Die „Klimaseniorinnen“ nach ihrem Erfolg vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg vergangene Woche
Die sogenannten Klimaseniorinnen konnten ihr Glück kaum fassen. Mit ihrer von Greenpeace unterstützten Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) setzten sich die Schweizer Aktivistinnen in der vergangenen Woche unerwartet deutlich durch. Die Richter in Straßburg erkannten erstmals ein Menschenrecht auf Klimaschutz an und rügten die Schweiz für die aus ihrer Sicht unzureichende Klimaschutzpolitik.
Damit schufen sie einen Präzedenzfall, der für alle 46 Mitgliedstaaten des Europarates Folgen haben und noch viele Prozesse nach sich ziehen wird. Aber auf die Schweiz könnte das Urteil besonders große Auswirkungen haben. Allerdings nicht in dem Sinne, wie sich das die Umweltschützer erhoffen. Das Verdikt aus Straßburg ist dazu angetan, die europafeindlichen Kräfte zu stärken – ausgerechnet in einer Phase, in der es darum geht, das zerrüttete Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zu kitten.
„Eine Steilvorlage für die SVP“
Mitte März haben Bern und Brüssel die Verhandlungen über ein Vertragspaket aufgenommen, das der Eidgenossenschaft den ökonomisch sehr wichtigen Zugang zum europäischen Binnenmarkt sichern sowie den Weg zu neuen bilateralen Abkommen ebnen soll. Der erste Anlauf zu einem Rahmenvertrag, der das in Teilen ungeordnete Verhältnis der Schweiz zur EU auf eine solide Grundlage stellen sollte, war im Mai 2021 krachend gescheitert: Die Regierung in Bern hatte die Verhandlungen einseitig beendet, weil ihr der innenpolitische Widerstand zu groß erschien. Damals wie heute läuft die nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) Sturm gegen jegliche Annäherung an die EU.
Weil auch neu geregelt werden soll, wie die Schweiz in den betreffenden fünf Binnenmarktzugangsabkommen EU-Recht übernimmt, spricht die SVP von einem „Unterwerfungsvertrag“, mit dem die Schweiz der EU zum Fraß vorgeworfen werde. Dass Brüssel den Schweizern sehr wohl die direktdemokratische Wahl lässt, einzelne Rechtsänderungen abzulehnen, blenden die Rechtspopulisten aus. Gebetsmühlenhaft warnen sie vor den „fremden Richtern“ des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, die bald die Geschicke des Landes bestimmten.
Dieses Narrativ wird durch das Klimaurteil der Straßburger Richter gestärkt. „Es ist eine Steilvorlage für die SVP“, sagt der Zürcher Meinungsforscher Michael Hermann. Dass der EGMR kein Gericht der EU ist, sondern des Europarats, dem die Schweiz seit 1963 angehört, spiele keine Rolle. „Das Urteil kommt von außerhalb der Schweiz. Das reicht, um es in die Debatte einzubringen“, sagt Hermann im Gespräch mit der F.A.Z. Tatsächlich hat die SVP das Urteil umgehend für ihren Abschottungskurs ausgeschlachtet.
Die mit Abstand wählerstärkste Partei des Landes bezeichnete die „dreiste Einmischung fremder Richter in die Schweizer Politik“ als skandalös und inakzeptabel. Der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi will im Parlament darüber abstimmen lassen, ob die Schweiz aus dem Europarat austreten und damit die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen soll. Auch wenn es dafür dann vermutlich keine Mehrheit gäbe: Damit hielte man die Debatte über ein Thema am Köcheln, das auch jenseits des rechten Lagers für Bauchgrimmen sorgt.
Angriff auf die direkte Demokratie?
Viele Bürger fühlen sich von dem Straßburger Urteil vor den Kopf gestoßen, weil es ihren eigenen Willen missachte. Denn eine Mehrheit der Schweizer hatte im Juni 2021 gegen ein ambitioniertes neues Klimaschutzgesetz gestimmt, mit dem die Eidgenossenschaft das im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Ziel erreichen wollte, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2030 zu halbieren. Indem der EGMR nun zu Recht feststellt, dass die Schweiz (wie viele andere Länder auch) bisher zu wenig getan hat, um die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen, kritisiert er nicht die Regierung, sondern das Schweizervolk.
Das wiederum, erklärt der Meinungsforscher Hermann, werde als Angriff auf die direktdemokratische Kultur gewertet, auf die die Schweizer stolz seien und die viele für das wichtigste Erfolgsrezept des Landes hielten. Insofern hätten sich die Chancen tendenziell verschlechtert, dass sich die Schweiz und die EU in den Vertragsverhandlungen tatsächlich einigten, zumal in der Schweiz am Ende die Bevölkerung das letzte Wort habe. Letzteres gilt im Übrigen auch für jeglichen Versuch einer klimapolitischen Nachbesserung.
Derweil versucht der Schweizer Richter Andreas Zünd, der als einer der 17 EGMR-Richter hinter dem Klimaurteil steht, die Wogen zu glätten. Er erinnerte daran, dass auch das Pariser Klimaabkommen durch die einstige Zustimmung des Schweizer Parlaments demokratisch legitimiert sei. Der EGMR stärke die Demokratie, wenn er verlange, dass demokratisch getroffene Entscheidungen auch umgesetzt würden, sagte Zünd im Radio SRF. Wie das konkret geschehen solle, sei Sache der Politik.
Das Medienecho auf den Straßburger Richterspruch fiel unterschiedlich aus. Die „Neue Zürcher Zeitung“ kritisierte das „absurde Urteil gegen die Schweiz“ und argwöhnte, „dass Klimaaktivisten zusammen mit der Justiz die demokratische Debatte ausschalten wollen“. Der Zürcher „Tages-Anzeiger“ erinnerte daran, dass die Schweiz kein Verfassungsgericht hat, was das Misstrauen gegenüber der „Richter-Politik“ teilweise erkläre. Die Forderungen nach einem Austritt aus dem Europarat „beflügeln die nationalromantischen Fantasien eines Landes, das sich von unerwünschten Entwicklungen abkoppelt, seine Bindungen an die Welt auf ein Minimum reduziert und seine Angelegenheit autark regelt“. Der gegenteilige Weg wäre aus Sicht der Zeitung Erfolg versprechender: „Sich einbringen statt jammern, das sollte die Devise sein.“
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