Zemlinskys „Traumgörge“ an der Oper Frankfurt

zemlinskys „traumgörge“ an der oper frankfurt

AJ Glueckert als Traumgörge

Mit einem Blick erfasst man, was los ist zwischen dem träumenden Görge und der handfesten Grete. Tilmann Köhler hat das an der Oper Frankfurt leise, aber ganz präzise inszeniert: AJ Glueckert als Görge hat es aufgegeben, Grete, der frisch, schön und so vorbildlich textverständlich singenden Magdalena Hinterdobler, etwas von seinen Träumen zu erzählen. Sie mag noch so lieb zu ihm sein, sie mag an seinen Lippen hängen – ja, erzählen kann er – und ihm fasziniert lauschen, aber sie versteht nicht, was ihm diese Träume bedeuten. Und er ist verzweifelt, dass er in der Welt der handfesten Dinge, die „Wirklichkeit“ genannt wird, seinen Mann stehen soll: als Zupacker, Erlediger und Versorger. Die Aussicht auf eine solche Zukunft lässt ihn implodieren – in eine Depression.

Beeindruckend ist die stille Konsequenz, mit der Görge zwar an der Welt, nicht aber an sich selbst und seinen Träumen irre wird. Er läuft den Dörflern und seiner Verlobung mit Grete davon. Soll sie doch Hans, den Haudrauf, auftrumpfend gesungen von Liviu Holender, heiraten. Görge läuft der Prinzessin nach, die ihm im Traum erschienen ist. Später wird er sich dem von Züngl (Michael Porter) und Kaspar (Iain McNeil) aufgestachelten Bauernmob gewaltfrei entziehen und zu seiner neuen Liebe stehen: der als Hexe verfolgten Gertraud. Dass die Hexe sich am Ende als die Traumprinzessin ­herausstellt, gehört zur Logik des Märchens, das hier – wie es heißt – „lebendig“ wird.

Das Märchen hat es momentan schwer auf den deutschen Opernbühnen. Aus Dvořáks Nixe Rusalka wird verlässlich eine Nutte gemacht, Hänsel und Gretel werden entweder im Kinderheim missbraucht oder durch den Kapitalismus zum hemmungslosen Konsum auf Kosten gesunder Wälder verführt. Der Ersatz von Phantasie durch eine Abbildungspornographie unseres Alltags grassiert. Nicht aber in Frankfurt. Nach dem traumdurchwirkten Sternenflug von Christof Loys Inszenierung der „Nacht vor Weihnachten“ von Nikolaj Rimski-Korsakow darf nun auch „Der Traumgörge“ von Zemlinsky ein Märchen bleiben, wenn auch ein klug psychologisiertes für erwachsene Menschen. Die Kostüme von Susanne Uhl verweigern Aktualisierung wie Historisierung gleichermaßen: Sie sind „märchenzeitlich“.

Köhlers Inszenierung kommt das sagenhaft schöne Licht von Jan Hartmann zur Hilfe. Die Bühne von Karoly Risz – eine akustisch segensreiche Holzbox, an der sich nur die Öffnungen der Rückwand ändern – wird von Hartmann immer neu ausgeleuchtet: warm und weit in den Momenten des Friedens, grell und eng bei drohender Gewalt, mit flimmernd tanzenden Flecken an der Decke beim Lauschen auf das Rauschen des ­Baches, dessen spiegelndes Wasser die Flöten des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters unter der Leitung von Markus Poschner so verlockend und unheimlich zugleich malen wie in den späten Märchen von Antonín Dvořák. Gleich im ersten Akt, wenn Görge seiner Grete wider besseres Wissen doch noch einmal ein Märchen erzählt, wirft das Licht beider Schattenrisse groß an die Wand: eine Hommage an die Scherenschnitt-Märchenfilme von Lotte Reiniger. Die ganze Inszenierung ist ein Lichtgedicht.

zemlinskys „traumgörge“ an der oper frankfurt

Görge (AJ Glueckert) mit Grete (Magdalena Hinterdobler)

Glueckerts schlanker, heller, freilich nur selten textverständlicher Tenor kontrastiert mit seiner kräftigen Gestalt und gibt ihr genau die Wehrlosigkeit, die sie auszeichnet. Zuzanna Marková erfasst an der Gertraud und der Prinzessin überzeugend die Zwiespältigkeit aus Humperdincks Sandmännchen und Wagners Isolde. Ihr Gesang, in dem sich das Vibrato gelegentlich selbständig zu machen droht, kennt die Leichtigkeit eines Luftwesens genauso wie das brennende Verlangen einer Liebenden und Ausgegrenzten, die sich verzehrt nach Anerkennung.

Der von Tilman Michael einstudierte Chor und der von Álvaro Corral Matute betreute Kinderchor scheinen ohne Mühen, selbst bei schnellster szenischer Beanspruchung, zwischen pöbelhafter Rohheit und schwärmerischer Hingabe an Görges Geschichten wechseln zu können, ohne dabei den engsten Kontakt zum Orchester zu verlieren.

Markus Poschner versteht sich auf die sanft gedeckten Farben Zemlinskys, der weniger grell, weniger brillant und oberflächennervös orchestriert als Richard Strauss. Gleichwohl scheint in der dörflichen Behaglichkeit des ersten Bildes hier, im Jahr 1906, von Zemlinsky manches vorweggenommen zu sein, was wir fünf Jahre später beim Frühstück im ersten Akt des „Rosenkavaliers“ von Strauss wiederfinden. Es ist schon Musik einer unverschämten Daseinsbehaglichkeit voller Kondensmilcharabesken der Holzbläser und Pflaumenmusakkorde der Streicher.

Doch Zemlinsky hat für die beiden Akte und das Nachspiel jeweils eigene Konzepte der Harmonik, gar der Tonalität verfolgt, die sich unter Poschners Leitung sehr sinnfällig mitteilen. Auf das wohlige Eingehaustsein des ersten Aktes folgt die schicksalszerzauste Unbehaustheit des zweiten, immer wieder durchzogen von den harmonischen Tristanismen eines unerfüllten, selbstzerstörerischen Begehrens. Am Ende, wenn die Träume sich im Nachspiel erfüllen, stößt Zemlinsky in eine Harmonik vor, wie sie Gustav Holst 1914 für die sonnenfernsten Planeten Neptun und Uranus erfinden wird. Sie beschreibt die Unbehaustheit nicht mehr als ein Ausgesetztsein, sondern als eine Transzendenz zum gewohnten Alltag, die voller Zauber ist und zugleich Vertrauen erweckt.

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