Präsident der Mehrheit: Frank-Walter Steinmeier verheddert sich beim Versuch, einen neuen Patriotismus auszurufen

präsident der mehrheit: frank-walter steinmeier verheddert sich beim versuch, einen neuen patriotismus auszurufen

Frank-Walter Steinmeier sprach im März dieses Jahres in der Leipziger Alten Börse ;über das Grundgesetz. P.-P. Braun / Imago

Das schwierigste Wort der deutschen Sprache besteht aus drei Buchstaben, und es prangt auf dem Titel eines Essays in Buchform: «Wir». Sofern nicht das Wir der Menschheitsfamilie gemeint ist, trägt jedes Wir die Bürde einer heiklen Begründung. Es muss ausgrenzen, um trennscharf zu werden. Oder es ist das zum Pluralis Majestatis aufgeblasene Ich eines Regenten.

Beim Autor dieses Essays, dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, kommt alle Unwucht zusammen und verdickt sich zu einer staatsbürgerlichen Benimmfibel mit abgründiger Botschaft: Steinmeier will nicht der Präsident aller Deutschen sein. Er spricht nur zur «Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger» und nur für die «demokratische Mitte». Sie erkenne man an ihrem Einsatz für den Staat und dessen Institutionen. Der Rest mag sehen, wo er bleibt.

Die Gemeinschaft steht an erster Stelle

Steinmeier ist Sozialdemokrat durch und durch. Sein Denken ist staatsförmig, seine Schreibposition bewegt sich zwischen Karl Marx, Willy Brandt und Fritz Fischer. Letzterer war ein Hamburger Historiker, der mit der These einer Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg einst einen Historikerstreit auslöste.

Steinmeier beruft sich auf Fischer und hält am Erkenntnisstand der 1960er Jahre fest, um seine Erzählung der deutschen «Tätergeschichte» abzurunden – dazu später mehr. Der archimedische Punkt des Essays findet sich auf Seite 116. Dort heisst es in bekannter etatistischer Tradition: Aus Gemeinschaft erwachse Stärke. Zuversicht und Vertrauen seien «ein Produkt des Zusammenhalts einer Gesellschaft».

Aus diesem verkehrten, Ursache und Wirkung verkehrenden Satz, der das Bekenntnis zur Gemeinschaft an die erste Stelle setzt und Tatkraft daraus ableitet und so dem Individuum misstraut, folgt alles Weitere: Erstens die Allüre des Nationalpädagogen, der mal gönnerhaft «Verständnis dafür vermitteln» will, «wie unsere Demokratie funktioniert», mal den Menschen, die sich angesichts steigender Preise um ihr Auskommen sorgen, Bescheid gibt: «Nicht jeder kann nachvollziehen, warum wir in dieser Lage sind.» Zweitens die Bereitschaft zum Pathos, das den «Patriotinnen und Patrioten neuen Typs» gilt, den «Engagierten», drittens aber die Leidenschaft für eine offensiv praktizierte Geschichtsbeugung.

Das Kaiserreich wird von Steinmeier als durchweg finstere Epoche missverstanden und zur «bleiernen Last» der Deutschen erklärt. Mit Fritz Fischer reiht er es ein in die Vorgeschichte des Dritten Reichs: «All das sind wir zu unserem Glück nicht mehr.» Kanzler Bismarck, gewiss kein Demokrat, ist für Steinmeier ein Ahnherr heutiger Populisten. Weiter zurück als bis ins Kaiserreich reicht Steinmeiers Gedächtnis nicht. Wenn er von «unserer Geschichte» schreibt, meint er meistens den Nationalsozialismus, oft die Bundesrepublik und manchmal auch die DDR.

Vom Appeasement zum Widerstand

Die neuen deutschen Patrioten, denen Steinmeier zugetan ist, haben eine dreifache Gemeinsamkeit: Sie «bezeugen Auschwitz», sie haben die deutsche Staatsangehörigkeit, und sie engagieren sich in «unseren Institutionen». Nur sie sind im Vollsinn, in des Wortes emphatischer Bedeutung und in Steinmeiers präsidialer Perspektive Deutsche. Ob es sich dann um ein «türkisches Deutschsein» handelt oder nicht, ist einerlei. Das in dieser Weise reduzierte «historische Erbe unseres Landes mit seiner Tätergeschichte» bleibt das Eintrittsbillett.

Auch in eigener Sache instrumentalisiert Steinmeier die Geschichte. In seine Amtszeit als Aussenminister fiel die Annexion der Krim durch Russland anno 2014. Nun lobt er sich mit dem Titelbegriff des Buches: Darauf hätten «wir mit einer Doppelstrategie reagiert: Härte und Abschreckung im Rahmen der Nato, Dialogbereitschaft im ‹Normandie-Format› zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland».

Dass die Bundesrepublik und insbesondere die russlandfreundliche SPD Putin damals mit besonderer Härte entgegengetreten seien, lässt sich nicht belegen. Das «Normandie-Format» verhinderte ebenso wenig den späteren russischen Überfall wie die «Steinmeier-Formel» von 2019, die den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk einen Sonderstatus zusprach und eher Moskau als Kiew gefiel. Steinmeier betrieb damals Appeasement und geriert sich nun als Widerständler.

Noch stärker als in seinen Behauptungen ist das Buch in seinen Auslassungen. Eindringlich ruft Steinmeier den «Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik der 1980er Jahre» in Erinnerung, und er tut gut daran. Die Taten waren und bleiben abscheulich. Nicht erwähnt aber werden der Linksterrorismus, die RAF, der islamistische Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz mit seinen dreizehn Todesopfern.

Mit keiner einzigen Silbe gedenkt der Präsident dieses ebenfalls unermesslichen Leids. Er schreibt: «Ich werde und wir sollten niemals den 9. Oktober 2019 vergessen, als ein Rechtsextremist an Jom Kippur die voll besetzte Synagoge von Halle attackierte.» In der Tat. Warum aber hat Steinmeier den 19. Dezember 2016 bereits vergessen, als der Islamist Anis Amri ein Blutbad auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz anrichtete? Der Autor von «Wir» ist ein Virtuose der Subjektivität zu strategischen Zwecken. Steinmeier repräsentiert, obwohl er das Gegenteil beabsichtigt, ein gespaltenes Deutschland, das so ist, wie er selbst sich hier zeigt: stark in seinen Absichten, schwach in seinen Erinnerungen, gehemmt in seinen Taten.

Kein Brückenbauer

Auch zur Covid-19-Pandemie, während der Steinmeier zum Impfen trommelte und eine Kerze auf das Fenstersims stellte, um der Toten zu gedenken, findet sich ein erstaunlicher Satz: «Eine ehrliche Aufarbeitung dieser Zeit steht noch aus.» Wird der Autor den Mut hierzu aufbringen? Er selbst, der Bundespräsident, sagte damals, der Spaziergang habe seine Unschuld verloren. Ihm stiess 2022 bitter auf, dass «Hygieneregeln und Corona-Auflagen bewusst umgangen» werden und «Maskenverweigerer mitunter aggressiv auftreten».

All das gab es. Doch Steinmeier war damals wie nun in diesem Buch gerade nicht der Brückenbauer, als der er sich sieht. Er schlug und schlägt sich auf die Seite der Majorität. Während der Pandemie war es «die grosse Mehrheit der Vernünftigen in unserem Land, Menschen, die Verantwortung für andere zeigen», geimpfte Maskenträger. Heute ist es «die demokratische Mehrheit, die Deutschland trägt», die Menge also derer, die «Populismus, Rechtsextremismus und Geschichtsrevisionismus» ablehnen und sich bei Steinmeier einreihen: «Wir meistern Gefahren und materielle Belastungen, wenn wir es zusammen tun.»

Warum aber sollen die neuen Deutschen, denen der Präsident die Hand reichen will, Belastungen ertragen lernen? Weil das «Jahrhundert der grossen Transformation» angebrochen sei. In einem Tonfall, der an Maos grossen Sprung erinnert, fordert Steinmeier die Überwindung aller «Veränderungsabwehr». Die geopolitischen Konflikte und der Klimawandel liessen keine andere Wahl. Wer an diesen beiden Herausforderungen nicht zerbrechen wolle, der müsse sie annehmen.

An dieser Stelle hat dann sogar das globale Wir, das Wir der Menschheit, seinen Auftritt: «Wirklich von uns gefordert» sei, «die menschliche Zivilisation auf eine neue Energiebasis zu stellen. Genau das kennzeichnet die epochale Schwellenzeit, in der wir stehen und in der wir politische Entscheidungen von so grossem Gewicht treffen müssen.»

Frank-Walter Steinmeier, der zwölfte Präsident der Bundesrepublik Deutschland, hat ein interessantes Buch geschrieben. Durch seine Ritzen pfeift die Wirklichkeit.

Frank-Walter Steinmeier: Wir. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 142 S., Fr. 21.90.

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