Indien plant die Übernahme der Welt – klappt es diesmal?

indien plant die übernahme der welt – klappt es diesmal?

Milliardennation mit großen Ambitionen: In Indien wird viel gebaut, so wie an dieser Küstenstraße in Mumbai.

Malabar Hill, schrieb einst der britische Autor James Douglas, sei „geboren, um zu herrschen“. So begrüßt Chetan Behnde in der Bar des „Malabar Hill Club“ seinen Gast aus Europa auch: mit dem Lächeln des Siegers.

Seit 130 Jahren sitzt in Indien die Elite auf dem höchsten Hügel ihrer reichsten Stadt. Im Empire hieß sie Bombay. Mumbai heißt sie heute. Als die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi im Herbst beim G-20-Gipfel zum Dinner lud, änderte sie gleich den Namen des gesamten Landes in „Bharat“, weil das angeblich weniger nach Kolonialzeit klingt. Seit Großbritannien nur noch das 22-größte Volk der Erde ist, haben sich die Machtverhältnisse gehörig gedreht.

Stand diesen Donnerstagabend gibt es 92 Milliardäre in Mumbai, fast so viele wie in London und mehr als in Schanghai, Peking, Hongkong. Antilia, das 2 Milliarden Dollar teure Wohnhaus des reichsten Asiaten Mukesh Ambani, ist drei Lamborghini-Minuten vom Malabar Hill Club entfernt. In dessen Gemäuer finden sich in dieser Nacht weiße Gesichter fast ausschließlich in den Wandrahmen der Porträts verstorbener Herren. An den Tischen mit Blick über den Pool hingegen plant die neue Supermacht die Übernahme der Welt.

„Wir geben Gas, und das gewaltig“

„Wir geben Gas, und das gewaltig“, sagt Behnde und nippt an seinem Glas. Ein Bourbon, mehr rührt er in den drei Stunden nicht an. Seine Visitenkarte zählt von Amsterdam über Hamburg bis Zürich elf Auslandsbüros auf. Hier auf dem Hügel, auf dem sich einst die Kolonisatoren niederließen, wurde er vor gut 50 Jahren geboren. Heute verdient er von Sicherheitstechnik bis Fitnessstudios mit allem Möglichen Geld. In der Welt war der Unternehmer schon an vielen Orten zu Hause, aber eine Stimmung wie daheim hat er noch nicht erlebt: „Wer jetzt nicht zum Millionär wird, dem ist nicht mehr zu helfen.“

Eine Geschichte, das ist bekannt, kann so oder so erzählt werden. Geht es nach Indern wie Behnde, hört die Welt immer noch Märchen über ihr Land. In Malabar Hill beispielsweise wurde zwei Tage zuvor im 20. Stock eines Wolkenkratzers eine 63 Jahre alte Frau in ihrem Schlafzimmer erwürgt aufgefunden. Ihr 19 Jahre alter Diener, der aus der östlichen Provinz Bihar stammt, wurde angeblich auf der Flucht noch am Bahnhof festgenommen und soll gestanden haben, dass er seine Herrin aus Habgier ermordet habe.

Bevor sich am Donnerstag Ministerpräsident Narendra Modi zur Wiederwahl stellt, könnte der Fall ein Schlaglicht auf die anhaltende Ungleichheit in Indien werfen, wo in Bihar jeder Dritte unter 200 Rupien (2,20 Euro) am Tag verdient und 96 Prozent der Menschen kein Auto haben. Es ist die Erzählung, die im Westen seit jeher vorherrscht, wo im Vorfeld des G-20-Gipfels die Regierung in den Städten die Armen aus den Slums vertrieb.

Ungerechter als zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft?

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat jüngst mit der Behauptung Schlagzeilen gemacht, dass die Verteilung im heutigen Indien noch ungerechter sei als zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft. Der Politologe Christophe Jaffrelot, der Indien seit 40 Jahren erforscht, bezeichnet die Wirtschaftsentwicklung seit dem Amtsantritt Modis im Jahr 2014 als „verlorene Dekade“: niedrige Investitionen, hohe Inflation, hohe Arbeitslosigkeit besonders unter den Jungen, darunter überraschenderweise besonders in der gebildeten Mittelschicht, was nicht für die Stärke der Wirtschaft spricht.

Doch was ist schon Wissenschaft? Unternehmer Behnde betreibt seine eigene Feldforschung, vor Ort, jeden Tag. Seine Angestellten erzählen ihm, was Modi ihnen gegeben habe: ein Bankkonto für jeden, sei er noch so arm. Eine digitalisierte Verwaltung, in der die Mittellosen nicht mehr für ein Geburtszertifikat Schlange stehen oder Beamte bestechen müssen für den Schulplatz fürs Kind. Straßen und Brücken, die das riesige Land endlich bereit machen für die ersehnte Ansiedlung einer – hoffentlich – bald mächtigen Exportindustrie. „Modi macht das, worüber vorher immer nur geredet wurde“, sagt Behnde.

Es ist ja auch nicht so, dass derzeit nur die Immobilienpreise in Malabar Hill durch die Decke gingen, wo eine Vierzimmerwohnung im Kalpataru-Turm umgerechnet 6 Millionen Euro kostet. Sind die Autoverkäufe im Land nicht auf über 4 Millionen gestiegen, dreimal so viel wie noch vor zehn Jahren? Und mag es auch stimmen, dass nicht mal ein Fünftel der indischen Haushalte neben einem Fernseher auch Kühlschrank und Waschmaschine besitzt – berichtenswert ist doch, dass ein Hersteller nach dem anderen Absatzzuwächse im zweistelligen Prozentbereich meldet. Letztes Beispiel: Weil immer mehr Inder im Ausland urlauben – Thailand ist beliebt –, hat sich die Zahl der Flughäfen im Land in wenigen Jahren verdoppelt. Bis 2047 gehen 3500 neue Flugzeuge an den Start: die Geschichte eines Landes auf dem Weg nach oben.

Systemische Ausgrenzung von Muslimen

Und es stimmt ja alles auch. Das Frus­trierende an Indien sei nur, dass bei allem, was man über das Land richtigerweise sage, auch „immer das Gegenteil“ wahr sei, hat die Cambridge-Ökonomin Joan Robertson einst konstatiert. Für einen ihrer Schüler etwa, den aus Bengalen stammenden Nobelpreisträger Amartya Sen, ist die neue Zerrissenheit seines Heimatlandes unter Modi eine so gewaltige Hürde, dass sie den Aufstieg Indiens verhindern könnte. Auch deshalb hat der Nobelpreisträger die systematische Ausgrenzung der indischen Muslime durch den eigenen Regierungschef als „barbarisch“ kritisiert, auch wenn Sen nicht so weit ging, zu behaupten, Modi mache aus der größten Demokratie der Erde einen Taliban-gleichen Gottesstaat.

Besonders die Frage, ob nur die Reichen von Indiens neuer Stärke profitieren, spaltet die Nation. In den 80er-Jahren grollte der Indien-Reisende Günter Grass, das Land sei „ein Meer schreiender Armut, übersät mit ein paar Inseln vulgären Luxus, bevölkert von gefühllosen und selbstgefälligen Einwohnern“. Dass der populäre Marxist Prabhat Patnaik findet, das Urteil treffe auch heute noch zu, ist weniger überraschend als die Kritik eines nicht minder populären früheren Zentralbankchefs, die Begeisterung für das indische Wirtschaftswachstum sei nichts weiter als ein „Hype“.

Der chinesische Weg ist schwer reproduzierbar

Im schönen Mumbaier Buchladen „Kitab Khana“ liegt das neue Werk Raghuram Rajans gleich gegenüber dem Eingang aus. Die Strategie Modis, China zu imitieren und Jobs vor allem in der Industrie schaffen zu wollen („Make in India“), sei zum Scheitern verdammt, lautet die These des Ökonomen, der in Zentralindien geboren wurde.

Dass Rajan mit seiner Prognose danebengelegen hat, Indien könne „froh sein“, sollte das Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent steigen (im jüngsten Quartal waren es 8,4 Prozent), spricht eher für die Stärke des Aufschwungs. An seiner Warnung, dass Chinas Weg zum Wohlstand nicht einfach reproduzierbar ist, ist hingegen etwas dran.

Streit um 70-Stunden-Woche

Indiens Unternehmerlegende Narayana Murthy, 77 Jahre alt und Gründer des IT-Dienstleisters Infosys , hatte jüngst gefordert, die Jungen sollten 70 Stunden die Woche arbeiten, wolle das Land gegenüber China aufholen. Die Worte, gesprochen im Podcast eines Risikokapitalgebers, schlugen nach Beobachtung der „Economic Times“ in Indien „an jedem Wasserspender, in jedem Großraumbüro und jedem Konferenzraum ein wie eine Bombe“. Dass Murthy nachschob, er habe mit seiner Provokation auf die niedrige Produktivität hinweisen wollen, ging in der Wutwelle unter. Die „Times“, größte Wirtschaftszeitung Indiens, kommentierte den Vorschlag unter der Überschrift „Ruf mich an, wenn du fertig bist“.

Auch in China hatte einst die Aussage von Alibaba-Gründer Jack Ma Empörung ausgelöst, es sei ein „Segen, 996 zu arbeiten“ – von neun bis neun, sechs Tage die Woche. Allerdings lag damals das chinesische Pro-Kopf-Einkommen bei mehr als 10.000 Dollar, ein Wert, der selbst fünf Jahre später das heutige Einkommen eines Inders im Schnitt um das Vierfache übertrifft.

Was es im Wirtschaftswunder des Nachbarlandes auch nicht gab: Selbsthilferatgeber wie „11 Regeln fürs Leben“, der im Mumbaier Buchladen und im ganzen Land zu den meistverkauften Büchern zählt. Für den Erfolg, mahnt der Autor und frühere Deutsche-Bank-Banker Chetan Bhagat seine Leser, sei Selbstdisziplin nötig beim Vertilgen von Süßkram und Masturbation. Vor allem die dritte Regel hat es in China für den Aufstieg nicht gebraucht, wird diese doch in der nach allem Geldwerten strebenden Volksrepublik von der Staatsspitze bis in die Ein-Kind-Familie hinunter jeden Tag vorgelebt: „Denke zuerst an dich selbst.“

Chinaersatz?

Mögen heute auch Bill Gates und Mark Zuckerberg zu den Familienfeiern von Indiens Oligarchen einfliegen: Dass Indien dieses Mal tatsächlich die Armut hinter sich lässt, davon ist die Welt nicht überzeugt. Davon, dass die USA und Deutschland ihre Unternehmen anhalten, sich aus China zurückzuziehen und in das politisch verlässlichere Indien zu investieren, hat das Land bisher kaum profitiert. Anstatt zu steigen, sinken die ausländischen Investitionen. Selbst der Chef der Deutschen Industrie- und Handelskammer, die im Oktober nach Neu Delhi zur Asien-Pazifik-Konferenz lädt, hat sich jüngst in der F.A.Z. als Indien-Pessimist geoutet: „Wehe dem, der glaubt, das Land könne China kurzfristig eins zu eins ersetzen.“

Die Inder selbst lassen sich freilich ihren Optimismus nicht nehmen. In einer Umfrage des Instituts Ipsos vom Januar geben 70 Prozent der Befragten an, ihr Land sei „auf dem richtigen Weg“. Noch mehr an die Zukunft glauben neben den wohlversorgten Bürgern des Stadtstaats Singapur nur die Indonesier. Unter Deutschen geben 70 Prozent an, die Dinge liefen in die falsche Richtung.

Deutschland: Dort will Frank Schlöder gerade nicht mehr hin. 2005 ist der Manager das erste Mal nach Indien gereist. 2013 zog er für BMW ins Land. Seit einem Jahr führt er von Mumbai aus die Geschäfte von Häfele, einem „Hidden Champion“ aus dem Schwarzwald, der in Indien nicht nur Türbeschläge verkauft wie in der Heimat, sondern gleich komplette Schlafzimmer mit versenkbaren Fernsehern sowie Bäder mit nicht beschlagenden Schminkspiegeln, die per Bluetooth die Playlist der wohlhabenden indischen Mittelschicht abspielen.

„Durch die Straßen hier fließt Energie“

Schlöder steht im Stadtteil South Bombay in seinem Showroom und strahlt. Nach Deutschland und den USA verdient sein Arbeitgeber mit 140 Millionen Euro jährlich in Indien so viel wie nirgendwo sonst, mehr als in China, Tendenz steigend. Er hat eine Inderin geheiratet, ist Vater von Kindern im Alter von vier und zwei und begeistert von der an jeder Straßenecke zu besichtigenden Bautätigkeit in seiner Wahlheimat: „Mein Leben war noch nie so gut.“ Indiens Fortschritt sei mit Händen zu greifen, jubelt Schlöder: die neue Überseebrücke in die Mumbaier Satellitenstadt, der gerade eröffnete Unterwassertunnel, der an der Küste den berüchtigten Verkehr entlastet: „Durch die Straßen hier fließt Energie.“

Sogar der seit Jahren diskutierte Plan, von Mumbai aus einen japanischen Hochgeschwindigkeitszug 2000 Kilometer unterirdisch in zwei Stunden bis nach Dubai fahren zu lassen, wird plötzlich konkret. Wie groß die Ambitionen der Milliardennation sind, lässt sich im Herzen ihrer Wirtschaftshauptstadt auf einem riesigen Bildschirm an den Aktienkursen ablesen. Vor dem Sitz der Börse verbreiten in der Dalal Street Curry-Buden und Broker in Badelatschen das Gefühl von Trägheit, was eine Fehleinschätzung ist. Auf dem Schirm ist der Preis von Tata Steel , der Stahlsparte des größten Unternehmens im Land, gerade auf 142 Rupien gefallen. Eine Momentaufnahme: Wer vor einem Jahr die Aktie des Konzerns gekauft hat, dessen Stahlträger Indiens Bauboom stützen, liegt 60 Prozent im Plus. Um 8 Prozent sind in dieser Zeit die Kurse an Schanghais Börse gefallen. In Mumbai haben sie um 40 Prozent zugelegt, was selbst die amerikanischen Börsen um Längen schlägt.

Inmitten seiner Küchenzeilen ist nun auch der deutsche Manager kaum noch zu bremsen. Selbst die indischen Schulkinder, will Schlöder beobachtet haben, blickten an der Bushaltestelle fröhlicher drein. Deutsche Politik und Wirtschaft müssten sich endlich auf Indien einlassen, bevor es zu spät sei. „Sonst machen Russland und China das Geschäft.“ Im Land, das endlich abheben will.

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