Pistorius setzt nicht nur auf das schwedische Modell: Wie kann die neue Wehrpflicht aussehen?

Um die Bundeswehr personell für den Ernstfall zu rüsten, will der Verteidigungsminister vor der Sommerpause eine neue Art von Wehrpflicht vorschlagen. Auch die Geschlechterfrage spielt eine Rolle.

pistorius setzt nicht nur auf das schwedische modell: wie kann die neue wehrpflicht aussehen?

Boris Pistorius (r, SPD), Verteidigungsminister, fährt im Turm eines Leopard 2A6 mit einem Soldaten des Panzerbataillon 203 der Bundeswehr.

So wie früher soll es nicht mehr werden, als in 52 Kreiswehrersatzämtern durchschnittlich 400.000 junge Männer im Jahr gemustert wurden. Den Ist-Zustand, seit die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt wurde, will Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) aber verändern. Weil sich die Sicherheitslage in Europa dramatisch verändert hat, möchte er die volle Verteidigungsbereitschaft wiederherstellen – und dafür fehlen ihm Soldatinnen und Soldaten.

„Mit dem bisherigen System wird es auf Dauer kaum möglich sein, den aufwachsenden Personalbedarf zu decken“, sagt sein Staatssekretär Nils Hilmer: „Der Minister wird noch vor der Sommerpause einen Vorschlag unterbreiten, wie die Bundeswehr zu mehr Wehrdienstleistenden kommen kann.“ Generalinspekteur Carsten Breuer und er legen dem Chef nun „verschiedene Optionen“ dafür vor.

Wie groß soll die Bundeswehr sein?

Vom Tisch ist die Idee, die Zielmarke für das Jahr 2031 zu kappen, damit die Differenz zur aktuellen Größe von 181.514 nicht demotivierend wirkt. Man werde sich beim künftigen Bedarf auch weiterhin „an den Anforderungen der Nato“ orientieren, stellt Hilmer klar: „Die Zielgröße von 203.000 Soldatinnen und Soldaten für die Bundeswehr ist daher nicht aus der Luft gegriffen.“

„Es ist gut, dass Minister Pistorius die aktuelle Zielgröße der Bundeswehr nicht mehr nach unten korrigieren will“, sagt Alexander Müller, verteidigungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. Für ihn wäre das angesichts der Bedrohungslage das falsche Signal gewesen: „Für die Zukunft müssen wir die Latte eher höher legen.“

In der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Lage heißt das für uns, dass wir die Erfassung der Wehrpflichtigen sicherstellen müssen.

Nils Hilmer, Verteidigungsstaatssekretär, über die Wehrpflicht im Verteidigungsfall

In einem möglichen Ernstfall, etwa bei einem Angriff Russlands auf Nato-Bündnisgebiet, den Pistorius in „einem Zeitraum von fünf bis acht Jahren“ für möglich hält, spielt die Wehrpflicht eine zentrale, bisher wenig beleuchtete Rolle. Sie muss auch nicht neu eingeführt werden, weil sie für den sogenannten Spannungs- und Verteidigungsfall nach wie vor existiert.

„In der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Lage heißt das für uns, dass wir die Erfassung der Wehrpflichtigen sicherstellen müssen“, sagt Hilmer: „Dies wurde bei der Aussetzung der Wehrpflicht leider auch weitgehend heruntergefahren.“

Was das konkret heißt? „Im Verteidigungsfall würde bei uns das Chaos ausbrechen, weil die alten Kreiswehrersatzämter gar keine Daten der Wehrpflichtigen mehr haben“, meint FDP-Mann Müller. Die Bundeswehr weiß aktuell also gar nicht, wen sie einberufen könnte. Auch die Frage, wo im schlimmsten Fall Musterungen stattfänden, ist noch weitgehend unbeantwortet.

Wehrpflicht im Verteidigungsfall verlangt Umbauten

Pistorius’ Staatssekretär verweist darauf, dass das schon Teil des kürzlich präsentierten Bundeswehr-Umbaus ist und „bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen“ worden seien. Auch die Verwaltungsstrukturen sollen wieder „konsequent auf Landes- und Bündnisverteidigung ausgerichtet werden“.

Die Liberalen sind wie auch SPD-Kanzler Olaf Scholz gegen eine Rückkehr zur alten Wehrpflicht. „Alles, was junge Menschen zwingt, eine längere Zeit ihres Lebens bei der Bundeswehr zu verbringen, ist für die FDP ein No-Go“, sagt Müller. Die Wehrpflicht im Verteidigungsfall aber stellen sie nicht infrage.

Sonst könnten Männer klagen oder sich auf Basis des neuen Selbstbestimmungsgesetzes als divers erklären lassen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen.

Alexander Müller, FDP-Verteidigungspolitiker, fordert eine Grundgesetzänderung

Vielmehr will Müller, um sie praxistauglich zu machen, eine Verfassungsänderung: „Wir müssen dringen Artikel 12a des Grundgesetzes ändern – sonst könnten Männer klagen oder sich auf Basis des neuen Selbstbestimmungsgesetzes als divers erklären lassen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen.“ Darin sind nur „Männer“ erwähnt, die zum Dienst verpflichtet werden können.

Die Geschlechterfrage beschäftigt das Ministerium auch, wenn es um eine neue Art von Dienst- oder Wehrpflicht geht, die nicht erst im Kriegsfall, sondern schon bald greifen soll, damit die Truppe größer wird und abschreckend wirkt. Trotz FDP-Skepsis möchte Pistorius noch in dieser Wahlperiode eine Entscheidung. Ein wenig Spielraum gestehen ihm die Liberalen zu. „Über Modelle, die die Zahl der freiwillig Dienenden erhöhen“, so Müller, „sind wir jederzeit gesprächsbereit.“

Um ein Modell zu finden, das funktioniert und politisch durchsetzbar ist, will sich Pistorius nun rund zwei Monate Zeit lassen. Die Vorarbeit kam von Breuer und Hilmer. „Wir haben uns dafür genau angeschaut, wie es Amerikaner, Briten, Dänen, Finnen, Franzosen und Schweden machen“, sagt der Staatssekretär.

Schwedisches Modell plus?

Er deutet auch an, dass das, was er und Pistorius in Stockholm gezeigt bekommen haben, sie am meisten beeindruckt hat, eine Ergänzung und Kombination jedoch die wahrscheinlichste Vorgehensweise sein dürfte. „Das schwedische Modell ist sehr flexibel, wenn es um die Aufwuchsfähigkeit und die Musterung geht“, so Hilmer, „aber auch Elemente aus anderen Ländern sind sehr interessant – Finnland zum Beispiel, wenn man auf die Grundausbildung schaut.“

Alle jungen Schwedinnen und Schweden bekommen Fragebogen der Armee zugeschickt, den sie ausfüllen müssen. Neben Angaben zur Gesundheit sollen sie auch ein Kreuz machen, wenn sie freiwillig zum Dienst antreten würden. Abhängig von der jeweiligen Zahl von Rekruten, die die Armee gewinnen will, erhält etwa eine fünffache Zahl eine Einladung zur Musterung, der Folge zu leisten ist.

Aus diesem Kontingent sind in Schweden bisher nur Männer und Frauen in die Armee gegangen, die ihre Bereitschaft dazu bekundet haben. Zum jetzigen Stand handelt es sich also um eine Musterungs-, nicht um eine Wehrpflicht – so kommen Menschen in Kontakt mit der Armee, die sich sonst nicht für sie interessiert hätten.

Je nach Sicherheitslage aber kann die Zahl der Gesuchten erhöht werden und irgendwann über der von Freiwilligen liegen. „Der Haken am schwedischen Modell ist, dass er auf einer gesetzlichen Wehrpflicht beruht“ – so FDP-Mann Müller.

Im Ministerium findet das möglicherweise ergänzende Modell Finnland großen Anklang, weil viele Menschen eine relativ kurze Ausbildung durchlaufen. Um manche davon für mehr zu gewinnen, gar für das Berufssoldatentum, braucht es gute Arbeitsbedingungen. Man werde sich, verspricht Hilmer, „weiter anstrengen, die Bundeswehr im Kampf um die besten Köpfe attraktiv aufzustellen“.

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