Simon Rattle: Nicht ohne Mahlers Sechste

simon rattle: nicht ohne mahlers sechste

Simon Rattle

Mit Gustav Mahlers sechster Sinfonie hatte Simon Rattle, noch Gastdirigent, 1987 sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern gegeben. Als er drei Jahrzehnte später, längst Chefdirigent des Orchesters, sein Abschiedskonzert gab, wählte er wieder diese Sinfonie. Deren Viersätzigkeit lässt sie zwischen Mahlers anderen Gattungsbeiträgen äußerlich als relativ klassisch erscheinen, sie bezieht zugleich, entsprechend dem nicht von Mahler stammenden Beinamen, als „tragische“ Sinfonie ihre Wirkung sogar aus theatralischen Momenten. Besonders gilt das für die beiden gewaltigen Holzhammerschläge im Finale. Als Rattle nun dem Schlagzeuger, der diesen Kraftakt in der Alten Oper übernommen hatte, während des Schlussapplauses in einem fast unbeobachteten Moment beim Abgang anerkennend zunickte, bestätigte das, wie vertrauens- und respektvoll, wie motivierend er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks zusammenarbeitet.

Seit Beginn dieser Saison ist Rattle Chefdirigent in München, wo er schon im September vergangenen Jahres wiederum Mahlers Sinfonie Nr. 6 A-Dur aufs Programm gesetzt hatte, mit der er in diesen Tagen, über Frankfurt und Köln, zur ersten Tournee mit dem Orchester in die Vereinigten Staaten aufbricht. Werke zweier Zeitgenossen Mahlers und späterer Emigranten standen der Sechsten in kluger Kontextualisierung voran, wobei Paul Hindemiths knapper „Ragtime (wohltemperiert)“ 1921 die durchschimmernde Bach-Fuge in direkten Bezug zum Ort des späteren Exils setzte.

Stets eine Wendung mehr

Ganz europäisch, expressionistisch und somit musikalisch ohne jede kulturelle Aneignung vertonte Alexander Zemlinsky in seinem siebenteiligen Liedzyklus der Sinfonischen Gesänge op. 20 afroamerikanische Lyrik seiner Zeit, die in teils scharfem Realismus rassistische Ausgrenzung und ökonomische Ausbeutung spiegeln. Dem amerikanischen Bariton Lester Lynch gelang es, seine Gesangslinien mit leicht herbem Timbre atmosphärisch perfekt in das groß besetzte, markant von den tiefen Bläsern und dem Schlagwerk geprägte Orchester einzubetten und dabei den Gehalt der Lieder mehr über Stimmungen als über den bloßen Text zu vermitteln.

Zur Sternstunde wurde die Aufführung von Mahlers eigentlich abendfüllender sechster Sinfonie, vielleicht auch, weil Rattle dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks stets noch eine Facette mehr, stets eine im Detail noch besser ausformulierte Wendung mehr abgewinnen konnte als dem zuletzt von ihm geleiteten London Symphony Orchestra. Die von Mahler nie letztgültig beantwortete Frage nach der Reihenfolge der Binnensätze beantwortete Rattle anders als das Programmheft mit der Platzierung des langsamen Satzes mit seinen von den Streichern in äußerste Intensität gesteigerter Liebesthematik vor dem Scherzo, dessen extreme innere Spannungen Rattle zur Geltung brachte, ohne die Geschlossenheit des Ganzen aus dem Blick zu verlieren. Das schicksalhafte Finale, das in der hoch präzisen Abbildung viel einschneidender wirkte als es interpretatorische Dopplungen oder Überbetonungen je könnten, beschloss doch letztlich einen Anfang – den der Arbeit Rattles mit seinem neuen Orchester, die noch viele grandiose Konzerte, so wie dieses, erwarten lässt.

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