Klimaklage: Das Schönrechnen unserer Klimapolitik funktioniert nicht mehr

Gut so, dass die Regierung von einem europäischen Gericht zu mehr Klimaschutz verurteilt wurde, schreibt unser Gastautor Felix Ekardt. Diskutieren Sie jetzt mit ihm.

klimaklage: das schönrechnen unserer klimapolitik funktioniert nicht mehr

Am Dienstag jubeln die Klimaseniorinnen im Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über ihre erfolgreiche Klimaschutzklage gegen die Schweizer Regierung.

Nach dem Klimaschutzurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss nun die Bundesregierung in Berlin nacharbeiten, schreibt Felix Ekardt. Der Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig initiierte die erfolgreiche Klimaklage vor dem Bundesverfassungsgericht. Gerne antwortet er direkt unter dem Artikel auf Leserkommentare. Diskutieren Sie mit ihm!

Das jüngste Klimaschutzurteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat eine spektakuläre Vorgeschichte. 2021 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auf Klage von Umweltverbänden eine historische Entscheidung getroffen: Deutschland muss mehr beim Klimaschutz tun, weil es zu einseitig der wirtschaftlichen Freiheit heutiger Generationen Vorrang gibt vor den Freiheiten künftiger Generationen. 2023 haben Umweltschützer zudem beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein weiteres Urteil erstritten, das feststellt, dass die Bundesregierung immer noch zu wenig tut: Sie hält nämlich nicht mal ihre eigenen, unzureichenden Klimaziele ein.

Nun hat ein europäisches Gericht einen draufgesetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat an einem Beispielsfall aus der Schweiz entschieden, dass der Schutz von Leben und Gesundheit gegen den Klimawandel verlangt, dass die Staaten die 1,5-Grad-Grenze für die globale Erwärmung aus dem Pariser Klima-Abkommen beachten. Der EGMR ist eine Art Ober-Verfassungsgericht für das gesamte geografische Europa. Dorthin kann man sich wenden, wenn Staaten Menschenrechte – also Freiheiten und Freiheitsvoraussetzungen wie Leben und Gesundheit – verletzen und auch die staatlichen Gerichte den Verstoß nicht abstellen. Die zugrunde liegende Europäische Menschenrechtskonvention ist überall in Europa verbindlich, nicht nur in der EU – auch in Deutschland.

Der EGMR geht in seinem Urteil sogar noch etwas weiter als das deutsche Verfassungsgericht. Denn er sagt klipp und klar: 1,5 Grad ist die maximale Grenze an noch tolerierbarer globaler Erwärmung, will man nicht katastrophale Folgen wie ständige Naturkatastrophen oder Nahrungs- und Wasserknappheit riskieren. Das BVerfG hatte 2021 noch anklingen lassen, dass vielleicht auch 1,75 Grad die Grenze sein könne, weil das Pariser Klimaabkommen von “weit unter 2 Grad” als Ziel spricht, wenngleich das Abkommen hinzufügt, dass die Staaten “Anstrengungen” für 1,5 Grad unternehmen müssten.

Die Bundesregierung muss nun massiv nachlegen

Auch Bundesregierung und Bundestag müssen deshalb beim Klimaschutz jetzt massiv nachlegen. Das Treibhausgasbudget für 1,5 Grad hat Deutschland nämlich nach den IPCC-Daten bereits jetzt erschöpft. Man kann anhand der 1,5-Grad-Grenze ein für Deutschland verfügbares CO₂-Restbudget grob errechnen, basierend auf einer gleichen Pro-Kopf-Verteilung der noch möglichen Emissionen weltweit. Global gibt der Weltklimarat IPCC, etwas vereinfacht gesagt, ein globales Gesamt-Restbudget von 300 Gigatonnen CO₂ an. Bei einem Pro-Kopf-Ansatz würde das für Deutschland, das ein Hundertstel der Weltbevölkerung stellt, bedeuten, dass nur noch drei Gigatonnen CO₂ verbleiben. Diese hätte Deutschland bereits jetzt verbraucht. Klimaneutralität erst 2045, wie bislang geplant, reicht also nicht mehr – der Klimaschutz muss massiv beschleunigt werden. Und zwar in Europa insgesamt, denn in anderen Ländern sieht es nicht besser aus.

Dass der EGMR am selben Tag eine Klage gegen 33 Staaten – darunter auch Deutschland – von portugiesischen Jugendlichen als unzulässig abgewiesen hat, hilft den Regierungen in Europas Hauptstädten nicht. Dies lag schlicht daran, dass die Jugendlichen nicht zunächst vor den nationalen Gerichten geklagt hatten – anders als im Fall der Schweizer Klimaseniorinnen. Die Auslegungen der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den EGMR gelten trotzdem auch für Deutschland. Und sie werden bei weiteren Klagen in Deutschland und Europa, die sich anbahnen, eine wesentliche Rolle spielen. Übrigens gilt das auch für Klagen zu anderen Umweltproblemen wie dem Verlust von Artenvielfalt. Dort sind die planetaren Grenzen – also die Grenzen dessen, was für menschliches Leben auf der Erde auf Dauer noch tragfähig ist – nach einhelliger naturwissenschaftlicher Auffassung nämlich noch deutlicher überschritten als beim Klimawandel.

Umkehr der Beweispflicht

Wichtig ist, dass der EGMR die Beweislast umgekehrt hat. Künftig muss der Staat begründen, dass seine Klimapolitik ausreichend ist – und nicht die Klägerinnen, dass die Klimapolitik nicht ausreichend ist. Der Bundesregierung wird dieser Nachweis nach dem Gesagten wohl kaum gelingen. Und der EGMR hat – deutlicher als das BVerfG – der Politik aufgegeben, wirklich nachzurechnen, etwa ob die klimapolitischen Maßnahmen ausreichen, um die Co2-Budgets einzuhalten. Damit soll Schönrechnerei vermieden werden. Die ist nämlich in der Politik beliebt, um einerseits so zu tun, als unternehme man etwas, andererseits aber auch allzu große Belastungen heutiger Wählerinnen und Wähler zu vermeiden. Erfreulich ist auch: Der EGMR argumentiert nicht, wie das BVerfG, dass ein verschlafener Klimaschutz später zu einem freiheitsfeindlichen überstürzten Klimaschutz führe. Das Straßburger Gericht sagt stattdessen: Der Klimawandel – und nicht die verspätete Klimapolitik – sind die eigentliche Gefahr für unser aller Freiheit.

Beide Gerichte übersehen keinesfalls, dass in Demokratien Klimapolitik zunächst mal die Sache gewählter Politikerinnen und Politiker ist. Doch missachten Parlamente und Regierungen bestimmte Grenzen ihrer politischen Spielräume, gerade gegenüber künftigen Generationen. Sie können nun vor einem Verfassungsgericht verklagen – auch wegen zu wenig Klimaschutz und zu gegenwartsfixierter Politik.

Der EGMR hat in seinem Urteil keineswegs die geopolitisch schwierige Weltlage übersehen. Doch Klimaschutz verhält sich eben keineswegs konträr zu anderen Anforderungen. Vielmehr wird ein beschleunigter Ausstieg aus den Fossilen durch die immer kriegerischere Weltlage nötiger denn je. Europa fördert aktuell etwa aktiv die russische Kriegsmaschinerie, indem es fossile Brennstoffe weiter verbraucht, etwa in Form von Flüssiggas aus Indien, das wiederum selbst das Gas von russischen Staatsunternehmen bezieht.

Sich davon unabhängig zu machen, ist nicht nur ein Akt der Solidarität mit der Ukraine, sondern es geht um mehr: die Freiheit in Europa. Beide Gerichte, sowohl das höchste europäische als auch das deutsche, haben verstanden, was die Regierungen in fast allen europäischen Staaten bis heute nicht begreifen: Klimaschutz ist Freiheitsschutz. Und aktueller Klimaschutz ist auch ökonomisch weitaus günstiger, als später die horrenden Kosten des Nichtstuns zu bezahlen.

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