-Mitarbeiter würden dagegen wegen des neuen Tarifvertrags einen Sprung von 25,12 auf 42,59 Dollar machen, GM-Beschäftigte von 25,53 auf 42,94 Dollar.

VW hat Erfahrung mit der UAW

„Wir wollen uns nicht mehr länger wie Menschen zweiter Klasse fühlen,“ sagt VW-Mitarbeiter Vaughn. Er meint, die Ausgangslage sei diesmal besser als bei den vergangenen beiden Abstimmungen. Die Mitarbeiter in Chattanooga habe es beeindruckt, was die UAW in den Tarifgesprächen mit den „großen Drei“ herausgeholt habe. Und VW habe viele der Sorgen in der Belegschaft in den vergangenen Jahren nicht ernst genug genommen, zum Beispiel mit Blick auf Sicherheit. Vaughn gibt aber zu, dass manche seiner Kollegen gegen die UAW seien, zum Beispiel weil sie an „Mythen“ glaubten, dass die Fabrik schließen könnte, wenn die Gewerkschaft einmal drin sei.

VW ist der einzige deutsche Hersteller, der Erfahrung mit der UAW hat. Das Un­ternehmen hatte vor Jahrzehnten ein Werk im Bundesstaat Pennsylvania, in dem die Gewerkschaft vertreten war. Es nahm 1978 die Produktion auf, wurde aber schon nach rund zehn Jahren inmitten hoher Verluste wieder geschlossen. Manche machten die UAW mitverantwortlich dafür. 2011 wurde das Werk in Chattanooga eröffnet – dieses Mal ohne gewerkschaft­liche Präsenz, genauso wie bei Mercedes-Benz und BMW, die in den Neunzigerjahren Produktionsstätten in den USA in Betrieb genommen hatten.

Alle drei deut­schen Hersteller haben sich in südlichen Bundesstaaten niedergelassen, in denen Ge­werkschaften traditionell einen sehr schweren Stand haben und von vielen Po­litikern angefeindet werden. Inmitten der ersten Kampagne bei VW 2014 drohten Lokalpolitiker, dem Unternehmen künftig keine Subventionen mehr zu geben, falls die UAW Einzug halte. An dieser Abneigung hat sich nichts geändert. Bill Lee, Gouverneur von Tennessee, bezog vor wenigen Tagen Position gegen die UAW und sagte, VW-Mitarbeiter „riskieren ihre Zukunft“, wenn sie für eine gewerkschaft­liche Vertretung stimmen. Kay Ivey, Gouverneurin von Alabama, nannte die UAW mit Blick auf die Kampagne bei Mercedes eine „Bedrohung“.

Streit mit Mercedes

Für das VW-Management und die Betriebsräte am Stammsitz ist das Thema vorbelastet. Schon die missglückte erste Wahl 2014 hatte für Reibung gesorgt. Als 2019 auch der zweite Anlauf missriet, gab der damalige Betriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh der ameri­kanischen Werksleitung eine Mitschuld. „Das Management hat es einfach nicht im Griff gehabt, in Chattanooga die nötige Neutralität für eine faire Wahl zu gewährleisten“, polterte er.

Manche glauben, dass das Verhältnis zwischen dem langjährigen Chef der IG Metall, Jörg Hofmann, und dem damaligen VW-Chef Herbert Diess auch wegen der Ereignisse in Chattanooga schon früh Schaden genommen hat. Später standen sich Hofmann, bis heute stellvertretender Aufsichtsratschef von VW, und Diess regelrecht feindselig gegenüber. Nach langem Streit über einen Stellen­abbau in Deutschland musste Diess im Sommer 2022 seinen Posten räumen.

VW und Mercedes schlagen zumindest nach außen hin deutlich freundlichere Töne an als etwa die Lokalpolitiker und geben sich neutral. Sie sagen, sie respektierten das Recht ihrer Beschäftigten, selbst darüber zu entscheiden, wer sie vertrete. Doch vieles deutet darauf hin, dass es ihnen lieber wäre, die UAW fernhalten zu können. Im Januar tauchten auf einer offiziellen amerikanischen Website von VW Äußerungen auf, die den Mehrwert einer gewerkschaftlichen Vertretung infrage stellten. Die Aussagen verschwanden schnell wieder aus dem Netz.

Hinter vorgehaltener Hand machen auch in Wolfsburg manche Konzernvertreter deutlich, dass sie die US-Gewerkschaft mit gemischten Gefühlen sehen. Mit der deutschen Mitbestimmung, in der die Arbeitnehmervertreter gemeinsam mit dem Management Kompromisse im Sinne des Unternehmens aushandeln sollen, sei die amerikanische Interessenvertretung nicht vergleichbar, sagt ein Manager. Die „Hauptloyalität“ der UAW gelte eigenen Interessen und nicht dem Unternehmen.

Die Gewerkschaft wirft VW und Mercedes derweil sogar vor, illegale Methoden einzusetzen, und hat Beschwerden gegen sie bei der US-Arbeitsbehörde eingereicht. Im Fall von Mercedes-Benz geht sie sogar in Deutschland auf Konfrontationskurs. Die Gewerkschaft hat eine Beschwerde beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle angemeldet. Sie reklamiert einen Verstoß gegen ein neues Lieferkettengesetz, das Un­ternehmen zur Wahrung von Menschenrechten verpflichtet, worunter freie Gewerkschaftsbildung gezählt werde.

Informationsmaterial aus Pausenraum verschwunden?

Die UAW sagt zum Beispiel, Michael Göbel, USA-Chef von Mercedes-Benz, habe auf einer Pflichtveranstaltung für Mitarbeiter im Februar und in einem Brief an die Belegschaft im Januar Stimmung ge­gen die Gewerkschaft gemacht. Auch VW habe auf Mitarbeiterversammlungen ge­gen die Gewerkschaft argumentiert und außerdem Informationsmaterial der UAW in Pausenräumen „konfisziert und zerstört“.

Mitarbeiter Vaughn erzählt, ihm sei das erst vor wenigen Tagen passiert. Gewerkschaftsmaterial, das um sechs Uhr morgens im Pausenraum ausgelegt worden sei, sei um zehn Uhr verschwunden gewesen. Die Unternehmen weisen die Vorwürfe zurück. Zur angeblichen Entfernung von Informationsmaterial sagt VW, Pausenräume würden nun einmal standardmäßig jeden Tag gereinigt, und dazu gehöre es, „un­benutzte und unbeaufsichtigte Gegenstände auf Tischen“ zu entsorgen.

So selbstbewusst sich die UAW in diesen Tagen geben mag: Sie ist weiter auf Schrumpfkurs. Im vergangenen Jahr sank die Zahl ihrer Mitglieder trotz der erfolgreichen Tarifrunde mit den „großen Drei“ um 3 Prozent auf 370.000. Auf dem Höhepunkt 1979 waren es einmal 1,5 Millionen. „Wir sind uns im Klaren, dass unsere Gewerkschaft und viele unserer Industrien seit Jahren in die falsche Richtung gehen,“ gab die UAW mit Blick auf den Mitgliederschwund zu. Gerade deshalb habe sie das „historische“ Vorhaben angestoßen, auch den Rest der Autoindustrie gewerkschaftlich zu organisieren.

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