Studie: Altersverifikation im Netz ist nötig, in Demokratien aber nicht machbar

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Studie: Altersverifikation im Netz ist nötig, in Demokratien aber nicht machbar

Von vielen Seiten werden die Rufe nach Online-Alterskontrollen lauter. Forscher beäugen das Instrument im Auftrag der Grünen im EU-Parlament aber skeptisch.

Kinder machen einen erheblichen Teil der Internetnutzer aus. Deshalb sei es “zwingend erforderlich, eine sichere Online-Umgebung zu schaffen”, konstatieren Martin Sas vom Zentrum für IT- und Immaterialgüterrechte an der Katholischen Universität Löwen und Jan Tobias Mühlberg, Professor für Cybersicherheit und Datenschutz an der Freien Universität Brüssel, in einer jetzt veröffentlichten Studie für die Fraktion der Grünen im EU-Parlament. Zugleich geben sie aber zu bedenken: Derzeit existiere “keine Alterssicherungsmethode, die die Grundrechte des Einzelnen angemessen schützt”.

Die meisten Anbieter von Online-Inhalten, die nur für Erwachsene zugänglich sein sollten, verlassen sich der Untersuchung zufolge “auf eine Selbstdeklaration des Alters ohne weitere Überprüfung”. Dies habe sich als unwirksam und leicht zu umgehen erwiesen. Daher drängten Regierungen weltweit auf die Einführung robuster Online-Altersverifikationssysteme (AVS). Auch in Europa seien dazu einige Gesetze bereits in Kraft getreten oder in der Mache.

In demokratischen Gesellschaften halten die Wissenschaftler die Technik aber nicht für einsatzfähig. “Zu den mit der Umsetzung der Alterssicherung verbundenen Risiken gehören Eingriffe in die Privatsphäre, Datenlecks, Verhaltensüberwachung, Identitätsdiebstahl und eingeschränkte Autonomie”, resümieren sie. Ferner sei zwar keine der untersuchten einschlägigen Verfahren imstande gewesen, “das Alter des Nutzers mit Sicherheit” zu bestätigen. Die Umsetzung solcher Maßnahmen könnte jedoch “die bestehende Diskriminierung bereits benachteiligter Gruppen der Gesellschaft verschärfen, die digitale Kluft vergrößern und zu weiterer Ausgrenzung führen”.

Erhebliche Sicherheits- und Ausschlussrisiken

Vielversprechende Techniken zum Schutz der Privatsphäre wie das Spiel mit digitalen Identitäten seien zwar in der Entwicklung, heißt es in der Analyse. Diese könnten eine anonyme Alterskontrolle ermöglichen. Es bestünden aber auch damit erhebliche Sicherheits- und Ausschlussrisiken. Zudem gelte es, noch einige Herausforderungen bei der Umsetzung dieser Technologien zu meistern. Denn aktuell gebe es keinen europaweiten technischen und rechtlichen Rahmen, der ihre breite Einführung unterstütze.

Um die Grundrechte aller Nutzer im Internet zu gewährleisten, besteht laut den Autoren “ein dringender Bedarf an verbindlichen Risikobewertungen”. Diese müssten Folgenabschätzungen etwa zu Meinungs-, Diskriminierungs- und Versammlungsfreiheit, Datenschutz sowie Kinderrechten enthalten. Sie sollten darauf abzielen, ein Gleichgewicht zwischen all diesen Ansprüchen zu finden. Ferner sei ein umfassender Rahmen aus Standards, Zertifizierungssystemen und unabhängigen Kontrollen erforderlich, “um die Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit von Alterssicherungsmaßnahmen und die Rechenschaftspflicht von Technologieanbietern zu gewährleisten”.

Verpflichtende Alterskontrollen im Netz könnten “die Fähigkeit des Einzelnen einschränken, sich frei zu äußern und mit anderen in Kontakt zu treten”, unterstreichen die Verfasser. Dies betreffe gerade bereits marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die etwa nicht über die Möglichkeit einer elektronischen Identifizierung verfügten oder für die sich eine automatisierte Gesichtserkennung technisch oder persönlich als unpraktikabel erwiesen.

Kinder müssen für problematische Inhalte “geimpft” werden

Nicht zuletzt könnten zwingende AVS der Studie zufolge die Entwicklung von Kindern selbst behindern, “indem sie ihnen den Zugang zu bestimmten Inhalten oder Diensten verwehren”. Einschlägige Ressourcen hälfen dem Nachwuchs oft, “ihre Fähigkeiten und Medienkompetenz zu verbessern”. Dies gelte vor allem beim Erkennen und Umgang mit bestimmten Risiken etwa in sozialen Medien oder beim Umgang mit schwierige persönlichen Lebenssituationen. Unter diesem Aspekt könnten alternative Schutzmaßnahmen wie sicherere algorithmische Empfehlungen, Warnungen vor schädlichen Inhalten oder “Panik-Buttons” besser geeignet sein, Kinder bei ihrer Erkundung der Online-Welt zu unterstützen.

Die Forscher zeigen insgesamt “ein Missverhältnis zwischen der Dringlichkeit” auf, mit der Regierungen Alterskontrollen einführen wollen, und der benötigten Zeit für die Entwicklung robuster, sicherer und vertrauenswürdiger AVS. Die größte Gefahr liege in der Einführung von Sicherheitslösungen ohne angemessenen Schutz der Grundrechte, was zu übermäßigen Eingriffen in die Privatsphäre und einem erhöhten Risiko von Datenlecks und -missbrauch in der gesamten Online-Welt führen könnte.

Aktuell drängt etwa die EU-Kommission mit ihrem Vorstoß zur Chatkontrolle darauf, dass alle Anbieter von Hosting- oder interpersonellen Kommunikationsdiensten eine Risikobewertung zum möglichen Missbrauchs ihrer Dienste für die Verbreitung von bekanntem oder neuem Material über sexuellen Kindesmissbrauch oder für Grooming vornehmen. Zudem sollen sie dabei bereits ergriffene Abhilfemaßnahmen schildern wie einen AVS-Einsatz. Anbieter von App-Stores müssten eine Altersüberprüfung durchführen. Das EU-Parlament will diese Auflagen abmildern.

Alterskontrolle in der Politik en vogue

Auch die überarbeitete Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste (AVMD) verlangt strenge Maßnahmen wie den Einsatz von Systemen zur Altersverifikation im Kampf etwa gegen gewalttätige Pornografie. Damit werden vor allem Streaming-Plattformen stärker in Anspruch genommen. Derzeit treibt die irische Medienaufsicht CNAM ein Gesetz voran, das Plattformbetreibern auf dieser Basis Alterskontrollen vorschreiben würde. In Irland haben etwa YouTube, TikTok sowie Meta (Facebook und Instagram) ihren europäischen Hauptsitz.

Für sehr große Plattformen gilt zudem die Empfehlung aus dem Digital Services Act (DSA), AVS einzuführen, um systemische Risiken zu reduzieren. Ferner soll die geplante Reform des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) Anbieter von Betriebssystemen wie Google, Microsoft und Apple zum Einbau von Filtern verpflichten, sofern sie von Kindern und Jugendlichen “üblicherweise” genutzt werden. Webseiten-Betreiber müssen auf eine Alterseinstufung “durch eine deutlich wahrnehmbare Kennzeichnung zu Beginn des Angebots hinweisen”.

In Großbritannien wird der Jugendschutz mit dem Online Safety Bill noch einmal verschärft werden. Mit dem im Herbst beschlossenen Gesetz werden neben Erotik-Portalen wie Pornhub oder xHamster auch die Betreiber von sozialen Netzwerken und andern Diensten, die potenziell pornografische Inhalte verbreiten, ausdrücklich dazu verpflichtet, “hocheffektive” Maßnahmen zur Altersverifikation oder -schätzung einzusetzen.

Felix Reda von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) warnte schon voriges Jahr nachdrücklich vor einer Pflicht zur Altersverifikation. Damit würde nicht nur die Anonymität im Netz untergraben. Kinder hätten zudem oft noch gar keine Identifikationsmöglichkeit, sodass nur eine sehr invasive und fehleranfällige “biometrische Erfassung” in Frage käme. Alternative App-Stores wie F-Droid und viele Open-Source-Projekte könnten eine Altersprüfung zudem mit ihren dezentralen Strukturen nicht stemmen.

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