Soldaten auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz
Hinterher ist man immer schlauer. Das mögen sich momentan diejenigen sagen, die 2011 lautstark für das Ende der Wehr- und Dienstpflicht gestimmt haben. Schon damals war die Aussetzung umstritten. Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichnete die Entscheidung als einen Schritt, der auch ihm „persönlich schwergefallen“ sei. In der aktuellen sicherheitspolitischen Lage könne er ein Pflichtjahr aber nicht mehr vertreten. Während die Bundeswehr vor fehlenden Rekruten warnte, kritisierten soziale Einrichtungen wie die Caritas den Wegfall der Zivildienstleistenden. Die Befürchtung war groß, dass sich nicht genügend Freiwillige ehrenamtlich engagieren würden.
Ein Ausbilder der Bundeswehr überprüft auf einem Truppenübungsplatz in Ahlen die entleerten Waffen.
Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine steht die Wehrpflicht wieder zur Diskussion. Vor allem Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich als Befürworter profiliert. Wehrpflichtige seien „überlebenswichtig“ für Deutschland, sagte er in der Talkshow von Sandra Maischberger am vergangenen Mittwoch. Wenn es nach Pistorius geht, sollen noch in dieser Legislaturperiode „Zwischenschritte“ in Richtung eines neuen Wehrpflichtmodells geschehen. Die Wehrpflichtigen sollen zusätzlich zur Bundeswehr kommen, über deren geplante Aufstockung auf mehr als 200.000 Soldaten hinaus. In den kommenden Wochen will er ein Konzept dafür vorlegen. Zuletzt hatte Pistorius Sympathien für das sogenannte schwedische Modell gezeigt. In Schweden muss jeder junge Mensch einen Onlinefragebogen ausfüllen. Eingezogen wird nur eine Minderheit jedes Jahrgangs, Männer und Frauen. Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl ist die Bereitschaft, dem Land zu dienen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius meint Wehrpflichtige seien „überlebenswichtig“ für Deutschland.
Doch die Idee von Pistorius stößt auf einigen Widerstand. In der Welt der Wirtschaft ist die Begeisterung weder bei Unternehmen noch bei Gewerkschaften besonders ausgeprägt. Und auch längst nicht jeder, der sich mit jungen Leuten beschäftigt, rät zu.
„Eine Wehrpflicht bedeutet nicht nur eine zusätzliche finanzielle Strapaze für die Bundeswehr, sondern auch für unseren Arbeitsmarkt und die Wirtschaft“, kritisiert etwa FDP-Politiker Nils Gründer. In Zeiten, in denen Unternehmen mit dem Fachkräftemangel kämpfen, könnte Deutschland sich das nicht leisten.
Erst mal würde es für die Bundeswehr teuer. Schon die Musterung brächte einiges an Bürokratie und Arbeit. Die zuständigen Kreiswehrersatzämter wurden 2011 geschlossen, die Immobilien im Besitz des Bundes für andere Zwecke freigegeben und teilweise umgebaut, wie eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums mitteilt. Die knapp 3000 Beschäftigten wurden mit anderen Aufgaben betraut. „Außerdem müsste die Zahl der Ausbilder deutlich erhöht werden“, sagt Gründer von der FDP. „Eine Wehrpflicht würde Milliarden an zusätzlichen Investitionen fordern.“
Kritische Stimmen aus den Dax-Konzernen
ARCHIV – 01.08.2023, Baden-Württemberg, Stetten am kalten Markt: Reservisten nehmen auf einem Übungsplatz der Bundeswehr an der Abschlussübung zum Projekt „Ungediente für die Reserve“ des Landeskommandos Baden-Württemberg teil. Dabei halten sie sich mit Ihren Waffen vom Typ G36 in einem Graben in Deckung. Das Ziel des Projekts ist es, eine Reserve von qualifizierten Soldatinnen und Soldaten aufzubauen, die im Falle von Krisen und Katastrophen oder zum Heimatschutz sowie in der Landesverteidigung eingesetzt werden können. (zu dpa: «Verbandschef: Bundeswehr-Reservisten systematisch erfassen») Foto: Christoph Schmidt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Und dann ist da der Arbeitskräftemangel. Besonders kritisch äußert sich der Deutsche Mittelstands-Bund (DMB), der rund 27.000 kleine und mittlere Unternehmen vertritt. Der Schaden durch eine Wehr- und Dienstpflicht sei „immens“. „Die deutsche Wirtschaft steht inmitten eines erheblichen altersbedingten Umbruchs auf dem Arbeitsmarkt, der in den kommenden Jahren weiter an Dynamik gewinnen wird“, sagt Matthias Bianchi vom DMB. Schon im vergangenen Jahr seien rund 75.000 Ausbildungsplätze nicht besetzt gewesen.
Der Mittelstand ist nicht allein. Kritische Stimmen kommen auch aus den meisten Dax-Konzernen, die die F.A.S. nach ihrer Haltung zur Wehrpflicht gefragt hat. Der Kunststoffkonzern Covestro rechnet damit, dass der „Bewerberpool für Ausbildungsstellen zumindest vorübergehend verkleinert“ würde, was den Fachkräftemangel verstärken dürfte. Auch bei Siemens Healthineers geht man von einer zunächst niedrigeren Bewerberanzahl aus. „Generell müsste Siemens Healthineers dann die Abläufe in der Ausbildung und bei Studierenden an die neuen Gegebenheiten anpassen, Recruitingphasen oder Zielgruppen werden sich beispielsweise verschieben“, sagt ein Sprecher.
Zu den Befürwortern einer Dienstpflicht zählt dagegen die Commerzbank. Der Dax-Konzern plädiert dafür, sich am schwedischen Modell zu orientieren, „welches alle jungen Menschen einbezieht, aber letztlich auf Freiwilligkeit beruht“, wie ein Sprecher sagt. „Wehrdienst und Ausbildung müssen dabei kein Widerspruch sein. Die Bundeswehr kann durchaus Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die auch bei einer zivilen Ausbildung von Nutzen sind.“ Das scheint man auch bei Daimler Trucks so zu sehen. „Wir freuen uns, wenn junge Menschen im Rahmen einer Wehrpflicht die Chance nutzen, einen Lkw-Führerschein zu machen, und damit auch die Möglichkeit haben, unsere Produkte zu fahren.“
Selbst die Skeptiker im Dax sprechen sich nicht klar gegen eine Wehrpflicht aus. Das liegt auch daran, dass die Bedingungen einer möglichen Dienstpflicht noch nicht feststehen. „Die geopolitische Lage bleibt unübersichtlich. Daher ist es absolut in unserem Sinn, wenn die Politik sich über Szenarien für die Zukunft Gedanken macht“, sagt ein Sprecher des Autokonzerns BMW – um anzuschließen: Wichtig sei bei der Diskussion auch, den Fachkräftemangel im Blick zu behalten.
Und wie stehen die Gewerkschaften zu der Frage? Verdi-Chef Frank Werneke stellt sich gegen Dienstpflichten jeder Art, allerdings mit einem ganz anderen Argument als dem Personalmangel: Es gebe schon genügend Bewerbungen von motivierten Freiwilligen. „Ein Pflichtdienst ist ein Eingriff des Staates in die Lebensplanung von Menschen, die vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen ist.“
Tatsächlich hat die Bundeswehr zuletzt 70 Prozent aller Bewerber abgelehnt. Das passt nur begrenzt zu dem Eindruck, es gebe nicht genügend Kandidaten. Schon eher deutet es darauf hin, dass ein gut aufgestelltes Militär heutzutage nicht jeden nehmen kann – und sich Personallücken daher auch nicht mit 18-Jährigen ohne Ausbildung schließen lassen.
Die Bewerber kommen dabei durchaus aus der Breite der Gesellschaft. Die Bundeswehr ist nicht etwa zum Auffangbecken für die Unterschicht geworden. Im Jahr 2022 beispielsweise lag das Bildungsniveau der Bewerber „deutlich über den Vergleichszahlen der Gesamtbevölkerung“, wie der Soziologe Martin Elbe ausgewertet hat. Bei den erfolgreichen Bewerbern liegt das Niveau noch einmal „deutlich höher“. 65 Prozent der Befragten hatten demnach die Hochschul- oder Fachhochschulreife, nur fünf Prozent einen Haupt- oder Volksschulabschluss, ein Prozent gar keinen Schulabschluss. Die Bewerber, schreibt Elbe, „rekrutieren sich insbesondere aus einem idealistischen Milieu der oberen Mittelschicht und der Mittelschicht“. Recht gleichmäßig sind die Bewerberzahlen entsprechend der Bevölkerung über die Bundesländer verteilt. Aus den südlichen Bundesländern kommen etwas weniger Kandidaten, aus den westdeutschen Ländern etwas mehr. Die oft gehörte Erzählung von einer „Ossifizierung“ der Armee lässt sich angesichts dieser Daten nicht halten.
Verteidigungsminister Pistorius geht es nach seinen eigenen Worten aber gar nicht darum, der Bundeswehr mehr Bewerber zu verschaffen. Er sagt, Deutschland brauche Wehrpflichtige, wenn es verteidigungsfähig sein möchte. In der Ukraine zeige sich, dass Reservisten für die Überlebensfähigkeit der Armee unentbehrlich seien. Das Argument des Ministers läuft darauf hinaus: Deutschland braucht im Ernstfall viele Leute, die wenigstens mal einen Grundwehrdienst geleistet haben. Derzeit findet er für seine Position Zustimmung unter den Deutschen. Laut einer Forsa-Umfrage spricht sich knapp die Hälfte der Deutschen dafür aus, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird.
Freiwilligkeit statt Zwang
Solche Umfragen sollte man indes nicht überbewerten, warnt der Militärsoziologe Timo Graf. „Die Umfrageergebnisse sollte man so interpretieren, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung offen für die Debatte ist.“ Die Zahlen könnten sich stark verändern, wenn die Diskussion konkret werde.
Was verraten die Umfragen über die Wehrbereitschaft der deutschen Bevölkerung? Der Anteil derer, die sich vorstellen können, Soldat zu werden, liegt bei etwa 19 Prozent. Ist das viel oder wenig? Militärsoziologe Graf sieht es so: „Das ist eine Berufswahl. Ich weiß nicht, ob sich so viel mehr Menschen vorstellen können, zum Beispiel Krankenpfleger zu werden.“ Bei den Frauen sei zudem zuletzt der Anteil von 6 auf 9 Prozent gestiegen. Und selbst wenn nur eine Minderheit in Umfragen sagt, Deutschland im Kriegsfall mit der Waffe verteidigen zu wollen, „wären das immer noch Millionen freiwillige Kämpfer“. Ähnliche Umfragen in der Ukraine vor Kriegsbeginn zeigten zudem, dass die Realität oft anders aussehe: „Das ist ein sehr abstraktes Szenario für die Menschen.“ Als die russischen Bomben auf Kiew fielen, war die Verteidigungsbereitschaft der Ukrainer plötzlich sehr viel größer als vorher gedacht.
Graf sieht zumindest einen Vorteil der Wehrpflicht darin, dass sie mehr Menschen mit dem Militär in Kontakt bringen würde, nicht nur Wehrdienstleistende, sondern auch ihre Familien. Immer wenn Menschen direkten Kontakt zur Bundeswehr hätten, sei die Erfahrung überragend positiv – ob bei Hochwasserhilfen oder in Corona-Impfzentren. Persönliche Nähe könne helfen, Vorurteile abzubauen. Andererseits ist fraglich, ob eine Wehrpflicht diesen Effekt auch hätte. Zwar ist die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber in Umfragen zuletzt gefallen, allerdings erst seit 2018, lange nach der Aussetzung der Wehrpflicht.
Für Freiwilligkeit statt Zwang argumentieren inzwischen sogar Organisationen, die 2011 zu den größten Kritikern der Abschaffung des Pflichtdienstes zählten: die sozialen Einrichtungen. Käme die Wehrpflicht zurück, dann könnte ein alternativer Dienst im zivilen Bereich dazukommen – so wie einst der Zivildienst. Doch heute fordert keine der sozialen Einrichtungen, mit denen die F.A.S. gesprochen hat, einen Pflichtdienst zurück, trotz allgegenwärtigen Personalmangels. Eine Dienstpflicht „würde erhebliche Kosten und enormen administrativen Aufwand nach sich ziehen“, sagt Joß Steinke vom Deutschen Roten Kreuz. „Auf keinen Fall kann man einfach eine halbe Million junge Menschen in ein unterfinanziertes und unterbesetztes System schicken. Das kann nicht gut gehen.“ Statt ein Pflichtjahr einzuführen, müsse vielmehr der schon bestehende Freiwilligendienst weiterentwickelt werden.
Arbeiterwohlfahrt und Caritas teilen diese Position. Vieles kam eben doch anders, als man 2011 dachte. Ein Sprecher der Caritas sagt: „Schaut man zurück, ist es fast ein bisschen überraschend, wie groß die Sorgen auch bei den Caritas-Trägern vorher waren und wie gut die kurzzeitig entstandene Lücke dann doch geschlossen werden konnte.“
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