Temu: Wie erfolgreich ist die chinesische Shopping-App wirklich?

Die gehypte Shopping-App Temu ist wohl weit weniger erfolgreich als allgemein angenommen. In den USA schrumpft die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer offenbar schon wieder. Eine schonungslose Analyse.

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Was passiert ist:

Die umstrittene chinesische Plattform Temu gilt als Revolution im E-Commerce. Innerhalb kürzester Zeit ist sie rasant gewachsen. In Deutschland soll jeder Vierte zwischen 16 und 65 Jahren bereits bei Temu eingekauft haben, obwohl die App hier erst im Frühjahr 2023 an den Start gegangen ist. Und einige Analysten schätzen sogar, dass bei Temu inzwischen mehr Waren verkauft werden als beim US-Giganten Amazon.

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Und was wirklich passiert ist:

Temu ist tatsächlich beeindruckend gewachsen. Auf der Plattform haben Algorithmen die Händler ersetzt. Produziert wird, was nachgefragt wird. Die Handelsmarge kann der Onlinemarktplatz teilweise an die Kundinnen und Kunden weitergeben. Allerdings: So beeindruckend Temu auch gewachsen ist, die Größe der Plattform scheint deutlich überschätzt zu werden – und auch ihre Dynamik.

Das Temu-Rätsel:

Wie viele Waren über Temu wirklich verkauft werden, steht im Kern einer Diskussion, an der sich unter anderem der „Financial Times“-Journalist und Aufdecker des Wirecard-Betrugs Dan McCrum (45) beteiligt. Technisch ausgedrückt geht es dabei um das Bruttohandelsvolumen, übersetzt: Gross Merchandise Value, oder kurz: GMV. Diese Kennziffer beinhaltet den gesamten Wert der Waren, die über eine Plattform gehandelt werden, also nicht nur die Gebühr, die der Marktplatz von den dort aktiven Händlerinnen und Händlern einbehält (das wäre der Nettoumsatz). Das GMV zeigt sozusagen die wahre Größe eines Marktplatzes.

Amazon etwa wies für 2023 etwa 372 Milliarden Dollar Umsatz im Onlinehandel aus – aber man geht davon aus, dass das GMV fast doppelt so hoch lag, bei über 700 Milliarden Dollar.

Für gewöhnlich veröffentlichen E-Commerce-Firmen, die kleiner als Amazon sind, das GMV, da sie dadurch größer erscheinen. Ebay hatte 2023 ein GMV von 73,2 Milliarden Dollar, aber nur einen Umsatz von 10,1 Milliarden Dollar. Die Temu-Mutter PDD Holdings hat allerdings nach dem Jahr 2021 damit aufgehört, den GMV zu veröffentlichen – also bevor Temu überhaupt gelauncht wurde.

Um zu verstehen, wie mächtig Temu wirklich ist, versuchen Analysten nun, das weitere GMV-Wachstum auszurechnen, indem sie das GMV analog zum Umsatzwachstum von PDD Holdings extrapolieren. So käme man für 2023 zum Beispiel auf ein GMV von 1,1 Billionen Dollar – was weit mehr wäre als bei Amazon.

Welche Zahlen realistischer sind:

Viel spricht dafür, dass Temu in Wirklichkeit viel kleiner ist, als etliche Analysten annehmen. Die hochgerechneten Daten stimmen nämlich nicht mit anderen Zahlen überein. Tatsächlich könnte das GMV nur ungefähr dem Umsatz des Jahres 2023 entsprechen – also lediglich rund 35 Milliarden Dollar. Das wäre ein Bruchteil der Größe, die von vielen angenommen wird.

Man kann sich Temus GMV nämlich auch so annähern: Temu liefert rund eine Million Pakete pro Tag in die USA, bestenfalls an sechs Tagen die Woche (also maximal rund 300 Millionen Pakete pro Jahr). Der Warenwert pro Paket wird von Experten auf 30 bis 50 Dollar geschätzt. Selbst wenn man dabei 50 Dollar Warenwert annimmt, kommt man nur auf einen Bruttowarenwert von 15 Milliarden Dollar in den USA.

Das würde zu einem Bericht passen, dass Temu in den USA rund 60 Prozent des gesamten GMV macht. Dann würde Temu insgesamt rund 25 Milliarden Dollar GMV machen. Inklusive der rund 15 Milliarden Dollar, die PDD bereits vor dem Launch von Temu in China gemacht hat, käme man also auf rund 40 Milliarden Dollar. Das entspricht ungefähr dem Umsatz von PDD Holdings für das Jahr 2023 (35 Milliarden Dollar).

Mit anderen Worten: Bei Temu scheint der Umsatz mehr oder weniger dem GMV zu entsprechen – so wie bei einem klassischen Händler.

Damit macht plötzlich auch die Marketingquote Sinn. Die Marketingausgaben lagen mit 11,6 Milliarden Dollar (2023) nur rund 4,6 Milliarden Dollar höher als vor dem Launch von Temu (2021: 7 Milliarden Dollar). Wenn Temu wirklich ein GMV von 1,1 Billionen US-Dollar hätte, wären diese 1,1 Billionen Dollar GMV mit nur 4,6 Milliarden Dollar zusätzlichem Marketing erkauft worden. Das wäre eine unglaublich niedrige Marketingquote von rund 0,4 Prozent.

Wenn man dagegen annimmt, dass das GMV im Wesentlichen dem Umsatz entspricht, macht die Marketingquote Sinn: Dann wären zusätzliche 25 Milliarden Dollar Umsatz mit 4,6 Milliarden Dollar Marketingausgaben erkauft worden, eine Marketingquote von rund 18 Prozent. Das ist angesichts des hohen Werbedrucks von Temu ein deutlich realistischerer Wert.

Wieso Temu so überschätzt wird:

Dass Temu von Analysten überschätzt wird, hängt damit zusammen, dass es kein Inventar in der Bilanz ausweist, also anscheinend keine Lagerbestände hat. Alle Händler haben aber Inventar. So nehmen viele Beobachter an, dass Temu als Marktplatz funktionieren muss – auch wenn das chinesische Unternehmen kein GMV ausweist.

Wie Temu dies hinbekommt, ist unklar. Eine mögliche Erklärung könnte sein: Wenn ein Kunde einen Artikel auf der Plattform kauft, kauft Temu für eine Sekunde diesen Artikel von dem Anbieter und verkauft ihn dann mit einem Mark-up an den Endkunden weiter. So könnte Temu gegenüber den Wirtschaftsprüfern argumentieren, dass der gesamte Artikel wie bei einem Händler als Umsatz gezählt wird, obwohl Temu diese Ware – anders als ein Händler – gar nicht länger besitzt. Das GMV würde dann dem Umsatz entsprechen.

Temu erklärt dazu auf Anfrage nur, man betreibe „einen Onlinemarktplatz, der Verbraucher mit unabhängigen Drittanbietern zusammenbringt“. Temu sei nicht Eigentümer der Produkte.

Weshalb der Hype schon wieder abflaut:

Es spricht nicht nur vieles dafür, dass Temu wesentlich kleiner als Amazon ist. Die Daten von Analysefirmen legen auch nahe, dass der Hype um Temu schon wieder abflaut. Nach Daten der Firma Sensor Tower, die die Website The Information kürzlich veröffentlichte, ist die Zahl der monatlich aktiven Nutzerinnen und Nutzer von Temu in den USA seit dem dritten Quartal 2023 schon wieder geschrumpft (siehe Grafik).

Temu selbst erklärte gegenüber der Website, dass man „hervorragendes Kundenfeedback“ und „eine starke Kundenbindung“ in den USA sehe. Auch Daten von Google Trends zeigen allerdings, dass das Interesse an Temu und auch an der chinesischen Fashion-App Shein wieder gesunken zu sein scheint.

Kurzum: Temu ist rasant gewachsen, aber es spricht vieles dafür, dass der Onlinemarktplatz nicht nur immer noch weit davon entfernt ist, ein neues Amazon zu werden. Der Hype scheint auch schon wieder abzuflauen.

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