Die Auswanderer: Warum eine Million Menschen im Jahr Deutschland verlassen

die auswanderer: warum eine million menschen im jahr deutschland verlassen

Eine Million Menschen in Deutschland packen jedes Jahr ihre Koffer und wandern aus.

Deutschland ist ein Einwanderungsland, das lässt sich heute nicht mehr wirklich leugnen. Es ist aber auch ein Auswanderungsland. 1,2 Millionen Menschen haben 2022 der Bundesrepublik den Rücken gekehrt. Der Großteil sind Ausländer, die in ihre Heimat zurückkehren. Die Gründe sind vielfältig.

„Die Digitalisierung dort gibt mir das Gefühl, 20 Jahre in der Zeit zurückzureisen“, schreibt einer, der nach eigenen Angaben Deutschland entnervt wieder verlassen hat, auf der Internetplattform Reddit. „Der Service ist einfach furchtbar.“ Ein anderer Rückkehrer beklagt: „Egal wie lange du in Deutschland bist, die ‚Biodeutschen‘ sehen dich immer als Ausländer.“ Und eine dritte erklärt ganz simpel: „Wir sind in die Schweiz gezogen, um mehr Geld zu verdienen.“

Das ist, entgegen der Träume mancher Rechtsextremer, die in diesen Tagen über massenhafte „Remigration“ fantasieren, ein Problem. Denn Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr einiges in Bewegung gesetzt, um die Zuwanderung anzukurbeln, vom neuen Einwanderungsgesetz bis zu Ministerbesuchen in Ghana und Indien. Die Zahl, die in diesem Zusammenhang oft kursiert, ist die von 400.000 Menschen. So viel Einwanderung ist nötig, um die Lücke zu schließen, welche die Alterung der Gesellschaft aufreißt. So hat es das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) berechnet, das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit.

In den Hintergrund rückt dabei bisweilen, dass es sich um die Nettozuwanderung handelt, also: Die Zahl der Neuankömmlinge abzüglich derer, die das Land verlassen. Eigentlich müssten jährlich 1,6 Millionen Menschen nach Deutschland kommen, damit die Rechnung aufgeht. Zwar kommen schon seit 2012 jedes Jahr mehr als eine Million neue Menschen nach Deutschland. Im Jahr 2022 waren es sogar mehr als zweieinhalb Millionen, ein Sondereffekt wegen der Flüchtlinge aus der Ukraine.

Deutsche und Ausländer unterscheiden sich

Doch legt man die durchschnittliche Entwicklung von Zu- und Auswanderung in den vergangenen Jahren zugrunde, bleibt eine erhebliche Lücke. Von den Ukrainern gibt die Mehrheit an, nach dem Ende des Krieges in ihre Heimat zurückkehren zu wollen – und auch viele andere Ausländer sehen sich langfristig nicht in Deutschland. Für die kommenden Jahre rechnet das Statistische Bundesamt in einem Szenario mit „mittlerer“ Nettozuwanderung nur mit 290.000 Menschen im Jahr. Ändern lässt sich das mit mehr Einwanderung, aber auch die Zahl der Auswanderer bietet einen Hebel, um den Arbeitskräftemangel zu lindern.

Unterscheiden muss man dabei zwischen deutschen Staatsbürgern, die ihr Heimatland verlassen, und Ausländern, die nach einiger Zeit wieder gehen. „Das sind zwei komplett unterschiedliche Paar Schuhe“, sagt Andreas Ette, Leiter der Forschungsgruppe Internationale Migration am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Die Ausländer seien davon der größere Hebel, denn die Deutschen sind ohnehin unter den Auswanderern in der Minderheit. Nur knapp jeder Dritte, der Deutschland verlässt, hat die deutsche Staatsbürgerschaft, wie aus dem in dieser Woche vorgelegten Migrationsbericht der Bundesregierung hervorgeht. Oftmals seien das Menschen, die nur temporär ins Ausland gehen, sagt Ette. Man macht ein Auslandssemester oder absolviert gleich ein ganzes Studium an einer internationalen Universität, sammelt berufliche Erfahrungen in einer anderen Kultur, bevor es zurück in die Heimat geht.

Ette hat sich in einem Forschungsprojekt intensiv mit den deutschen Auswanderern beschäftigt. Seine Auswertung zeigt, dass vier von fünf deutschen Weltenbummlern binnen weniger Jahre zurückkehren. Die meisten von ihnen haben von vornherein vor, nur temporär im Ausland zu bleiben. Das ist für Deutschland sogar von Vorteil. Schließlich profitiert auch der deutsche Arbeitgeber am Ende von den Auslandserfahrungen seiner Mitarbeiter – zumal die meisten von ihnen in Mitgliedsländer der Europäischen Union ziehen. Der europäische Arbeitsmarkt soll genau so funktionieren.

Dass nicht jeder irgendwann zurückkommt, sei weder überraschend noch problematisch, meint Ette. Schließlich ist die Zahl derer, die für immer wegbleiben, relativ gering. Von einem „Brain Drain“ will er deshalb nicht sprechen, eher von einem „normalen Zustand internationaler Arbeitsmobilität“.

Gleichwohl gibt es durchaus manche Branchen, in denen der Abfluss an einheimischem Personal stärker ins Gewicht fällt. Die Abwanderung von Ärzten etwa war bis zur Pandemie Jahr für Jahr zurückgegangen. Seit 2020 ist sie aber wieder stark gestiegen. Gut 2300 Ärzte haben Deutschland im Jahr 2022 verlassen, sowohl deutsche als auch ausländische. Zwei Jahre zuvor waren es noch lediglich 1700. Auch in der Wissenschaft gibt es Sorgen um die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit deutscher Universitäten, wegen derer deutsche Spitzenforscher lieber anderswo arbeiten. Dass Professorengehälter in Deutschland nicht mit den USA mithalten können, liegt nur zum Teil an den Budgets. Auch die Zwänge der Gehaltsstrukturen im öffentlichen Dienst spielen eine Rolle.

Die Emigranten-Studie des BIB zeigt: Mehr als jeder Vierte verlässt Deutschland aus „finanziellen Gründen“, fast jeder Fünfte, weil er oder sie „unzufrieden mit dem Leben in Deutschland“ ist. Höhere Löhne könnten also ein relevanter Hebel sein. Die BIB-Forscher Nils Witte und Jean Guedes Auditor haben ermittelt, dass Auswanderer ihren Stundenlohn im Durchschnitt um 8 Euro verbessern konnten.

Viele bleiben nur kurz

Die meisten Ausländer, die Deutschland wieder verlassen, waren nur vergleichsweise kurz im Land. Von insgesamt fast 700.000 Emigranten, die länger als drei Monate in Deutschland waren, verlassen fast 50 Prozent Deutschland schon nach einem Jahr wieder, wie der Migrationsbericht zeigt. 70 Prozent waren weniger als vier Jahre im Land. Es handelt sich also überwiegend nicht etwa um Rentner, die nach einem langen Berufsleben in Deutschland in ihr Heimatland zurückkehren – sondern um Menschen im besten Arbeitsalter. 76 Prozent der Auswanderer waren im vergangenen Jahr zwischen 15 und 65 Jahren alt.

Besonders ärgerlich ist für den deutschen Arbeitsmarkt, dass unter ihnen sehr viele gut qualifizierte Fachkräfte sind. Sie sind die „Bessergestellten unter den Benachteiligten“, so sagt es Yuliya Kosyakova, Leiterin der Abteilung für Migration am IAB. „Die haben ein höheres Humankapital – aber irgendetwas hat nicht geklappt.“ Die soziale Integration spiele eine Rolle, auch die Familie. Aber grundsätzlich wisse man ganz wenig über diese Menschen.

Ein Grund für die Rückkehr könne etwa im Falle hoch qualifizierter Flüchtlinge sein, dass sie in ihrem Heimatland besonders viel zu verlieren haben. Sie besitzen dort vielleicht Land oder Kapital, und ihr Berufsabschluss ist dort oft mehr wert – gerade wenn in Deutschland die Anerkennung hakt.

Es gibt noch weitere Gründe, wegen derer Ausländer Deutschland wieder verlassen. Das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen ist dieser Frage in einer Studie nachgegangen. Das Fazit: „Die meisten Interviewten gaben an, dass sie die Ausreise aus Deutschland bedauerten, und führen die Ausreise auf externe Gründe zurück.“ Nicht auf alle Faktoren kann die deutsche Gesellschaft Einfluss nehmen. „Immer dunkel, immer grau“ sei es in Deutschland, zitieren die Forscher eine Migrantin. „Man kann die Sonne wochenlang nicht sehen.“

Anderes ließe sich aber schon erleichtern. Ein Fünftel der vom Institut befragten Migranten gaben Integrationspro­bleme als Grund an: „Er oder sie fühlte sich in Deutschland nicht wohl, wurde diskriminiert oder hat keinen Anschluss gefunden.“ Acht Prozent der Befragten fanden die Arbeitsbedingungen nicht passend. Sprachbarrieren und bessere Verdienstmöglichkeiten spielten ebenfalls eine Rolle, etwa bei Lkw-Fahrern, die in Großbritannien mehr verdienen können. Auch Rechtssicherheit spielt BIB-Forscher Ette zufolge eine Rolle: „Wenn ich eine Niederlassungserlaubnis habe, dann will ich auch eher bleiben.“

Potential, auf dem man aufbauen kann, gibt es insbesondere unter ausländischen Studenten. Deutschland ist hier nach einer OECD-Auswertung das beliebteste Zielland hinter den Vereinigten Staaten. Und sehr viele Absolventen bleiben nach ihrem Abschluss hier. Der Ökonom Thomas Liebig hat das vor einiger Zeit für die OECD untersucht. Tatsächlich bleiben im Vergleich zu anderen Ländern besonders viele Absolventen in Deutschland. Gut 60 Prozent derer, die 2015 ein Studentenvisum erhielten, waren fünf Jahre später noch in Deutschland.

Tatsächlich gibt es aber auch zwischen den Herkunftsländern große Unterschiede. Indische Studenten bleiben überdurchschnittlich oft in Deutschland. Chinesen hingegen sind meist nach fünf Jahren wieder verschwunden. Nach zehn Jahren ist der Anteil derer, die noch im Land sind, nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes auf unter 40 Prozent gefallen. Dass nicht mehr bleiben, ist nicht nur deshalb ein Verlust, weil der Staat ihnen eine Ausbildung ermöglicht, deren Nutzen dann anderswo anfällt. Angesichts der Klagen von Arbeitgebern über schwierige Anerkennungsverfahren wäre die naheliegendste Lösung, diejenigen besser im Land zu halten, die schon einen deutschen Abschluss haben.

Nicht alle wird man so im Land halten können. „Ökonomische Migranten haben meist nicht das Ziel, für immer zu bleiben“, sagt Yuliya Kosyakova. Genauso wie die Deutschen ins Ausland gehen, kommen sie für eine Zeit und kehren dann zurück. Eine ideale Einwanderungsbilanz wäre deshalb keineswegs eine, in der niemand mehr Deutschland verlässt. Aber wenn die Menschen etwas länger bleiben und es weniger Fälle gäbe, in denen der Abschied mit Enttäuschungen verbunden ist, dann wäre schon viel gewonnen – für beide Seiten.

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