Das ist es, was wir sehen wollen!

das ist es, was wir sehen wollen!

Ein sich tief ins Bewusstsein brennendes Bild: Agaue (Lina Beckmann) erfährt von Kadmos (Ernst Stötzner), dass sie ihren eigenen Sohn ermordet hat.

Es ist das bedeutendste Theaterereignis der Saison. Wer sehen will, was das deutsche Theater noch kann, was es zu bieten und zu beweisen hat, der kann das hier tun. An drei aufeinanderfolgenden Tagen zeigt das Hamburger Schauspielhaus seine Antiken-Pentalogie, fünfmal hebt es an, um die Geschichte der Stadt Theben und ihrer schicksalhaften Bewohner zu erzählen. Es ist, in so dichter Folge betrachtet, ein euphorisierendes Erlebnis. Ein Erlebnis, das viele Theaterenttäuschungen der letzten Zeit wettmachen und fortan als Gegenargument in allen pessimistischen Gesprächen über den Zustand der deutschen Bühne dienen kann. Hier in Hamburg feiert das erzählerische Theater einen Triumph, hier bringen herausragende Schauspielerinnen und Schauspieler Stimmen und Stimmungen zu Gehör, die einem durch Mark und Bein fahren, aber immer wieder auch ausgelassenes Gelächter erlauben – jedes Mal springt das Publikum am Ende der Vorstellungen von seinen Sitzen empor und applaudiert emphatisch. So laut rufen die Hamburger an diesem Wochenende Bravo, als wollten sie damit der ganzen Theaterwelt zu verstehen geben: Das ist das, was wir sehen wollen.

Und in der Tat kann man den Erfolg von Karin Beiers Antiken-Marathon, der im letzten Herbst auf verschiedene Premierenabende verteilt uraufgeführt wurde und hier jetzt im Ganzen zusammenhängend zu sehen ist, kann man diesen Erfolg als Paradigma lesen. Als Comeback einer Theaterform, deren Schlagkraft zuletzt zunehmend infrage gestellt, verächtlich gemacht und totgesagt wurde, und zwar von jenen leichtgewichtigen Siegertypen, die aus ihren Züricher, Münchener oder Berliner Boxringecken triumphierend auf das angeblich k. o. gegangene Schauspielertheater herabschauten. Die suggerierten, dass das Theater nur noch da als fortschrittlich gelten könne, wo es möglichst wenig mitreißenden Zusammenhang und möglichst viel digital aufbereitetes gutes Gewissen anbiete. Die ihrem Publikum die Sehnsucht nach Aufregung und Anteilnahme abtrainieren wollten und es stattdessen im moralisch korrekten Kichern unterrichteten. Einem Kichern, das immer etwas verdruckst und provinziell wirken musste, wenn jemand gerade aus London, Warschau oder New York kam und von einem mitreißenden Theaterbesuch dort berichtete.

So etwas haben wir jetzt wieder selbst. Ein großes Schauspielfest, eine kleine Bühnensensation. Und natürlich ist es kein Zufall, dass kein Brecht- oder Lessing-Marathon, sondern ein Antiken-Projekt Anlass für dieses besondere Vorkommnis ist. Die Auseinandersetzung mit dem Ur-Typischen, Archaischen also, mit dem, was uns im Innersten noch immer stört, erregt, böse macht. Es ist der Versuch, die Mythen, die sich um die Stadt Theben ranken und die vom griechischen Dramatiker-Dreigestirn Euripides, Aischylos und Sophokles zu überzeitlich gültigen Theaterstücken verwebt wurden, unter dem Titel „Anthropolis“ neu zu erzählen. Unserer Zeit zugänglich zu machen. Anthropolis – die Stadt des Menschen. Der Mensch gründet eine Stadt. So fängt es an. Er gründet sie nicht nach den Regeln der Kommunikationstheorie, sondern nach den Gesetzen der Gewalt, auf blutigem Boden und zerfetzten Leibern. „Gewalt zeugt Rache, und Rache zeugt Gewalt“ – das ist der leidvolle Leitsatz, der über allen Episoden steht.

Eigene Ordnungsidee

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Maximilian Scheidt und Paul Behren als Eteokles und Polyneikes im Bruderkampf

Die Aufführungen beginnen stets mit körperlicher Arbeit. Im Regen schaufeln die Bewohner Thebens Mulch auf einen Haufen. Verausgaben sich, um eine erste Ordnung zu schaffen. Und mit der Ordnung gleich auch eine Hierarchie: Es entsteht eine Anhöhe, auf der ein kleiner Thron Platz findet. Später wird König Ödipus Erde in einer Schubkarre herankarren, um den wackligen Grund, auf dem seine Herrschaft ruht, etwas auszugleichen. Und dann wuchtet sein Sohn Eteokles kreideweiße Steinquader aufeinander, zum Schutz gegen seinen rachsüchtigen Bruder. Bevor schließlich deren Schwester Antigone mit ihren Fingernägeln Staub zusammenkratzt, um den toten Körper des Verstoßenen zu bedecken – und damit ihre eigene Ordnungsidee über die allgemein gültigen Gesetze stellt.

Im Grunde handelt das, was hier an drei langen Abenden gezeigt wird, von immer wieder aufs Neue scheiternden Verfassungsversuchen. Versuchen, ein überzeugendes Mittel zu finden, um eine Stadtgemeinschaft zusammenzuhalten. Erst ist es der Götterglaube, dann die Tradition, später die Vernunft und schließlich die Idee der Humanität. Ein bisschen wirken diese schweißtreibenden Arbeitseinsätze zu Beginn jeder Aufführung aber auch wie autogene Trainingseinheiten, um die Gewichte der Gegenwart abzutragen. Sich durch die physische Anstrengung von allzu leichtfertigen Transformationsgedanken zu entledigen, es sich ein bisschen schwerer zu machen mit dem Verhältnis von Mythos und Moderne. Genau diesem Motto jedenfalls folgt die dramatische Vorlage. Der nicht nur adaptierende, sondern auch fortschreibende Autor Roland Schimmelpfennig hat fußend auf den antiken Texten eine eigene Art erfunden, um vom thebanischen Unheil zu erzählen. In einer wilden, nicht immer ausgewogenen, aber doch oft überraschenden Mischung von klassischem Duktus und kolloquialer Unterbrechung, von Understatement und hohem Ton, gleitet er en passant ins Mythologische ab, holt mit ein paar lapidaren Zwischenbemerkungen Luft und schafft in wenigen Sätzen einen übersichtlichen Handlungszusammenhang. Der Zweifel bestimmt dabei Takt und Gestus einer Geschichte, die „schon sehr lange her scheint, wenn sie überhaupt passiert ist“.

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Ernst Stötzner und Lina Beckmann im „Dionysos“-Teil

Im Rausch der Taiko-Trommeln

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Revolutionäre Tochter: Lilith Stangenberg als Antigone

Es geht zurück in eine Zeit, in der die Menschen barfuß liefen und zwischen Gottesfurcht und rauschhafter Ekstase hin und her schwankten: Dionysos verführt aus Wut über den lustfeindlichen, auf hohem Ross reitenden Herrscher Pentheus (Kristof Van Boven auf einem echten Schimmel) die thebanischen Frauen. Benebelt ihre Sinne mit dem, was die virtuose Lina Beckmann in einer Umbauphase als durchgeknallte Sommelière dem Publikum höchst unterhaltsam anbietet: Wein. In ihrem wahren Rollenleben spielt sie Agaue, jene grausam geschlagene Mutter, die ihren eigenen Sohn abschlachtet, weil sie ihn im Rausch der Taiko-Trommeln für einen Löwen hält. Wie die Beckmann hier am Ende des „Dionysos“-Teils die Überreste des zerfetzten Kindskörpers zusammensucht, immer wieder die Mülleimer tauscht, in denen die blutigen Überreste vorsortiert sind, das ist ein sich tief ins Bewusstsein brennendes Bild. Eines, das es mit der Agaue Edith Clevers, die in der legendären „Bakchen“-Inszenierung von Klaus Michael Grüber den Kopf ihres Sohnes mit blutverschmierten Händen hoch in den Himmel streckte, durchaus aufnehmen kann.

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Ganz eigene Aggressivität: Lilith Stangenberg als Antigone

Götterfurcht hat Vorteile

Der zweite Teil handelt von Laios, dem pädophilieverdächtigen Vater des Ödipus (F.A.Z vom 2. Oktober 2023). Schimmelpfennig hat hier verloren gegangene Erzählstränge rekonstruiert und hinzuerfunden, es ist mithin die originellste Adaption, dargeboten als eine Solonummer von der mit Abstand originellsten Schauspielerin des Ensembles: Lina Beckmann. Wie sie hier die Mauerschau mit der Slapstick-Einlage mischt, immer wieder komödiantisch Luft holt, um das Grausame zu verkraften, das ist an Virtuosität kaum zu übertreffen. Durch ihr Spiel wird die besondere Anziehung der antiken Grundlage für das zeitgenössische Theater am deutlichsten spürbar: Wo Fest und Furchtbarkeit so nah beieinanderliegen, jede Entscheidung ein Schicksalsschlag ist und das Animalische den Menschen noch ganz bestimmt, muss sich der moderne Dramatiker über Cliffhänger keine Gedanken machen. Die antike Welt wird hier zur Schule des Zweifels am performativen Wert der Aufklärung und ihrer Folgen. Dass allein die Vernunft den Menschen frei macht, mag politisch stimmen – ästhetisch gesehen haben Götterfurcht und Schicksalsglaube durchaus Vorteile.

Am nächsten Abend dann der klassischste Teil: Ödipus. Karin Neuhäuser gibt als knarzige Orakel-Priesterin zu Beginn den Ton vor: „Wenn das Herz denken könnte, stünde es still.“ Der Gedanke allein reicht in dieser Entwicklungsphase noch nicht zum Überleben. Es braucht die metaphysische Zusatzversicherung: „Glauben ist schwierig, aber nicht glauben ist unmöglich.“ Die Frage wird zum Kriterium eines frommen Geistes. Und Ödipus, der erst das Rätsel der Sphinx löst und dann die eigene Verfluchung erkennt, wird zum blinden Seher. Devid Striesow gibt diesen König der Schmerzen als Kippfigur. Erst plappernder Provinzpolitiker, dann gestürzter Märtyrer, der seinen Schwager Kreon verzweifelt anfleht: „Nimm mir nicht die Kinder.“ Striesow legt seine Rolle mit brillanter Nervosität an und schenkt dem Publikum am Ende ein paar Augenblicke wahrer Empfindung. Von der Empore kommentiert ein Chor das Entsetzliche, und vorne am Bühnenrand wird man Zeuge riskanter Dialoge – das ist eine der Leistungen von Beiers Regie, dass sie nicht nur Mut zu Monologen, sondern auch zu Dialogen hat, die Spannung immer wieder aus dem Zwiegespräch heraus entwickelt.

Interludium vor dem Abschluss

„Iokaste“, der vierte Teil, fällt im Vergleich zu den anderen deutlich ab. Hier scheitert Schimmelpfennigs Versuch, die zeitgenössische Nachrichtenlage (Abzug der Amerikaner aus Kabul?) mit dem thebanischen Bruderkampf zwischen Eteokles und Polyneikes zu assoziieren. Die Worte wirken oft zu klein für den großen Ausdruck, den ihnen die Spieler geben. Selbst die konzentrierte Julia Wieninger kann als Iokaste trotz spektakulärer Körperbemalung kein tieferes Beben auslösen. Was bleibt, sind ein paar markierte Martialitäten und das uneingelöste Schreckbild einer Mutter, die auf dem Schlachtfeld nach ihren verlorenen Söhnen sucht. Im Zusammenhang mit den anderen Teilen nimmt man den Abend trotzdem hin, sieht ihn als Interludium vor dem großen Abschluss.

In Gestalt von Lilith Stangenbergs Antigone hockt der im weißen Büßerhemd auf einer von Kalkstaub bedeckten Fläche. Von Beginn an hat diese selbstmörderische Revolutionärin den Wahn im Auge, ist sie auf dem Trip einer neuen Empfindsamkeit. Gegen Kreon (altmeisterlich: Ernst Stötzner), der als König das Gesetz des Staates und die mühsam hergestellte Ordnung verteidigt, schleudert sie den Brandsatz emotionaler Selbstgerechtigkeit: „Um deinen Sohn zu lieben, brauchst du ein Gesetz?“ Stangenberg bringt nochmals einen ganz neuen Ton, eine ganz eigene Aggressivität mit ins Spiel. Ihr reicht der Glaube an das Gute, ihre unbedingte Neigung aus, um wider die Anordnung zu handeln und den Körper des geliebten Bruders zu begraben. Für ihr Gefühl bricht sie das Gesetz und wird für ihren Ungehorsam mit dem Kerkertod bestraft. Am Ende hat in Theben nicht das humanitäre Chaos, sondern die prinzipientreue Ordnung gesiegt – aber zu welchem Preis? Von „Antigone“ führt ein Weg zu Kleists „Prinzen von Homburg“. In diesem Sinne endet der Antikenausflug, wie er begann, mit der gellenden Prophezeiung der Sphinx: „Das hört nicht auf! Wann hört das auf?“

Alle fünf bis sieben Jahre führt die Antike das Gegenwartstheater in Versuchung. Vom schon erwähnten Schaubühnen-Marathon Anfang der Siebzigerjahre über das Atriden-Projekt von Ariane Mnouchkine bis zu Jan Fabres „Mount Olympus“ und Christopher Rüpings „Dionysos Stadt“ reicht das Archiv der Adaptionen. Das Hamburger „Anthropolis“-Projekt gehört fortan in diese Reihe und ist mit Recht zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Das ist der Lohn für eine drei Jahre dauernde Vorbereitungszeit und einen dramaturgischen Radikalismus, der an deutschen Theaterhäusern selten geworden ist. Wer die Antike, dieses uns „nächste Fremde“ (Uvo Hölscher) wirklich einmal aus der Nähe betrachten will, sollte zu einer der nächsten Marathon-Aufführungen nach Hamburg fahren.

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