Terrorakt bei Moskau: Das „Spiegelspiel“ im Kreml

terrorakt bei moskau: das „spiegelspiel“ im kreml

Ein Verdächtiger des Terroranschlags wird in die entrale des russischen Ermittlungskomitees geführt. Das Bild stammt aus einem Video des Komitees.

Geschichte ist die Summe all dessen, was sie uns nicht erzählen“, sagt in Don DeLillos Roman „Sieben Sekunden“ einer, der die Wahrheit für ein Geheimwissen hält. Der Satz kommt einem in den Sinn beim Lesen der Verlautbarungen, Berichte, Expertenstatements und Kommentare zum Anschlag bei Moskau.

Er rührt an etwas, was nicht nur Verschwörungstheoretiker stimuliert, die das Kennedy-Attentat bis heute magisch anzieht. Werden wir, die Öffentlichkeit, jemals erfahren, was genau geschah, wer plante, wer log, mit welchen Zielen? Mit einer Ermittlung, wie sie in einem Rechtsstaat von Staatsanwaltschaft und Polizei durchgeführt wird, um den genauen Tathergang, Ursachen und Wirkungen, zu rekonstruieren, ist nicht zu rechnen.

DeLillo konnte 1988 nichts wissen von sozialen Medien, Fake News und beider extremer Verbreitungsgeschwindigkeit. Aber er wusste, wie Fiktionen wirklich werden und die Wirklichkeit als Fiktion erscheinen lassen können; wie der Zweifel an den veröffentlichten Versionen und die Spekulation, welche heimliche Funktion sie erfüllen, nicht mehr aufhört, sobald einmal eine fundamentale Ungewissheit herrscht.

Falsche und echte Bedrohungen

Amerikanische Geheimdienste haben vor Anschlägen gewarnt, Experten die Bekennerschreiben des IS für authentisch erklärt. Der Kreml ignorierte beides, oder er witterte eine Hinterlist. Er bezichtigte die Ukraine, was vorhersehbar war, um der Sache dann einen anderen Spin zu geben. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat den Mechanismus in seinem Blog benannt. Regime wie das russische widmeten ihre Energie der Definition und Bekämpfung falscher Bedrohungen wie der LGBTQ-Community oder der Ukraine.

„Wenn eine echte Bedrohung auftaucht“, so Snyder, „müssen die falschen Bedrohungen besonders hervorgehoben werden.“ Schon damit niemand fragt, wie in Putins Polizeistaat ein solcher Terrorakt überhaupt möglich war. Deswegen das Festhalten am „Fenster“ für den Grenzübertritt in die Ukraine. Das sei, so Snyder, „KGB-Jargon“, mit dem Putin sich verrate: Ein „Fenster“ setze freien Raum auf beiden Seiten der Grenze voraus, Russland hätte also den flüchtenden Terroristen das „Fenster“ erst öffnen müssen.

Und weil die Ursachen für Putins Lapsus so opak bleiben wie die Motive und Verschleierungsversuche, hören die Fragen nicht auf in diesem „Spiegelspiel“ (DeLillo). Den Verdächtigen, die in Moskau vorgeführt wurden, hat man offensichtlich durch Folter ein Geständnis abgepresst. Oder sind ihre Verletzungen gar nicht echt, sondern eine widerliche Inszenierung, die ihnen ihr Menschsein absprechen soll?

Wie kommen Bilder auf Telegram, auf denen einem sein abgeschnittenes Ohr in den Mund gestopft wird? Dass russische Geheimdienste foltern, hat niemand ernstlich bezweifelt, nicht mal in Russland; dass der Kreml selbst das öffentlich durch diese Bilder „beweist“, hätte wohl niemand erwartet.

In einer solchen Situation tritt das Gegenteil dessen ein, was der Soziologe Luhmann als unerlässlich für die Funktionsfähigkeit von Systemen betrachtet: Es droht generalisiertes Systemmisstrauen. Die Erosion der Gewissheiten verstärkt die Zweifel gegenüber jeder neuen Erklärung. Das erzeugt einen gefährlichen Strudel. Wer meint, sich vor ihm in eine Verschwörungstheorie retten zu können, wird von ihm verschlungen.

Ohne gesichertes Wissen bleiben alle Schlüsse und Deutungen schwache Hypothesen. 300 Jahre, nachdem der Philosoph Kant geboren wurde, wünschte man sich nicht nur eine Antwort auf die erste seiner drei großen Fragen: „Was kann ich wissen?“ Man wüsste auch gerne, was man tun soll, wenn man so wenig weiß. Und was man hoffen darf, wenn die Frage nach der Wahrheit über das Geschehen fast naiv klingt.

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