Standort Deutschland: 36 Stufen Demütigung für Christian Lindner

standort deutschland: 36 stufen demütigung für christian lindner

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nimmt am „World Economy Summit 2024“ teil Foto: Bernd von Jutrczenka/dpadata-portal-copyright=

Bei einem Vortrag in den USA erlebt der Bundesfinanzminister eine böse Überraschung: eine eindringliche Demonstration, wie schlecht Deutschland beim Wirtschaftswachstum abschneidet.

Es ist ein altehrwürdiges Gebäude, das Bundesfinanzminister Christian Lindner am Mittwochmorgen in der amerikanischen Hauptstadt Washington D.C betritt. 36 Stufen aus Marmor führen hoch in den Saal, wo der deutsche Gast gleich zur ökonomischen Entwicklung in Deutschland interviewt wird.

Doch schon die Treppe hat es in sich: Auf den einzelnen Setzstufen hat der Veranstalter die prognostizierten Wachstumsraten einzelner Volkswirtschaften geklebt. Russland rangiert ziemlich weit unten mit einem Wachstum von 1,8 Prozent in diesem Jahr. Die USA liegen in der Treppenmitte mit gut zwei Prozent, ganz oben steht Indien mit 6,8 Prozent. Und Deutschland? Kein Hinweis, vielleicht aus Höflichkeit gegenüber dem Gast aus Berlin, doch eigentlich müssten die 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum auf der Kellertreppe zu finden sein.

Handlungsreisender aus Berlin

„Is Germany the sick man in Europe?“, fragt die Moderatorin des World Economic Summit auf dem Podium. „No, we have just a hangover“, antwortet Lindner, nur ein Kater, keine Sorge. Man brauche strukturelle Reformen, bei Bürokratie, am Arbeitsmarkt, bei den Steuern. Im Übrigen habe Deutschland gerade erst die Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine mitsamt Energiekrise doch ganz gut gemeistert. Fast verzweifelt versucht sich Lindner als Handlungsreisender für Deutschland.

Gerade erst hat der Internationale Währungsfonds (IWF) die Wirtschaftsprognose für Deutschland noch einmal reduziert. Statt ohnehin schon schwacher 0,5 Prozent, wie im Januar geschätzt, soll die hiesige Wirtschaft 2024 nur noch um diese – ausgesprochen schwachen – 0,2 Prozent wachsen. Deutschland ist damit Schlusslicht unter den Industrienationen. Zum Vergleich: Die US-Wirtschaft brummt so sehr, dass Ökonomen und Geldpolitiker schon vor einer Überhitzung warnen.

Von einer Überhitzung ist Deutschland ökonomisch weit entfernt. Der IWF spricht bei Deutschland von deutlichen Strukturproblemen, nicht zum ersten Mal. Zu hohe Steuer- und Bürokratielasten, dazu eine rückläufige Arbeitsbevölkerung. Gut findet der IWF dagegen die restriktive Fiskalpolitik der Bundesregierung und bescheinigt Deutschland geldpolitische Stabilität in einer Zeit, in der die Inflation nach dem Energieschock der letzten beiden Jahre immer noch zu hoch ist.

Rückenwind für die Wirtschaftswende?

Lindner möchte gleichwohl die schlechten Prognosen aus Washington für sich nutzen. Denn Lindner bereitet daheim eine „Wirtschaftswende“ vor. Mit engen Vertrauten aus dem Finanzministerium und in der FDP arbeitet er an einem Entlastungs- und Entfesselungsprogramm. Kurz vor dem Abflug nach Washington nahm Lindner noch an einem Wirtschaftskongress der FDP teil. Zu den Forderungen gehören: Vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags, bessere Abschreibungen, vollständiger Ausgleich der kalten Progression, Entschlackung des Steuerrechts. Dazu eine Reihe weiterer Maßnahmen zur Entbürokratisierung.

Offenbar ist Lindner darüber in Austausch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Auch sie sehen die wirtschaftliche Agonie Deutschlands mit Sorge. Bis Juni wollen sie Vorschläge für besseres Wirtschaftswachstum schaffen. Allerdings ist gerade erst das Wachstumschancengesetz aus dem Bundesfinanzministerium stark zurechtgestutzt worden. Warum soll es beim nächsten Versuch besser laufen? Weil sich die Situation am Standort Deutschland weiter verschärft und die Strukturprobleme immer stärker zutage treten.

Die Standortkrise trifft parteipolitisch vorrangig die FDP. Sie gilt schließlich als die Wirtschaftspartei. Und dem Finanzminister Lindner scheint die wirtschaftliche Schwäche stärker angekreidet zu werden als dem Wirtschaftsminister Habeck. Umso mehr ist die FDP unter Druck, sie pendelt seit Monaten in der politischen Todeszone um die Fünf-Prozent-Hürde für den Wiedereinzug in den Bundestag im Herbst 2025.

So wirbt Lindner nun überall für seine Wirtschaftswende. Auch in Washington. Und wer weiß, vielleicht wird Deutschland bei einem künftigen World Economy Summit doch einen guten Setzplatz auf der Marmortreppe bekommen.

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