Zwei Jahre Ukrainekrieg: „Der Westen hat uns verraten“

zwei jahre ukrainekrieg: „der westen hat uns verraten“

Russische Bomben haben aus Bachmut eine Trümmerlandschaft gemacht.

Auch der größte Patriot ist irgendwann müde. Und manchmal gelingt es einem einzigen Video, diese Ermüdung deutlich zu machen. Oleksandr, der seit einigen Wochen bei seiner Frau und seinem Sohn in Berlin lebt, bekam kürzlich ein solches Video aus seiner Heimatstadt Odessa zugeschickt. Es zeigt Menschen, die am Strand Kaffee trinken, die Sonne scheint, die Möwen kreisen, es ist ein schöner Tag. Doch der Eindruck eines friedlichen Moments mitten im Krieg täuscht, denn das Video zeigt ausschließlich Frauen.

„Die Männer trauen sich nicht mehr aus dem Haus“, sagt Oleksandr. Sie haben Angst, in die Fänge der Rekrutierer zu geraten, die durch die Straßen ziehen, Baustellen inspizieren, Schulen und Busse auf der Suche nach potentiellen Soldaten durchkämmen. Offenbar gehen die Regierungsbeamten immer brutaler gegen jene vor, die sich weigern, mitzukommen. Selbst wer körperlich untauglich ist, werde für tauglich erklärt, sagt Oleksandr. Auch Menschen mit Behinderung dritten Grades sollen zukünftig eingezogen werden können. Die Gesandten der Regierung erledigten schlicht ihren Job, ohne Empathie, sagt Oleksandr. Sie müssten eine Quote erfüllen, die Armee brauche dringend neue Soldaten, jeder, den sie für den Kriegsdienst aufgreifen, sei nur eine Nummer.

zwei jahre ukrainekrieg: „der westen hat uns verraten“

In Kiew fordern Angehörige der nach Russland verschleppten ukrainischen Soldaten, die das Stahlwerk Azovstal verteidigt haben, deren Freilassung.

Oleksandr erzählt von einem Fall, der in den sozialen Medien kursierte. Ein unter Epilepsie leidender Mann sei beim Brotholen von Soldaten aufgegriffen worden, er habe einen Anfall bekommen und sei gestorben, weil ihm niemand half.

„Wir sind entsetzt“

Einer von Oleksandrs Freunden lebt in seinem halb zerstörten Haus in Cherson, dieser Geisterstadt unter ständigem russischen Beschuss. Er könnte nach Odessa flüchten und dort eine leer stehende Wohnung beziehen, aber seine Angst vor den ukrainischen Rekrutierern ist größer als die vor den russischen Bomben. Oleksandr sagt: „Der Westen hat uns verraten“.

Zwei Jahre Krieg. Zwei Jahre, in denen die Zögerlichkeit des Westens bei der Lieferung von dringend benötigten Waffensystemen zahllose Menschen das Leben gekostet hat. Was ist eigentlich aus der einst blühenden Stadt Mariupol geworden? Armin Coerper, der Chef des ZDF-Studios in Moskau, hat kürzlich aus der hermetisch abgeriegelten Stadt berichtet. Der Skandal, der in den sozialen Medien einen Shitstorm auslöste: Coerper benannte nicht klar, dass diese von den Russen so gut wie vollständig zerstörte Stadt nur für eine Realität steht: Russlands Ziel, die Ukraine auszulöschen. Er sprach zwar über die Zerstörung, lobte aber auch den Wiederaufbau und wie gut die Stadt funktioniere – was er nicht sagte, war, dass die Russen nicht Millionen in die Hafenstadt investieren müssten, wenn sie sie nicht zerstört hätten. Mariupol sei kein Ort für einfache und klare Antworten, so der Reporter.

Im Newsletter des Berliner Vereins „Vitsche“, der sich unbeirrt gegen das Vergessen engagiert, heißt es: „Wir sind entsetzt, dass das ZDF sich allem Anschein nach über die ukrainische Gesetzeslage hinweggesetzt hat, illegal nach Mariupol eingereist ist und dort die derzeitigen Lebensbedingungen unter Besatzung verzerrt wiedergegeben und somit auch russischer Staatspropaganda in die Hände gespielt hat.“ Das sei verantwortungslos und irreführend.

Schlicht falsch ist die Behauptung, die Schauspieler des zerbombten Theaters von Mariupol seien froh, ihre Stücke nun in russischer Sprache aufführen zu können, was früher nicht der Fall gewesen sei. Ein Blick in den Spielplan vor der russischen Invasion hätte genügt, um die Wahrheit zu erfahren. Die Russen haben Mariupol zu einem Höllenort gemacht. Das ZDF macht daraus eine Stadt im Wiederaufbau.

Die Frontstadt Awdijiwka hätte gerettet werden können

Zuletzt ist die ostukrainische Frontstadt Awdijiwka gefallen. Wie Mariupol hat die russische Armee auch Awdijiwka in Schutt und Asche gebombt. Die monatelange Abwehrschlacht der ukrainischen Soldaten ist an der Übermacht der russischen Artillerie gescheitert. Das Bittere an dieser Niederlage: Hätten Amerika und Europa ausreichend Munition geliefert, würde die Ampelregierung nicht seit Monaten solch unwürdige Debatten über die Lieferung bestimmter Waffen führen, Awdijiwka könnte noch frei sein.

Der Untergang der Stadt zeigt, was Oleksandr mit dem Wort „Verrat“ meint. Er sagt: „Aus unserer großen Hoffnung ist Enttäuschung geworden, der Westen hat uns fallengelassen.“ Viele Ukrainer fürchteten inzwischen eine Niederlage, rechneten gar mit einem Sieg der Russen. Die Angst, die Heimat zu verlieren, sei groß. Nach zwei Jahren russischem Angriffskrieg hat sich der in der wohligen Ferne sitzende Nachrichtenkonsument an die Bilder der Toten, Verstümmelten und Vertriebenen gewöhnt. Jede Schlagzeile, jedes Foto, jede Geschichte vom Krieg hat der anfänglichen Empörung einen Teil ihrer Wucht geraubt. Was einst unvorstellbar war, ist inzwischen zu oft nur noch eine Meldung unter vielen, illustriert als animierte Gefechtskarte. Wer interessiert sich noch für das Schicksal der mehr als 70.000 von Russland verschleppten Kinder? Wer ruft öffentlichkeitswirksam „Bringt sie nach Hause!“?

Oleksandr versteht nicht, warum Teile des Westens auch nach zwei Jahren Krieg noch immer nicht verstehen wollen, dass eine von Russland eroberte Ukraine Putins imperialistischen Hunger nur weiter anstachele. In einem auf der Homepage des „Institute for the Study of War“ veröffentlichten Aufsatz heißt es, eine siegreiche russische Armee werde nicht nur über Kampferfahrung verfügen, sondern auch wesentlich größer sein als die russischen Landstreitkräfte vor 2022. Die russische Wirtschaft werde sich erholen, das Land weiter aufrüsten. „Russland kann zum ersten Mal seit den 1990er Jahren eine größere konventionelle militärische Bedrohung für die NATO darstellen.“ Der Zeitraum hänge in einem erheblichem Maße davon ab, wie viel der Kreml in sein Militär investiere. Man kann davon ausgehen, dass der Kreml bei seinen Investitionen nicht sparen wird.

Ein Freund aus Odessa meldet sich per Whatsapp. Es sei oft ziemlich laut in der Stadt, schreibt er, die Russen attackierten Odessa wieder und wieder mit Drohnen. Eine dieser Drohnen sei buchstäblich über seinen Kopf hinweggeflogen. Der Westen könne die russische Armee leichter in der Ukraine besiegen als vor den eigenen Toren. Der Bundestag hat derweil die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine abgelehnt.

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