Mittelmeerstadt: Marseille macht sich

mittelmeerstadt: marseille macht sich

Künstler, aber auch besser situierte Pariser – der Schnellzug TGV schafft braucht weniger als dreieinhalb Stunden – bevölkern zunehmend die Stadt.

Ende November kam für einen Tag reichlich Prominenz nach Marseille. Für eine Tagung zur Künstlichen Intelligenz war es den französischen Medienhäusern „La Tribune“ und „La Provence“ gelungen, neben Fachleuten und Start-up-Vertretern auch EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton und den einstigen Mitterrand-Berater Jacques Attali in die Stadt am Mittelmeer zu locken. Topmanager von Konzernen wie Orange, Deloitte, BNP Paribas und BCG zeigten ebenfalls Präsenz.

Dass hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft in Marseille zusammenkommen, war vor wenigen Jahren noch unwahrscheinlich. Bitterarm, dreckig, kriminell – der Ruf der nach Paris zweitgrößten Stadt Frankreichs mit ihren rund 870.000 Einwohnern hat über Jahrzehnte hinweg schwer gelitten. Doch das Bild bessert sich. Aus Sicht nicht weniger junger Franzosen ist es spätestens seit der Corona-Zeit sogar angesagt, in Marseille zu wohnen – obwohl sich der Drogenkrieg weiter verschlimmert und 2023 mit 49 Toten und 118 Verletzten so viele Opfer forderte wie nie. Als Standortvorteile gelten das mediterrane Klima, die vielen Badebuchten und die günstigen Preise.

Künstler, aber auch besser situierte Pariser – der Schnellzug TGV schafft die mehr als 650 Kilometer Luftlinie in die Hauptstadt in weniger als dreieinhalb Stunden – bevölkern zunehmend und nicht immer zur Freude der Alteingesessenen die Stadt. Die Immobilienpreise sind kräftig gestiegen. Nach der Agentur Meilleurs Agents ging es in den vergangenen fünf Jahren um rund 30 Prozent nach oben. Mit im Durchschnitt rund 3500 Euro für einen Quadratmeter bleibt Marseille im Vergleich zu Paris mit seinen 10.000 Euro zwar spottbillig. Das liegt aber auch daran, dass arme Ecken wie die berüchtigten Armutsviertel Quartiers Nord den Durchschnitt nach unten ziehen. In den beliebten Stadtteilen in Meeresnähe sind mindestens 6000 Euro fällig.

mittelmeerstadt: marseille macht sich

Trotz vormals schlechtem Ruf hat Marseille einiges an Standortvorteilen zu bieten: das mediterrane Klima, die vielen Badebuchten und die günstigen Preise.

Die Musik spielt am Hafen

Auch wirtschaftlich geht in Marseille voran. Schon länger ist der Hafen durch die mehr als ein Dutzend anlandenden kontinentalen Unterseekabel eines der weltgrößten Drehkreuze für den Datenverkehr. Er profitiert dabei von der günstigen geographischen Ausrichtung sowohl nach Amerika als auch nach Afrika und in den Nahen Osten. Zusammen mit dem nördlich gelegenen Aix-en-Provence und dem weiteren Umland gab es im vergangenen Jahr die Auszeichnung als „europäische Innovationshauptstadt“; Vertreter der regionalen Wirtschaftsagentur stellen ein wachsendes Engagement gerade ausländischer Investoren fest. 20 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in dem insgesamt knapp 1,8 Millionen Einwohner zählenden Gemeindeverband Métropole d‘Aix-Marseille-Provence seien auf die Bereiche Forschung und Entwicklung entfallen. Das liege deutlich über dem landesweiten Durchschnitt (14 Prozent).

Während Aix als mondäne Universitätsstadt seit jeher einen relativ hohen Lebensstandard aufweist, spielt in Marseille die Musik vor allem am Hafen. Hier hat die Reederei CMA CGM ihren Sitz, nach MSC und Mærsk die drittgrößte der Welt und nach zwei Corona-Jahren mit phasenweise exorbitanten Frachtpreisen finanziell gut gepolstert. Ihr Chef und Eigentümer Rodolphe Saadé gilt seither nicht nur als fünftreichster Franzose mit einem geschätzten Vermögen von fast 40 Milliarden Euro, sondern hat auch mächtig an Einfluss gewonnen mit einem guten Draht in die Pariser Spitzenpolitik und dem Kauf von Medien wie „La Tribune“ und „La Provence“.

Wenn es um den Wirtschaftsstandort Marseille geht, ist Saadé selten außen vor. Als Präsident Emmanuel Macron im Juni mal wieder zu Besuch war in der Stadt, die er so wie den lokalen Fußballverein Olympique erklärtermaßen liebt und für die er im Jahre 2021 ein 5 Milliarden Euro schwereres Investitionsprogramm begonnen hat, stand ein Mittagessen mit dem Reederei-Chef auf dem Programm. CMA CGM ist mit rund 6000 Mitarbeitern der größte private Arbeitgeber der Stadt. Der größte in der Region ist Airbus Helicopters am Flughafen von Marignane mit rund 8000 Mitarbeitern.

„Innovationslabor für die Dekarbonisierung“

2018 hat Saadé den Inkubator und Accelerator Zebox ins Leben gegründet, der sich insbesondere an Start-ups in den Bereichen Transport, Logistik und Mobilität richtet. Unter anderem ist Searoutes im Windschatten des großen Tankers CMA CGM entstanden. Das Unternehmen entwickelt Algorithmen, die See- und Landrouten für den Gütertransport unter Umweltschutzgesichtspunkten optimieren.

Auf den grünen Zug springen auch andere Vertreter aus der Region auf und werben mit den natürlichen Standortvorteilen der Mittelmeerregion. „Der Hafen ist ein Innovationslabor für die Dekarbonisierung“, sagt Anastasia Touati vom Hafen Marseille Fos und verweist auf mehrere Großprojekte in der Region, etwa für emissionsarm produzierten Stahl sowie Photovoltaik und Windräder. Faktoren wie die Verfügbarkeit von Wasser, die vielen Sonnenstunden und der starke Wind machten den Standort auch für die Produktion von „grünem“ Wasserstoff sehr günstig, ergänzt Alexis Martinez, Chef des Unternehmens H2V. Allenfalls Rotterdam könnte von den großen Häfen in Europa mithalten.

Bislang ist das Erzeugungspotential an Ökostrom kaum ausgeschöpft. Wie in Deutschland gibt es auch in Frankreich erheblichen Protest gegen Windräder. Ganze drei Anlagen zu Wasser stehen vor der Küste von Marseille, und das auch erst seit wenigen Monaten und bislang nur im Pilotbetrieb. Schon in wenigen Jahren solle sich das aber ändern, beteuert die Hafen-Vertreterin Touati. Bis 2030 seien rund 20 Offshore-Windräder mit einer Leistung von insgesamt 250 Megawatt geplant. Kommendes Jahr werde der Dialog mit den Vertretern aus der Region beginnen.

2030 ist auch das Jahr, in dem die geplante Unterseewasserstoffpipeline zwischen Barcelona und Marseille in Betrieb genommen werden soll. So war es Anfang dieses Jahres auf höchster politischer Ebene zwischen Deutschland und Frankreich vereinbart worden. Vor allem Berlin ist daran gelegen, dass möglichst schnell möglichst viel emissionsarmer Wasserstoff von der iberischen Halbinsel nach Zentraleuropa strömt. Ob „H2Med“ aber wirklich so schnell Realität wird, ist ungewiss. Der H2V-Chef glaubt nicht daran. „Es gibt immer schöne Ankündigungen“, sagt Martinez, die konkrete Umsetzung stehe aber auf einem anderen Blatt. Er rechnet eher mit einer Inbetriebnahme im Jahr 2040.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World