Streit um die Schuldenbremse: Unfreiwilliges Eingeständnis

streit um die schuldenbremse: unfreiwilliges eingeständnis

Strikt gegen die Lockerung der Schuldenbremse: Bundesfinanzminister Christian Lindner während einer Debatte im Bundestag über den Haushalt.

Seit Monaten wettert Christian Lindner gegen eine Lockerung der Schuldenbremse. Nun zeigt ausgerechnet ein Bericht seines Hauses, dass es sehr wohl Spielraum für ein höheres Defizit gibt.

Unfreiwilliges Eingeständnis

Auf den ersten Blick ist es eine dieser Pressemitteilungen, die die Welt nicht braucht. Trotz beachtlicher Länge enthält sie kaum mehr als die üblichen Positionen des Bundesfinanzministers: Um den Kampf gegen die Inflation nicht zu konterkarieren und Puffer für schlechte Zeiten aufzubauen, führe man die Haushaltsdefizite und die Schuldenquote der öffentlichen Hand weiter zurück. So heißt es in der Erklärung, mit der das Haus von Christian Lindner diese Woche die Fertigstellung des von der EU geforderten jährlichen “Stabilitätsprogramms” bekannt gab. Zugleich investiere die Regierung weiter in eine moderne, digitale und klimaneutrale Republik – unter Einhaltung der Schuldenbremse, die “als zentrales Element der deutschen Finanzpolitik” zur Priorisierung von Ausgaben zwinge und die Rückkehr auf den Kostenpfad der Zeit vor der Corona- und der Ukraine-Krise sicherstelle. So weit, so bekannt.

Bei genauerem Hinsehen aber ist es die vielleicht spannendste Ministeriumsmitteilung der vergangenen Monate. Denn in den mitgelieferten Tabellen wird ganz nebenbei eine wichtige These bestätigt, die führende Volkswirte in der Debatte über eine Lockerung der Schuldenbremse immer wieder vorbringen: dass etwas höhere Budgetdefizite der öffentlichen Hand möglich sind, ohne dass die Politik damit den Marsch in den Schuldenstaat antritt. Ja, mehr noch: Das Stabilitätsprogramm lieferte das amtliche Attest, dass die Verbindlichkeiten von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den kommenden Jahren sogar sinken dürften. Und das, obwohl alle staatlichen Ebenen im selben Zeitraum weiter Fehlbeträge auftürmen werden, die über die zulässigen Grenzwerte der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse hinausreichen.

Konkret rechnet das Finanzministerium für dieses Jahr mit einer gesamtstaatlichen Neuverschuldung von eindreiviertel Prozent des BIP. In den Jahren 2025 bis 2028 werden die Defizitquoten demnach zwischen einem und eineinhalb Prozent liegen. Gleichzeitig sinkt die Staatsschuldenquote laut Stabilitätsprogramm von derzeit 64 auf 62 Prozent – weil die Wirtschaft stärker wächst als die Kreditsumme. Das ist höchst bedeutsam, da aus ökonomischer Sicht das Verhältnis der Verbindlichkeiten zum BIP sehr viel relevanter ist als ihre absolute Höhe. Denn: Ob sich eine Staatsschuld von beispielsweise einer Milliarde Euro zum Problem auswachsen kann oder nicht, hängt natürlich davon ab, ob der Kreditnehmer ein kleines, armes Entwicklungsland ist oder eine große, reiche Volkswirtschaft. Mit gut 60 Prozent liegt Deutschland am untersten Ende der führenden Industrienationen. Viele andere Länder – wie etwa die USA – weisen doppelt so hohe Quoten auf.

Experten plädieren für die Anhebung der Defizitgrenze auf ein Prozent

Auch Lindner-freundliche Volkswirte etwa in der Bundesbank oder im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung haben deshalb in den vergangenen Monaten deutlich gemacht, dass sie die geltenden Defizitregeln in Deutschland angesichts des enormen Investitionsbedarfs für zu rigide halten. Eine Nettokreditaufnahme über die Verfassungsgrenze von 0,35 Prozent des BIP hinaus sei problemlos möglich. In der Diskussion ist etwa ein neues Limit von einem Prozent des BIP.

Lindners Haus, das eine Lockerung der Schuldenbremse weiter ablehnt, argumentiert nun, dass die im Stabilitätsbericht für die EU angegebenen Defizitzahlen anders berechnet würden als die für den Bundeshaushalt relevanten Daten. Das ist zutreffend, weil zum Beispiel die Schuldenaufnahme für das Sondervermögen der Bundeswehr zwar für die EU-Quote, nicht aber für die Verfassungsregel relevant ist. Vielmehr berücksichtigt die Schuldenbremse nur die Defizite in den Kernhaushalten.

Von 2028 an aber müssen die höheren Verteidigungsausgaben aus eben jenem Kernetat bezahlt werden, weil das Sondervermögen aufgebraucht sein wird. Eine Finanzierung über Kredit wäre dann nur noch zulässig, wenn anderswo im Budget kräftig gespart würde. Oder aber: Die Schuldenbremse würde gelockert. Die Zahlen des neuen Stabilitätsberichts machen nun deutlich, dass das entgegen allen politischen Parolen ohne ökonomischen Schaden möglich wäre.

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