„Populäre Mythen“: Wie ein Niederländer sich 22 Migrationsthesen vorknöpft

„populäre mythen“: wie ein niederländer sich 22 migrationsthesen vorknöpft

Fluchtgrund Dürre in Somalia: Fachleute sagen, Klimaflüchtlinge ziehe es nicht primär nach Europa.

Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis Deutschland über eine Frage diskutiert, die bisher nur am Rande gestellt wurde: Sollten auch Ukrainer künftig Asylanträge stellen müssen? Denn bisher gilt für sie eine europäische Sonderregel, sodass Schutzsuchende aus dem von Russland überfallenen Land hierzulande direkt Bürgergeld erhalten. Aufgeworfen haben die Frage schon die Freistaaten Sachsen und Bayern. Sollte sich daraus ein ernsthafter Meinungsstreit entspinnen, könnten sich die verantwortlichen Politiker das jüngste Buch des niederländischen Migrationsforschers Hein de Haas auf ihren Schreib- oder Nachttisch legen. Wer es durchliest, wird auf interessante Gedanken, Beispiele und Argumente stoßen, die auch auf künftige Debatten anwendbar sind. Dazu gehören eben die Asylfrage und die Ukrainer – aber der Reihe nach.

Hein de Haas, Professor in Amsterdam und Maastricht, liefert mit „Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ ein spannend erzähltes Werk, das komplexe Sachverhalte in verständlicher Sprache abhandelt. So ist das Buch nicht nur etwas für Politiker und Fachleute, sondern auch für all jene, die sich einfach so für das Thema Migration interessieren. Indem der Autor bekannte Migrationsthesen auseinandernimmt und sie als Mythos zu entlarven versucht, stößt er wohl Linksliberale und Konservative gleichermaßen vor den Kopf. Das ist eine der Stärken des Buchs: Jeder Leser und jede Leserin, gleich welcher politischen Richtung, wird die eigenen Vorstellungen von Migration während der Lektüre hinterfragen. Ob man am Ende alle Einschätzungen des Autors teilt, ist dabei zweitrangig.

Eine weit verbreitete These oder, wie de Haas schreibt, ein populärer Mythos betrifft die Auswirkungen des Klimawandels. Immer wieder tauchen Prognosen auf, bald machten sich Millionen Klimaflüchtlinge auf den Weg nach Europa. Schon der BBC-Fernsehfilm „Der Marsch“ aus dem Jahr 1990 entwarf dieses Szenario, heute benutzen etwa die Aktivisten von Fridays for Future es als Argument für ihre Anliegen. Migrationsforscher de Haas aber nennt fünf Gründe, warum die Klimamassenfluchtthese aus seiner Sicht haltlos ist: Menschen können sich an langsame Veränderungen anpassen (1), sie können sich schützen, indem sie etwa Dämme bauen (2), sie müssen wegen einer Überschwemmung nicht weit fliehen (3), sie verlassen ihre Heimat meist nur vorübergehend, weil sie an ihr hängen (4), und sie haben meist gar nicht das Geld, um Hunderte Kilometer weiterzuziehen (5).

De Haas beschreibt in diesem Zusammenhang interessante Erfahrungen aus Marokko, wo er Feldforschung betrieb. Menschen aus wasserreichen Regionen gehen demnach häufiger nach Europa, andere ziehen eher in die Städte. Das deckt sich mit Recherchen dieser Zeitung in Bangladesch, wo Menschen wegen klimatischer Veränderungen oder Umweltkatastrophen vor allem in die Hauptstadt Dhaka ziehen. Geld für die Reise nach Europa (und für Schleuser) haben diese Menschen nicht, erst recht nicht, nachdem sie ihr bescheidenes Hab und Gut verloren haben. Selbst der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte im vergangenen Jahr der F.A.Z., er halte nichts vom Begriff Klimaflüchtling. Flucht habe meist mehrere Ursachen, sagte er, und das schreibt auch de Haas. Wobei sich, das sollte man ergänzen, für klimabedingte Binnenmigration schon heute genug Beispiele auf der Welt finden lassen, etwa in den Slums von Dhaka.

„populäre mythen“: wie ein niederländer sich 22 migrationsthesen vorknöpft

Hein de Haas: Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. S.Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 512 S., 28,– €.

Eine andere These, die sich de Haas vorknöpft, ist die, dass sich Migration durch Entwicklungshilfe eindämmen lässt. Diese These erfreute sich besonders vor rund zehn Jahren großer Beliebtheit, als außergewöhnlich viele Asylsuchende in Europa ankamen. Warum nicht also mit Entwicklungsgeld Flucht und Migration vorbeugen? Klingt auf den ersten Blick doch logisch.

„Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall“, schreibt de Haas. „Wirtschaftliche Entwicklung führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Auswanderung.“ Auch an dieser Stelle greift der Autor auf seine Erfahrungen aus seiner Feldforschung in Marokko zurück. Und er bringt es auf einen Punkt: „Wenn Armut wirklich zu Migration führt, wie erklären wir uns dann die Tatsache, dass so wenige Menschen aus den ärmsten Ländern der Welt, zum Beispiel aus Subsahara-Afrika, in den Westen abwandern?“

Erst von einem bestimmten Punkt an nimmt Migration demnach wieder ab. Nämlich dann, wenn die Gebildeten und einigermaßen Wohlhabenden in ihrer Heimat attraktive Möglichkeiten haben. De Haas verweist auf den Wirtschaftswissenschaftler Michael Clemens, der herausgefunden hat, dass die Auswanderung erst bei einem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt von etwa 10.000 Dollar je Kopf abnimmt

Bei den Themen Klimaflucht und Entwicklungshilfe provoziert der Migrationsforscher Linksliberale. Aber auch die Konservativen werden manches Mal stutzen. Etwa beim Thema Begrenzung.

Oft führten Begrenzungsversuche gar zu mehr Migration, schreibt de Haas. Und er nennt Beispiele. Einst, schreibt der Autor, durften Marokkaner, Tunesier und Algerier frei nach Südeuropa einreisen, fanden dort Arbeit für ein paar Monate und kehrten immer wieder in die Heimat zurück. Diese „zirkuläre Migration“ fand ein Ende, als Anfang der Neunzigerjahre für nordafrikanische Länder eine Visumpflicht eingeführt wurde. Nun entschieden sich Migranten, dauerhaft etwa in Italien zu bleiben. So war es auch im Fall vieler Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten. Je schärfer das Grenzregime wurde, desto mehr Migranten entschieden sich, dauerhaft zu bleiben – und ihre Familien nachzuholen.

Im Extremfall, schreibt de Haas, könnten Verschärfungen auch eine „Torschluss-Migration“, auslösen, so wie im Fall Surinam. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1975 konnten Surinamer problemlos in die Niederlande einreisen. Aus Angst vor Einreisebeschränkungen im Zuge der Unabhängigkeit zogen dann plötzlich 40 Prozent der Surinamer binnen eines Jahrzehnts in die Niederlande. Da fragt man sich als Leser unweigerlich: Was könnte wohl passieren, wenn Ukrainer nun in Deutschland Asylanträge stellen müssten?

Hein de Haas: Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. S.Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 512 S., 28,– €.

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