Streit über Erinnerungskultur: Gedenkstättenleiter Oliver von Wrochem über die Kritik an Claudia Roth

Gedenkstättenleiter Oliver von Wrochem kritisiert Claudia Roths Pläne für eine erweiterte Erinnerungskultur – um Themen wie Kolonialismus etwa. NS- und SED-Verbrechen dürften nicht relativiert werden.

streit über erinnerungskultur: gedenkstättenleiter oliver von wrochem über die kritik an claudia roth

Streit über Erinnerungskultur: Gedenkstättenleiter Oliver von Wrochem über die Kritik an Claudia Roth

SPIEGEL: Herr von Wrochem, die Leiterinnen und Leiter der Gedenkstätten ärgern sich über ein Papier von Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Warum sorgen ihre dort enthaltenen Vorschläge zur Erinnerungskultur für so großen Unmut?

Wrochem: Uns liegt daran, dass mit der Überarbeitung des bestehenden und bewährten Gedenkstättenkonzeptes von 2008 dessen sinnvolle Fokussierung nicht verloren geht.

SPIEGEL: Wie würden Sie diese benennen?

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Wrochem: Das bisherige Konzept des Bundes berücksichtigt Gedenkstätten zu staatlichen Gewaltverbrechen im Nationalsozialismus und in der DDR. Nun sollte dem Entwurf aus Berlin zufolge auch an andere Entwicklungen angeknüpft werden, die sich weit von Gedenkstätten entfernen, wie der Kolonialismus, aber auch die Demokratiegeschichte oder die Migrationsgeschichte.

SPIEGEL: Und das wäre ein Problem?

Wrochem: Wenn viele doch sehr verschiedene Aspekte der gegenwärtigen Erinnerungskultur nebeneinander auf der Agenda liegen und diese zu wenig in Bezug zueinander gesetzt werden und vor allem nichts priorisiert wird, dann stimmt uns das skeptisch. Denn wir haben eine besondere Verantwortung in diesem Land für die Gedenken an die beiden Gewaltregime, und das sollte auch im neuen Konzept deutlich werden.

SPIEGEL: Die Stellungnahme der betreffenden Verbände von Gedenkorten war ungewöhnlich scharf, vor einer drohenden Verharmlosung der NS-Verbrechen wurde gewarnt. Inzwischen haben sich die Verbände über das weitere Vorgehen abgestimmt. Was kam dabei heraus?

Wrochem: Die 40 Unterzeichner vertreten mehrere hundert Gedenkstätten. Wir sprechen uns dafür aus, die bestehende Konzeption des Bundes weiterzuentwickeln, statt sie zu ersetzen. Dazu haben wir Leitlinien verfasst.

SPIEGEL: Sie entwickeln einen Gegenentwurf zu Claudia Roths Konzept?

Wrochem: Nein, wir verstehen es als Angebot. Wir bereiten uns auf den weiteren Austausch mit dem Bund vor. Immerhin sind wir doch eine heterogene Gruppe – manche werden vom Bund gefördert, andere sind rein länderfinanzierte, auch kommunale Einrichtungen – und haben uns auf Punkte verständigt, die uns allen wichtig sind.

SPIEGEL: Nämlich?

Wrochem: Den Schwerpunkt sollen weiterhin die von großen Teilen der Bevölkerung getragenen staatlichen Verbrechen der Vergangenheit bilden, die der SED- und die der NS-Diktatur. Wir haben uns darüber ausgetauscht, inwieweit die Kolonialverbrechen als staatlich verübte Verbrechen aufgenommen werden sollten. Hinzu kommen übergreifende Fragestellungen: Wie stellen wir dar, dass Demokratien in Diktaturen umschlagen können? Wie können wir dazu dem Aspekt der Täterschaft, aber auch dem Widerstand mehr Gewicht geben? Diese und andere Punkte stecken aber nur einen Rahmen ab.

SPIEGEL: Die Kulturstaatsministerin hat bereits Ideen formuliert und wird nicht von jeder abweichen wollen. Womöglich auch nicht von der, dass der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds, kurz NSU, einbezogen wird. Was stört Fachleute wie Sie daran?

Wrochem: Wir sehen eine Gefahr in dem Nebeneinanderstellen von Verbrechenskomplexen, die dafür doch zu unterschiedlich sind. Wir müssen trennen zwischen Formen der Gewalt in gesamtstaatlicher Verantwortung und Formen des Terrors von Gruppen oder Individuen.

SPIEGEL: Es geht beim NSU auch um rechte Gewalt.

Wrochem: Natürlich sollte allen Opfern gedacht werden, aber dafür sollte es unterschiedliche Ansätze geben. Wir müssen uns den unterschiedlichen Themen mit der gebotenen Intensität widmen, aber nicht dadurch, dass wir es in ein Gesamtkonzept zwingen.

SPIEGEL: Der Kulturstaatsministerin geht es ihrem Rahmenentwurf zufolge um die Teilhabe von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte, die sie offensichtlich auf verschiedenen Ebenen ansprechen möchte.

Wrochem: Ein Viertel der Menschen in Deutschland haben jemanden mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in der Familie. Wie sich die Gesellschaft verändert hat und weiter verändert, geht uns alle an. Ein Beispiel: Eine Million Geflüchtete kommen aus der Ukraine, und deren Vorfahren wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer deutscher Verbrechen. Überhaupt müssen wir auch das immer wieder vermitteln: wie weit die NS-Gewalt reichte. 90 Prozent der Opfer des KZ Neuengamme kamen aus den besetzten Ländern Europas. Die Nachkommen dieser Verfolgten leben auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland und haben Fragen, denen wir uns stellen müssen.

SPIEGEL: Dass die Deutschen auch die Kolonialgeschichte stärker berücksichtigen müssen – darin sind sich Gedenkstätten und Regierung einig. Zugleich ist es ein großes Streitthema dieser Jahre, ob man die Verbrechen des Kolonialismus und jene der NS-Diktatur gleichberechtigt nebeneinander stellen darf. Manche fürchten eine Relativierung des Holocaust. Wie denken Sie darüber?

Wrochem: Als Historiker plädiere ich dafür, die Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wir müssen nach den Ähnlichkeiten, allerdings auch nach den Unterschieden fragen. Erst dann wird die Präzedenzlosigkeit des Holocausts fassbar. Ich kann auch Rassismus und Antisemitismus vergleichen, ich darf sie aber nicht gleichsetzen. Eines müssen wir bedenken.

SPIEGEL: Was?

Wrochem: Noch haben wir keine Gedenkstätten zum Thema Kolonialismus, die Verbrechen fanden ja außerhalb Deutschlands statt. Und das Kaiserreich war keine Diktatur. Aber es gibt dennoch Orte, die die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe befördern können. Manche stellen sich dafür einen zentralen Ort in Berlin vor, andere – wie ich – sind für dezentrale Strukturen. Und zwar auch in Städten wie Hamburg oder Bremen, die eine ausgeprägte koloniale Vergangenheit haben. Es geht auch darum, die im deutschen Kolonialismus verübten Verbrechen gut zu gewichten. Wir waren schon einmal in einer ähnlichen Lage.

Weshalb die Kolonialverbrechen ins Konzept passen

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Wrochem: Als es darum ging, die SED-Verbrechen zu berücksichtigen. Diese Verbrechen sollten nicht bagatellisiert werden, und das Gedenken an sie durfte zugleich nicht die NS-Gewalt relativieren. Und das funktioniert meines Erachtens ganz gut. Und es hat sich gezeigt, wie hilfreich es ist, an konkrete Orte zu gehen, an denen Gewalt geplant oder ausgeübt wurde. Diese Orte sind an sich schon Zeugen, sie helfen dabei, Geschichte erfahrbar zu machen. Koloniale Verbrechen wurden von Deutschland aus geplant, und hier wurde auch von ihnen profitiert.

SPIEGEL: Das sieht man zum Beispiel in Völkerkundemuseen, die sich mittlerweile ethnologische Museen nennen. Sie wurden oft nur deshalb gebaut, um die prächtigsten Beutestücke – von Booten bis zu aufwendigen Bronzefiguren – lagern und zur Schau stellen zu können.

Wrochem: Diese Museen haben in den vergangenen Jahren bereits zu einem klugen Umgang mit dem kolonialen Erbe gefunden. Sie machen eine sehr gute Arbeit, bei der wir ansetzen können. Wir fangen also nicht bei null an.

SPIEGEL: Die Debatte über die insgesamt mangelnde Aufarbeitung des Kolonialismus wird seit Jahren geführt. Für immer mehr Menschen in der Welt steht der Gazastreifen für den alten und neuen Kolonialismus. Die Solidarität ist wegen der hohen Opferzahlen international groß, geht aber auch einher mit einem zunehmenden Antisemitismus. Tragen die Besucher diesen Konflikt in die Gedenkstätten hinein?

Wrochem: Die Konzentrationslager-Gedenkstätten stehen hier nicht im Zentrum. Der Konflikt betrifft uns aber schon, weil wir eng mit jüdischen Einrichtungen kooperieren, ein Teil unserer Mitarbeitenden einen jüdischen Hintergrund hat und wir uns alle um die Entwicklung in Nahost sorgen. Immer noch reisen auch Überlebende an, zum Beispiel zu unserer jährlichen zentralen Gedenkfeier am 3. Mai. Darunter sind israelische Bürger, die nun auch mit den Angriffen des 7. Oktober umgehen müssen. Stärker spüren wir in der täglichen Arbeit an den Gedenkstätten den Zuwachs an rechtsextremen Positionen mit dem Erstarken der AfD.

SPIEGEL: Welche Rolle spielt da das Festhalten an der politischen Unabhängigkeit der Gedenkstätten?

Wrochem: Auf die dürfen wir nicht verzichten, weil sie uns vor direkten Einflussnahmen der Politik schützt. In Hamburg ist der Einfluss der AfD noch sehr begrenzt. Aber Kolleginnen und Kollegen gerade in den neuen Bundesländern haben ganz konkrete Befürchtungen für die Zukunft.

SPIEGEL: Haben wir uns in diesem Land auch zu sicher gefühlt? Hielten wir uns für gewappnet gegen rechte Tendenzen, nicht zuletzt auch wegen unserer scheinbar funktionierenden Gedenkkultur?

Wrochem: Die Radikalisierungstendenzen im Land sind doch kein Problem der Gedenkstätten, sondern der Gesellschaft! Es war schon immer ein Irrglaube, dass sich geschichtsbewusste Verantwortungsübernahme delegieren lässt. Die Auseinandersetzung mit Ausgrenzungsideologien ist Aufgabe aller Bürger in einer Demokratie. Gedenkstätten können nur stark sein, wenn sie gesellschaftlich fest verankert sind. Und dass es sie gibt, ersetzt kein Nachdenken über die Vergangenheit und Engagement für die Demokratie an anderer Stelle. Gedenken muss Teil des Alltags sein, und das heißt nicht, dass wir uns jeden Tag an Verbrechen erinnern.

SPIEGEL: Sondern?

Wrochem: Dass wir uns bewusst machen, warum eine demokratische Gesellschaft und die mit ihr verbundene Freiheit wichtig und wertvoll ist, warum wir sie schützen sollten. Ich habe mich sehr viel mit dem Thema Familiengeschichte befasst, auch mit Mittäterschaft. Viele Menschen, die sich hier heute antisemitisch oder rassistisch äußern, sind Enkel von Tätern und Mitläufern. Über diese familiären Kontinuitäten wird viel zu wenig gesprochen. Sie selbst reflektieren es nicht, die meisten anderen aber auch nicht. Es ist aber notwendig, diese Frage zu stellen: Warum führen Menschen Traditionen der Ausgrenzung fort, deren schreckliche Konsequenzen in Deutschland sie doch kennen?

SPIEGEL: Und doch hat die Regierung die Pflicht, die Auseinandersetzung mit der staatlichen Gewalt zu fördern. Ein neues oder auch nur überarbeitetes Konzept könnte zu einer neuen Ausrichtung des Gedenkens führen – wie blickt man zurück, wie blickt man auf dieser Grundlage auf die Gegenwart? Bis Herbst soll das Konzept bereits fertiggestellt sein. Reicht die Zeit überhaupt?

Wrochem: Mir erscheint es sehr ambitioniert. Eine erste Gedenkstättenkonzeption wurde in den Neunzigerjahren von einer Enquete-Kommission des Bundestages auf den Weg gebracht. Das war ein aufwendiger Prozess, der ist in vergleichbarer Form in dieser Dauer nicht zu schaffen. Am Ende bleibt es ein Gedenkstättenkonzept des Bundes. Wir können nur anbieten, konstruktiv mitzuarbeiten, damit es ein gutes Konzept wird.

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