Ukraine-Expertin Melnyk: Die Russen kennen die Deutschen weitaus besser als andersherum

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Ist die Ukraine bereit, Territorium für einen Frieden aufzugeben? Das fragten wir die Ukraine-Expertin Ljudmyla Melnyk.

Die kriegsgebeutelte Ukraine kämpft an vielen Fronten: Im Osten und Süden des Landes steht man russischen Truppen gegenüber; das Momentum hat derzeit Moskau auf seiner Seite; auf die amerikanischen Waffenhilfen warten die Ukrainer noch. Aber auch innenpolitisch rumort es in Kiew. So sorgt ein überraschend verkündeter Ausgabestopp von Reisepässen für Diaspora-Ukrainer für massive Gegenwehr in den europäischen Hauptstädten.

Um die komplexe Lage einordnen zu können, haben wir mit Ljudmyla Melnyk gesprochen, Wissenschaftlerin am Institut für Europäische Politik. Die Wahl-Berlinerin konzipiert Treffen zwischen Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft und Entscheidungsträgern in Berlin und Brüssel. Melnyk, die mit dem ehemaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland weder verwandt noch verschwägert ist, spricht seit dem russischen Angriffskrieg häufig in Talkshows, zum Beispiel bei Anne Will oder Markus Lanz.

Frau Melnyk, wie bewerten Sie die Stimmung in der Ukraine nach über zwei Jahren Krieg?

Mit Blick auf das jüngste amerikanische Unterstützungspaket denke ich, dass eine Art Optimismus hervorgerufen wurde – verknüpft mit dem Ziel, dass die Militärhilfen einen entsprechenden Effekt in der Verteidigung erreichen. Andererseits macht sich aber auch Kriegsmüdigkeit breit: Erstens rechnete man in der Ukraine nicht damit, dass Russland zum Ziel hat, den ukrainischen Staat völlig zu zerstören und dass seine Strategie dementsprechend längerfristig ausgelegt wird. Und zweitens dachte man, dass die Unterstützung des Westens schneller vonstattengeht – ohne all die bürokratischen Prozesse.

Wie erklären Sie die Kriegsmüdigkeit innerhalb der ukrainischen Gesellschaft?

Die Ukraine ist seit über zwei Jahren täglichen russischen Angriffen ausgesetzt. Der Tag beginnt mit Nachrichten über den Krieg und endet mit der Überprüfung, wohin Raketen oder Drohnen fliegen. Darüber hinaus wird jedem deutlich, dass der Westen nicht alles unternimmt, um die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor effektiv zu unterstützen. Zudem haben 70 Prozent der Bevölkerung ihre Verwandten oder Bekannte in der Armee, ganz zu schweigen von den Menschen, die bereits Angehörige in diesem Krieg verloren haben. Außerdem versteht man heute, dass Russland in der Ukraine nicht haltmachen wird. Die jüngsten systematischen Raketenbeschüsse auf den größten Erdgasspeicher Europas in der Region Lwiw, wo auch EU-Staaten ihr Gas lagern, verdeutlichen, dass Russland darauf abzielt, Europa zu destabilisieren. Man ist somit im Zustand einer permanenten Bedrohung und Ungewissheit. Das macht müde.

Während der ersten Kriegsmonate hofften viele Ukrainer, der Krieg dauere maximal ein bis zwei Jahre. Später nannte man 2025 oder 2026 als realistisches Ziel für ein Ende des Krieges. Lassen sich solche Zukunftsszenarien überhaupt noch beziffern?

Darüber spricht man in der Ukraine gerade nicht. Es geht vielmehr darum: Was bedeutet ein Sieg für uns? Da geht es nicht einfach um die Frage der Rückeroberung von Territorien oder wer „gewonnen“ und wer „verloren“ hat. Der Ukraine geht es darum, einen Zustand zu erreichen, der besser war als vor Februar 2022 und der bedeutet, dass von Russland keine Gefahr für die Existenz der Ukraine ausgeht. Und ich bin mir nicht so sicher, ob das bei den westlichen Partnern angekommen ist. Der Ukraine ist die Perspektive nach dauerhaftem Frieden auch für künftige Generationen sehr wichtig: Das bedeutet aber, dass von Moskau aus keine Gefahr mehr bestehen darf.

Schüren die amerikanischen Waffenhilfen vermehrt Hoffnungen in der Ukraine, besetztes Territorium wieder zu befreien, vielleicht sogar die russischen Truppen gänzlich aus der Ukraine zu verdrängen?

Die gelieferte Munition und Waffensysteme sind für die ukrainischen Streitkräfte enorm wichtig. Mit den Atacms-Raketen kann man zudem die kritische Infrastruktur in Russland erreichen. Wir sollen uns aber nichts vormachen, als ob dieses Paket entscheidend wäre: Weitere Militärhilfen müssen kommen und rechtzeitig geplant werden.

Während die amerikanischen Waffenhilfen fast schon umjubelt wurden, ist der Ruf Deutschlands in der Ukraine differenziert. Wie wird die Unterstützung durch die Bundesregierung dort bewertet?

Die Einstellungen gegenüber Deutschland haben sich massiv verändert. Am Anfang hagelte es viel Kritik. Stichwort Schutzhelme. Aber was ich nun aus dem Expertenkreis in der Ukraine wahrnehme, ist große Dankbarkeit gegenüber Deutschland, was man in den vergangenen zwei Jahren alles finanziell, humanitär und militärisch geleistet hat. Zeitgleich wissen alle in der Ukraine, dass Deutschland viel, viel mehr machen könnte, und man hofft, dass auch mit Blick auf die Wahlen in den USA Berlin hier eine Führungsrolle einnimmt. Bis heute ist das allerdings nicht geschehen.

Könnten Sie das ausführen?

Die Bundesrepublik ist kein kleines Land. Dennoch hat man das Gefühl, dass Deutschland die eigene Rolle in der Welt nicht so richtig definieren will, sich weiterhin hinter einer wirtschaftlichen Rolle verbirgt, statt eigene geopolitische Verantwortung zu übernehmen. Die Erwartungen sind hoch und Deutschland hat keine andere Wahl, als seine Rolle zu überdenken, um neuen Herausforderungen, die wir in Europa mit Blick auf den russischen Aggressor haben, gerecht zu werden. Deutschland ist immens wichtig für den Zusammenhalt in Europa und dessen muss man sich bewusst sein.

In der ukrainischen Gesellschaft, aber auch im politischen Kiew, soll es in den Hinterzimmern erste Gespräche darüber geben, wozu die Ukraine bereit wäre, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Wird es darauf hinauslaufen, dass die Ukraine am Ende Territorium verlieren wird?

Ich kann mir vorstellen, dass verschiedenste Szenarien und Optionen diskutiert werden. Aber die freiwillige Abgabe von ukrainischem Territorium ist politisch derzeit nicht tragbar. Die ukrainische Bevölkerung unterstützt so etwas nicht. Man hat bereits einen zu hohen Preis bezahlt. Wenn auch nur ein Politiker das Abtreten von Gebieten öffentlich kommunizieren würde, wäre das politischer Selbstmord.

Ein weiteres Thema, das die ukrainische Innenpolitik prägt: Eigentlich hätten im Frühjahr Wahlen stattfinden sollen. Da in der Ukraine allerdings das Kriegsrecht herrscht, wurden die Wahlen auf unbestimmte Zeit verlegt. Wie schauen Sie auf die Wahldebatte?

Das ist zum Lieblingsthema der russischen Propaganda geworden. Dabei geht es um die Delegitimierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj. In klassischen wie auch in sozialen Medien wurde das Thema bewusst aufgebauscht. Denn in der Ukraine selbst ist das ein absolutes Null-Thema. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat sich vehement gegen Wahlen ausgesprochen; es gibt parteiübergreifendes Verständnis, dass das Durchführen von Wahlen die Ukraine derzeit nicht weiterbringt. Außerdem sind so viele Fragen ungeklärt: Wie sollen die Menschen in besetzten Gebieten wählen oder die Soldaten, die im Gefecht sind? Wie kann man Wahlen unter Raketenbeschuss durchführen? Wie schafft man Möglichkeiten für Flüchtlinge, an den Wahlen teilzunehmen?

ukraine-expertin melnyk: die russen kennen die deutschen weitaus besser als andersherum

Auch innerhalb der Ukraine könnten russische Narrative immer wieder Fuß fassen, sagt die Expertin Melnyk.

Sie arbeiten schon lange in Deutschland und kennen den deutschen Diskurs über die Ukraine sehr gut: Sind wir hier in Deutschland besonders anfällig für russische Narrative? Oder haben die Russen ihre Strategien um die Deutungshoheit weltweit perfektioniert?

Russland ist perfide gut im Bereich der Desinformation. Sie haben es nämlich verstanden, dass die Desinformationsnarrative in einen interkulturellen Kontext integriert werden müssen. Ich habe das Gefühl, dass die Russen die Deutschen weitaus besser kennen als andersherum. Die Ängste hierzulande, wenn die ökonomische Stabilität angekratzt wird oder das Zögern bei den unzähligen Waffen-Debatten: Das erkennt man in Russland sehr schnell und sorgt mit gezielten Kampagnen für innenpolitische Spaltung in Deutschland. Der Kreml weiß auch, dass man durch die öffentliche Meinung hierzulande die Politik beeinflussen kann. Und deshalb ist die öffentliche Meinung in Deutschland eine zentrale Zielscheibe russischer Desinformationsstrategien. Gleichzeitig baut Russland eine alternative Realität auf, die die nächsten Generationen prägen wird. Wir sollten uns dessen bewusst sein und unseren demokratischen Diskurs sowie unsere Deutungshoheit stärken.

Wie groß ist denn der Einfluss Russlands innerhalb der Ukraine?

Auch dort sind russische Bots hochaktiv. Da geht es um die Schwächung der Position Selenskyjs oder wie schon erwähnt um die Delegitimierung der gesamten ukrainischen Regierung. Außerdem wird vor allem innerhalb der Ukraine das Narrativ gepusht, dass Russland unbesiegbar sei. Russland versucht so, im Informationsraum zu zeigen, dass es sich nicht lohne, in die Armee, in die Verteidigung der Ukraine zu investieren. Außerdem werden innenpolitische Themen ausgenutzt, wie die Kluft zwischen Reichen und Armen und deren Rolle in der Verteidigung der Ukraine.

Sie sprechen und verstehen Russisch. Was macht das mit Ihnen, wenn ein Wladimir Solowjow oder andere aus dem russischen Staatsfernsehen die Ukrainer als „Untermenschen“ bezeichnen?

Eine Bekannte sagte zu Beginn der Vollinvasion zu mir: „Ljudmyla, jetzt sind wir alle zur Zielscheibe Russlands geworden.“ Und die Sprache war jahrelang ein Vorbote dieses Hasses und genozidalen Charakters. Ich finde es erschreckend, dass man diese Sprache ein Jahrzehnt lang im Westen ignoriert hat. Denn uns Ukrainern war klar – mit Blick auf die Berichterstattung im russischen Staats-TV und Äußerungen politischer Vertreter –, dass Russland niemals auf die Ukraine verzichten wird. Russland wird alles tun, um die Ukraine zurück ins Imperium zu holen. Das sind nicht Zitate aus den vergangenen Wochen; das war schon 2014 so.

Sie veröffentlichten in den vergangenen zwei Jahren auch immer wieder Hassnachrichten, die an Sie gerichtet waren. Warum sind Sie zum Ziel solcher Attacken geworden?

Ich denke, diese Hassattacken betreffen nicht mich persönlich, sondern alle, die sich für die Unterstützung der Ukraine positionieren. Zweitens denke ich, dass solche Hasskampagnen immer mit „großen“ Momenten der Ukrainepolitik abgestimmt sind: ob jetzt das Waffenpaket aus den USA oder während der Taurus-Debatte in Deutschland. Wenn ich über den Sieg der Ukraine schreibe, bekomme ich automatisch mehr Kommentare als sonst. Oftmals fordern die User dann, dass ich an die Front soll, oder man fragt, wo meine Söhne gerade seien.

Ein weiteres Thema, das für Aufruhr sorgt: Auslands-Ukrainer sollen in diplomatischen Vertretungen keine Pässe mehr ausgehändigt bekommen – so sollen Männer dazu bewegt werden, in die Ukraine zurückzukehren. Wird das die Probleme lösen?

Ich sehe das sehr kritisch, was die Ukraine beschlossen hat. Die Entscheidung bestätigt, dass man in Kiew die Potentiale der Diaspora-Ukrainer nicht erkennt und alle Menschen in einen Topf wirft. Jahrelang gab es keine Ressourcen – und ich glaube auch kein Verständnis dafür –, welche Rolle die ukrainische Diaspora spielen könnte und wie man sie am besten für die eigenen Interessen einbezieht. Was ist mit den ukrainischen Männern, die seit über zehn-fünfzehn Jahren in Deutschland leben, die ihren Lebensmittelpunkt hier in Berlin und nicht mehr in der Ukraine haben? Das ist eher eine emotionale Entscheidung, um den Durst nach Gerechtigkeit, den jetzt die ukrainische Gesellschaft verspürt, zu stillen. Das wird die Ukraine aber nicht voranbringen. Gut ist, dass diese Entscheidung nicht passiv konsumiert wird, sondern in der Ukraine selbst zu einer breiten Diskussion führt. Daher habe ich noch die Hoffnung, dass die ukrainische Regierung ihre Entscheidung überdenken wird.

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