Er wirkt, als könnte er jeden Moment aufspringen und losbrüllen: Lars Eidinger als ungeliebter Sohn in „Sterben“
Es gibt Filmtitel, die lassen wenig zu wünschen übrig. Die sind so groß, so wichtig, so über allem, dass man sich ihrem Klang fast nicht entziehen kann. „Liebe“ von Haneke ist so ein Fall oder „Sehnsucht“ von Visconti, auch bei Lars von Triers „Melancholia“ braucht es keine weitere Erklärung. Eine Gefahr solcher Fundamentaltitel besteht allerdings darin, dass sie nur für sich stehen, dass sie gewissermaßen über den Filmen schweben, die sie eigentlich bezeichnen sollen. Ein bisschen so ist das beim neuen Film von Matthias Glasner, der nach seiner Weltpremiere auf der Berlinale (F.A.Z. vom 18. Februar 2024) jetzt in die deutschen Kinos kommt: „Sterben“ heißt er, und es gibt in den 182 Minuten so manches, was hinter dem Titel zurückbleibt.
Beginnen wir aber mit dem, weshalb sich der Film trotzdem lohnt, was ihn unvergesslich macht. Beginnen wir mit jener Szene am Esstisch von Lissy Lunies, einer todkranken Seniorin, die ihren Ehemann gerade anonym im Wald bestattet hat, nachdem er im Pflegeheim einsam gestorben war. Da sitzt diese krebskranke Frau und legt ihre Hand auf die Tischplatte wie zur Drohung. Schräg gegenüber hat ihr Sohn Platz genommen, Tom Lunies, der es wegen Problemen mit dem E-Auto nicht rechtzeitig zur Beerdigung seines Vaters geschafft hat. Starr sitzen die beiden am Tisch, als wären sie dazu verpflichtet, von höherer Instanz einberufen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Mutter und Sohn – das gilt als unverbrüchliches Bündnis einer bedingungslosen Liebe. Aber schon durch ihre Begrüßung eben, als Tom durch die Haustür trat und seiner Mutter nur widerwillig die Hand schüttelte, wurde klar: Hier begegnen sich nur nahe genannte Fremde. Zwei Menschen, die allein der Verwandtschaftsgrad aneinanderbindet. Und jetzt sitzen sie hier am Tisch im Abstand einer unüberwindlichen Nähe und bringen nur Worte der Ablehnung und des Abscheus hervor. Jeder Satz, der fällt, zerstört ihr Verhältnis aufs Neue. Kein Vertrauen, kein Entgegenkommen, nur Kälte liegt in der Luft. Eisige Kälte. Von wem geht sie aus?
Auf den ersten Blick natürlich von ihr, der Mutter. So kühl wie Corinna Harfouch sie in dieser Szene spielt, so unerschüttert sie erzählt, wie sie Tom als schreiendes Baby einmal vor Wut hat auf den Boden fallen lassen oder doch eher absichtlich geworfen hat, da bleibt kein anderer Schluss als: Sie ist die Böse. Die Unberührbare. Aber dann schwenkt die Kamera auf das Gesicht von Tom, den Lars Eidinger in einem seiner eindrucksvollsten Auftritte seit Langem mit der ganzen Ausdruckskraft des ungeliebten Sohnes spielt. Der Blick bleibt an seinem Mund hängen, an den zum Strich verhärteten Lippen. Eine nur mühsam zurückgehaltene Aggression umspielt diesen Mund, eine über ihn kommende, mit letzter Kraft unterdrückte Gewaltlust, die man von kleinen Kindern kennt, kurz bevor sie zuschlagen. Er wirkt, als könnte er jeden Augenblick aufspringen und losbrüllen. Die Situation am Tisch, das Gespräch mit der Mutter, die schrecklichen Worte, die fallen – all das quält ihn unendlich. Ihn, den Künstler, der als Dirigent auf der Suche nach Erfolg und Anerkennung ist. Einem Gegenargument, um dem von der Mutter vermittelten Gefühl, hinter allen Erwartungen zurückgeblieben zu sein, zu widersprechen. Es ist eine schneidend scharfe Szene, gespielt mit einer ungeheuren emotionalen Präzision, beide Schauspielerseiten gehen mit allem, was an eigenem Trauma in ihnen ist, in den Kampf, so scheint es, und halten sich doch, was Gesten, Mienen und Stimmlagen angeht, vollkommen zurück. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Die Pausen innerhalb ihres Dialogs werden immer länger. Dann hält es Tom irgendwann nicht mehr aus und verliert die Fassung.
Es ist die stärkste Szene des ganzen Films. Ein Inbegriff schauspielerischer Gegenwartskunst, wie sie zwischen zwei Darstellern so nur ganz selten zu sehen ist. Vielleicht ist sie sogar typisch deutsch, typisch zumindest für jene, durch die Berliner Schule perfektionierte Form der emotionalen Zurückhaltung. In ihr erfüllt sich der große Titel am ehesten: Was man hier mit ansieht, viel eher bezeugt, ist der Gefühlstod, das Sterben einer Beziehung zwischen Mutter und Kind.
An der Grenze zur Plattitüde vorbeischrammende Dialoge
Wenn der Film diesen selbst gesetzten Standard gehalten hätte, wäre er ein Kunstwerk geworden. Weil er aber vor allem eine Geschichte – wie man hört, die Geschichte des Regisseurs selbst – nacherzählen will, verliert er sich in immer neuen Ausmalversuchen der Schablone, die das titelgebende Thema eben auch liefert. Es geht um das Sterben der Eltern, das Sterben der klassischen Familie (Tom kümmert sich um das Kind seiner Exfreundin), das Sterben der klassischen Leidenschaft (Ronald Zehrfeld und Lilith Stangenberg sind in einer durchaus imposanten, aber ziemlich zusammenhangslosen Splatterszene zu sehen), sogar um das Sterben des klassischen Sterbens selbst – Tom leistet seinem besten Freund, dem erfolglosen Komponisten Bernard (Robert Gwisdek), nämlich Hilfe dabei: In einer unfreiwillig komischen, pathetisch überhöhten Szene lässt er ihn in der Badewanne verbluten, während er im Nebenzimmer Rotwein trinkt. Das sind dann eben so Momente, in denen der Titel weit über dem schwebt, was die Bilder zeigen.
Dazu kommen teils hart an der Grenze zur Plattitüde vorbeischrammende Dialoge. Kommen zu schwere metaphorische Maßeinheiten, sodass die Waage den Ausgleich zwischen Kunst und Kitsch nicht immer hält. Dass der Film für nahezu alle Kategorien des Deutschen Filmpreises nominiert wurde, darf man sicher nicht zuletzt auch mit der Prominenz seiner Besetzungsliste in Verbindung bringen.
In der Tat ist es Regisseur Matthias Glasner, der ja zu den interessantesten des deutschen Gegenwartskinos gehört, gelungen, die Besten auf der Leinwand zu versammeln, die es derzeit im deutschen Schauspiel zu sehen gibt. Allein: Auf das hohe, mitreißende Niveau jener Tischszene kehrt der Film nicht mehr zurück. Er bleibt eine Ansage. Eine Behauptung. Den Titel hat er sich geliehen, nicht gewonnen.
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