Pflegenotstand oder Computerfehler? Warum in einem Berliner Heim der Katastrophenschutz anrückte

pflegenotstand oder computerfehler? warum in einem berliner heim der katastrophenschutz anrückte

In einem Heim in Friedrichsfelde rückten in der Nacht zu Dienstag Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz an – weil die vorgeschriebene Fachkraft fehlte.

Immer wieder kommt es in Alten- und Pflegeheimen zu unerwünschten Vorfällen. Und stets ist dafür schnell ein Schuldiger ausgemacht: der Pflegenotstand. In einem Heim in Berlin ist es in der Nacht zu Dienstag so weit gekommen, dass die Polizei anrücken musste, um den akuten Pflegenotstand in dem Haus zu beenden.

Die Bild-Zeitung hatte zuerst darüber berichtet, dass an jenem Abend um 22.30 Uhr die letzte verbliebene Pflegekraft die Beamten alarmiert hatte, weil keine einzige Fachkraft für die Nacht vorhanden war. Das Heim in Friedrichsfelde hat Platz für 170 Bewohner, 142 Plätze sind laut Heimleitung derzeit belegt. Sie leben dort auf vier Etagen.

Es waren zwar drei Pflegehelfer eingeteilt, die auch ihren Nachtdienst bereits angetreten hatten. Es fehlte aber offenbar eine Pflegefachkraft mit entsprechender Ausbildung, um im Notfall einem Bewohner etwa die passenden Medikamente zu geben. Pflegehelfer dürfen in Deutschland nur bestimmte Aufgaben übernehmen; es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass deshalb in jeder Einsatzschicht, Tag und Nacht, eine bestimmte Anzahl von Fachkräften je nach Anzahl der Bewohner im Dienst ist.

In dieser Nacht wäre eine Pflegefachkraft für die knapp 150 Bewohner im Dienstplan vorgesehen gewesen – zusammen mit den drei Pflegehelferinnen. Doch es habe einen Fehler im Computersystem gegeben, sodass eine vorgesehene Mail zur Anforderung einer Leasing-Fachkraft nicht verschickt worden sei. Deshalb sei keine Fachkraft zum Dienst erschienen, hieß es nun als Begründung der Heimleitung in den Berichten.

Bei der Berliner Zeitung hat sich jedoch eine Mitarbeiterin des Pflegeheimes gemeldet, die den Fall anders darstellt. Sie möchte anonym bleiben, aus Angst vor Arbeitsplatzverlust. Es müssten jedoch „ein paar Dinge aufgeklärt werden“, wie sie sagt.

Die Mitarbeiterin sagt, sie habe Kenntnis darüber, dass eine solche Mail nie verschickt worden sei. Stattdessen habe es schon an der Planung gemangelt, unter anderem weil für die Personalplanung wohl eine Mitarbeiterin eingesetzt wurde, die dafür nicht ausgebildet sei. Die anonyme Mitarbeiterin übt Kritik an der Heimleitung. Diese habe sich nicht ausreichend um den Einsatzplan gekümmert. Es sei absehbar gewesen, dass für die Nacht keine Fachkraft eingeteilt sei.

Den Dienstagabend beschreibt sie so, dass die Fachkräfte aus der Tagesschicht gerne eine Übergabe an eine Fachkraft für die Nacht gemacht hätten, doch es war keine da. Mitarbeiter hätten deshalb stundenlang versucht, sowohl die Pflegedienstleitung als auch die Heimleitung zu erreichen, doch beide seien weder auf dem Diensthandy noch auf ihren privaten Telefonen zu erreichen gewesen.

Bevor die letzte Fachkraft das Haus verließ, habe sie deshalb die Rettungskräfte alarmiert. Die Pflegehelfer hätten Sorge gehabt, dass in der Nacht etwas passieren könnte, dem sie nicht gewachsen seien. Es seien zahlreiche hilflose Patienten mit den hohen Pflegegraden vier und fünf im Haus – zudem auf jeder Station etwa zwei bis drei Palliativpatienten, also viele Sterbende.

„Wir stehen da immer mit einem Bein im Knast“, so die Mitarbeiterin, wenn Pflegehelfer wegen Personalnot Arbeiten verrichten würden, die sie laut Vorschrift nicht machen dürften. Es müsse nur mal ein Notfall bei einem Bewohner eintreffen – in einem Pflegeheim keine Seltenheit – oder ein Sterbefall: Die Helfer seien zwar für gewisse Notfälle auch geschult, aber allein schon für die Kommunikation mit externen Rettungsdiensten, Notärzten, Bestattern etc. seien zwingend Fachkräfte vorgesehen.

Deshalb hätten die Mitarbeiter in diesem Fall die Rettungskräfte gerufen, um Schlimmeres zu verhindern, weil ihre Vorgesetzten einfach nicht zu erreichen gewesen seien. Doch auch die Polizei sei in diesem Moment überfordert gewesen, man habe erst lange erklären müssen, warum hier ein Notstand vorliege. Fast drei Stunden lang hätten die Beamten zusammen mit Feuerwehr und Katastrophenschutz in der Lobby des Pflegeheimes zugebracht und ebenfalls versucht, einen Verantwortlichen zu erreichen. Doch auch die Zentrale in Hamburg sei um diese Uhrzeit nicht zu erreichen gewesen und weiterhin alle Handys aus.

Gegen Mitternacht habe der Katastrophenschutz endlich den Heimleiter erreicht. Dieser sei nach einer halben Stunde selbst zum Einsatz erschienen und habe als Fachkraft den Rest der Nachtschicht angetreten. Offenbar keine Minute zu früh – denn kurz darauf habe eine Pflegehelferin seine Hilfe beim Sturz eines Patienten gebraucht.

Die Mitarbeiterin berichtet weiter, dies sei nicht der erste Hilferuf aus der Mitarbeiterschaft gewesen und sie hoffe, dass sich die Zentrale der privat geführten Pflegeheimes der Missstände in der Personalplanung annehme. Es hätten in den vergangenen Monaten bis zu zehn Mitarbeiter in dieser Filiale gekündigt, unter anderem wegen der Fehlplanung. Auch berichtet die Mitarbeiterin, dass tagsüber in der Frühschicht pro Station nur zwei Mitarbeiter für das Waschen und Anziehen von je 40 oder mehr Patienten zuständig seien – das sei kaum zu schaffen.

Die Domicil-Unternehmensgruppe, die das Heim betreibt, bedauerte den Vorfall – und äußerte inzwischen Verständnis für den Notruf: „Angesichts der Verantwortung“ für die Bewohnerinnen und Bewohner „handelte unsere Kollegin richtig und setzte einen Notruf ab“, nachdem sie vergeblich versucht habe, Vorgesetzte zu erreichen, so der Konzern. Man werde nun die EDV-Planungssysteme und Notfallketten kritisch überprüfen, um sicherzustellen, dass jederzeit eine Notfallerreichbarkeit gewährleistet sei. Die für die Heimaufsicht zuständige Senatsverwaltung sagte, sie prüfe den Vorgang auf etwaiges Fehlverhalten.

Doch die Mitarbeiterin berichtet weiter, auch abgesehen von individueller Fehlplanung und allgemeinem Personalmangel habe sich die Situation in der Pflege insgesamt, auch in anderen Häusern, durch den Einsatz von Leasing-Kräften noch verschärft: Oft würden diese nicht ausreichend Deutsch sprechen, sodass sie weder ihre Stammkollegen in den Heimen noch die Bewohner verstehen könnten. Vielen Bewohnern sei es zudem sichtlich unangenehm, immer wieder von fremden Leuten versorgt zu werden, die sie noch nie gesehen haben; auch an intimen Stellen.

Immerhin, so die Mitarbeiterin, etwas habe sich verbessert: Die Pflege sei in den letzten Jahren lauter geworden und würde öfter auf Missstände hinweisen. In diesem Zusammenhang ist wohl auch das Rufen der Polizei an diesem Abend zu sehen. Früher hätten Mitarbeiter eher den Mund gehalten über die Zustände. Besonders leid täten ihr die Heimbewohner und deren Angehörigen, die wenig Ahnung von den Umständen hätten, vor Einzug darüber auch nicht informiert würden und oft Tausende Euro Eigenanteil zusätzlich zum Anteil der Pflegeversicherung für einen Heimplatz leisten müssten – unabhängig davon, wie die Pflege sich gestaltet. Die Mitarbeiterin legt Wert darauf, zu betonen, dass dies in fast allen Heimen so sei. Domicil gehöre noch zur Gruppe der besseren Pflegeheime, sie habe anderswo schon viel gesehen.

Vor wenigen Tagen hatte die Krankenkasse DAK-Gesundheit ihren neuen Pflegereport in Berlin vorgestellt. Laut diesem zeichneten sich bereits für das vierte Quartal 2024 deutliche Finanzierungslücken ab, „die voraussichtlich Beitragssatzerhöhungen noch vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr erforderlich machen“, hieß es.

Zudem schlugen Wissenschaftler des Freiburger Sozialforschungsinstituts AGP wegen der Personallage Alarm. Aus der Gegenüberstellung von altersbedingten Berufsaustritten und einer abnehmenden Zahl an Nachwuchskräften ergebe sich in den kommenden Jahren eine verschärfte Lücke. Noch in den 2020er-Jahren werde es nicht mehr ausreichend nachrückende Absolventinnen und Absolventen von Pflegeschulen geben, um die Lücke der Babyboomer zu schließen, die in Rente gehen.

2023 gab es etwa 1,14 Millionen professionell Pflegende in Deutschland. Mehr als jeder Fünfte von ihnen erreiche in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter. In jedem Bundesland müssten dann um die 20 Prozent des Personals ersetzt werden. „In einzelnen Bundesländern werden noch in diesem Jahrzehnt Kipppunkte erreicht, an denen deutlich mehr Pflegende in den Ruhestand gehen als Nachwuchskräfte in den Beruf einsteigen“, heißt es in dem Report. In Bremen und Bayern werde dies bereits 2029 der Fall sein. Dort könnte also noch in diesem Jahrzehnt die Pflege kollabieren, so die Befürchtung.

News Related

OTHER NEWS

Ukraine-Update am Morgen - Verhandlungen mit Moskau wären „Kapitulationsmonolog" für Kiew

US-Präsident Joe Biden empfängt Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus. Evan Vucci/AP/dpa Die US-Regierung hält Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zum jetzigen Zeitpunkt für „sinnlos”. Bei einem Unwetter in Odessa ... Read more »

Deutschland im Wettbewerb: Subventionen schaden dem Standort

Bundeskanzler Olaf Scholz am 15. November 2023 im Bundestag Als Amerikas Präsident Donald Trump im Jahr 2017 mit Handelsschranken und Subventionen den Wirtschaftskrieg gegen China begann, schrien die Europäer auf ... Read more »

«Godfather of British Blues»: John Mayall wird 90

John Mayall hat Musikgeschichte geschrieben. Man nennt ihn den «Godfather of British Blues». Seit den 1960er Jahren hat John Mayall den Blues geprägt wie nur wenige andere britische Musiker. In ... Read more »

Bund und Bahn: Einigung auf günstigeres Deutschlandticket für Studenten

Mit dem vergünstigten Deutschlandticket will Bundesverkehrsminister Wissing eine junge Kundengruppe dauerhaft an den ÖPNV binden. Bei der Fahrkarte für den Nah- und Regionalverkehr vereinbaren Bund und Länder eine Lösung für ... Read more »

Die Ukraine soll der Nato beitreten - nach dem Krieg

Die Ukraine soll nach dem Krieg Nato-Mitglied werden. Die Ukraine wird – Reformen vorausgesetzt – nach dem Krieg Mitglied der Nato werden. Das hat der Generalsekretär des Militärbündnisses, Jens Stoltenberg, ... Read more »

Präsidentin droht Anklage wegen Tod von Demonstranten

Lima. In Peru wurde eine staatsrechtlichen Beschwerde gegen Präsidentin Dina Boluarte eingeleitet. Sie wird für den Tod von mehreren regierungskritischen Demonstranten verantwortlich gemacht. Was der Politikerin jetzt droht. Perus Präsidentin ... Read more »

Novartis will nach Sandoz-Abspaltung stärker wachsen

ARCHIV: Das Logo des Schweizer Arzneimittelherstellers Novartis im Werk des Unternehmens in der Nordschweizer Stadt Stein, Schweiz, 23. Oktober 2017. REUTERS/Arnd Wiegmann Zürich (Reuters) – Der Schweizer Pharmakonzern Novartis will ... Read more »
Top List in the World