Parkinson: Wie ein Berliner einen individuellen Heilversuch wagt

parkinson: wie ein berliner einen individuellen heilversuch wagt

Uwe Radelof unternimmt einen individuellen Heilversuch zur Behandlung von Parkinson.

Eine Kugel, die eine Hälfte hell erleuchtet, die andere dunkel. Ein Planet könnte das sein, den eine Sonne von der Seite anstrahlt. Sie zeichnet eine Trennlinie zwischen Licht und Finsternis. „In der Astronomie heißt diese Linie zwischen Tag und Nacht Terminator“, sagt Uwe Radelof und zeigt auf das Display seines Smartphones, zeigt auf diese Kugel, das Logo seines Projekts.

Es trägt einen englischen Namen: Parkinson Terminator Project. Der 56 Jahre alte Molekulargenetiker sagt: „Ich finde dieses Gleichnis sehr schön: Wir gehen den Schritt aus dem Dunklen der Erkrankung in das Helle der Heilung.“

Wir, das sind 13 Parkinson-Patienten. Der Berliner Radelof hat das Projekt ins Leben gerufen. Sie wollen, dass real wird, was bis vor kurzem noch irreal erschien – dass Parkinson heilbar wird. Derzeit können lediglich die Symptome mit Medikamenten behandelt werden, Tremor, Rigor, Akinese: das Zittern, die steifen Muskeln, die eingeschränkte Beweglichkeit. Es handelt sich um eine neurodegenerative Erkrankung, bei der sich im Gehirn Zellen abschalten, in den Basalganglien, so heißt das Areal. Mit der Zeit versagen immer mehr dieser Zellen ihren Dienst. Im gesunden Zustand produzieren sie einen sehr wichtigen Botenstoff, das Dopamin. Schütten die Zellen zu wenig davon aus, kommt es zu den motorischen Ausfällen.

Weit mehr als 200.000 Menschen leiden in Deutschland an Parkinson und etwa eine Million europaweit. Radelof erhielt 2008 die Diagnose. Die meisten Betroffenen werden im Alter zwischen 50 und 60 Jahren mit dem Befund konfrontiert. Der Verfall der Zellen ist dann schon weit fortgeschritten. Doch dieser Prozess kann aufgehalten werden, davon ist Radelof überzeugt. Parkinson lässt sich beherrschen, möglicherweise sogar besiegen, das steht für ihn fest.

Er und die übrigen Projekteilnehmer probieren es jetzt aus, unterziehen sich Therapien, die zwar für andere, aber nicht für diese komplexe Krankheit zugelassen wurden. Zum Teil sind die Medikamente noch gar nicht freigegeben. Ein Experiment am eigenen Leib: „Das ist in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt“, sagt Radelof.

Individueller Heilversuch nennt sich die Methode. Der Begriff ist weit gefasst, so hält es der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Stellungnahme fest. „Das Spektrum der Therapie reicht von einer zulassungsüberschreitenden Anwendung (Off-Label-Use) bis hin zur Anwendung eines (noch) nicht zugelassenen Arzneimittels (Unlicensed Use)“, heißt es da. Ein Arzt müsse Risiko und Nutzen gegeneinander abwägen und nach seinem fachlichen Ermessen entscheiden. „Der experimentelle Charakter und die fehlenden Daten zur Wirksamkeit sowie zu möglichen Nebenwirkungen der Arzneien machen den individuellen Heilversuch zu einer ultima ratio, wenn alle anderen Therapieversuche im Rahmen des medizinischen Standards versagt haben.“ Oder wenn keine Therapie existiert.

Lange konzentrierte sich die Forschung darauf, die Symptome von Parkinson zu bekämpfen. Mittlerweile aber richtet sie ihren Blick auf die Ursachen. „Dutzende kommen in Betracht, wenn man alle genetischen Komponenten mit berücksichtigt“, sagt Radelof. Neben der Genetik spielt die körpereigene Abfallentsorgung eine Rolle, die Autophagie. Ein gestörtes Gleichgewicht in Magen und Darm kommt als Auslöser in Betracht, ein Mangel an Vitaminen, an Magnesium oder anderen Mikronährstoffen. Im Verdacht stehen Entzündungen, aber auch eine durchlässige Blut-Hirn-Schranke. „Häufig bringt eine Kombination aus vielen einzelnen Faktoren die Erkrankung zum Ausbruch. Wenn man die einzeln angeht, sollte es doch möglich sein, Parkinson in den Griff zu bekommen.“

Radelof sitzt in der Lounge eines Hotels in Charlottenburg. Durch ein Panoramafenster wirft die Frühlingssonne Schatten auf den Tisch, zaubert helle Punkte auf das Smartphone. Von hier oben, aus dem zehnten Stock, geht der Blick Richtung Zoopalast, dem Kino am Breitscheidplatz. Radelof hat den Treffpunkt vorgeschlagen, weil er gut zu erreichen ist. Mit einem E-Bike ist er aus Steglitz gekommen. Auch darin sieht er einen kleinen Beitrag zur Therapie: Bewegung.

Radelof erzählt von Studien, die darauf hindeuten, dass Sport den körperlichen und geistigen Verfall bei Parkinson verlangsamt. Vor allem das hochintensive Intervalltraining, kurz HIIT, bei dem sich Phasen mit sehr schnellem und moderatem Puls abwechseln. Erst neulich fanden Forscher der Universität Yale heraus, dass HIIT bei neun von zehn Probanden den Prozess sogar umkehrte, dass sich abgeschaltete Zellen wieder einschalteten. „Sie publizierten das nicht irgendwo, sondern in der Zeitschrift Nature.“ Die Quelle ist seriös, das Ergebnis richtungsweisend, will Radelof damit sagen.

Im Umgang mit Studien ist er geübt, Studien haben seine wissenschaftliche Laufbahn begleitet. Radelof studierte Chemie, Einser-Abschluss, beste Referenzen. Er verfasste am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik seine Doktorarbeit. „Die Promotion fand im Rahmen eines Projekts statt, bei dem das Humangenom entschlüsselt wurde.“ International, über einzelne Fachrichtungen hinweg, geschah das.

Mit durchschlagendem Erfolg. Und auch wenn Radelof, der ehemalige Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und Abteilungsleiter am Deutschen Ressourcenzentrum für Genomforschung, seinem angestammten Beruf nicht mehr nachgehen kann, die Idee einer Wissenschaft über Grenzen von Ressorts und Ländern hinweg lässt ihn nicht los. Sie steht im Mittelpunkt seines individuellen Heilversuchs.

Der Versuch beginnt mit einer umfangreichen Bestandsaufnahme. „Wir bestimmen, was alles diagnostiziert werden muss“, sagt Radelof. Bei der Fülle an Faktoren ist das nicht gerade wenig. Selbst Umweltfaktoren können Parkinson triggern, Schwermetalle, Pestizide, andere Gifte. Ebenso Komorbiditäten, ein unglückliches Zusammentreffen verschiedener Erkrankungen.

Radelof hat bereits eine Genom-Sequenzierung bei sich vornehmen lassen. Die Analyse der Gene gewinnt in einer modernen, zunehmend personalisierten Medizin an Bedeutung, weil sie individuell zugeschnittene Therapien ermöglicht und damit die Aussichten auf Heilung verbessert. Nicht nur bei Parkinson gilt sie inzwischen als ein Schlüssel zum Erfolg.

Etwa 4000 Euro kostet so eine Sequenzierung. „Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen das“, sagt Radelof. „Das scheint also sinnvoll zu sein.“ Und nur Sinnvolles wollen sie auch machen, allein der Kosten wegen, die beträchtlich sein dürften. Für bildgebende Verfahren in regelmäßigen Abständen zum Beispiel. Eine Aufnahme der Hirnregion, die für die Produktion von Dopamin verantwortlich ist, die Substantia nigra, gibt Aufschluss darüber, wie sich die Krankheit entwickelt, ob sie stagniert oder unvermindert fortschreitet. Am Anfang, in dem Moment, wenn die ersten Symptome auftreten, sind bereits rund sechzig Prozent der dortigen Zellen nicht mehr aktiv.

Sind die Ursachen definiert, beginnt die Behandlung. „Wir nehmen mehrere Wirkstoffe gleichzeitig“, sagt Radelof. Möglichst alle gestörten Funktionen werden korrigiert, das ist der Plan. „Meiner Meinung nach ist auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass die Erkrankung abgebremst oder sogar zum Stillstand kommt.“

Der Berliner wird ein Medikament an sich ausprobieren, das für die Therapie bei Patienten mit Diabetes zugelassen ist. So wie es aussieht, übernimmt seine Krankenkasse auch dafür die Kosten, denn bei manchen Parkinson-Patienten zeigt es Wirkung. Bei anderen Betroffenen wiederum könnten Präparate gegen Leukämie die Beschwerden lindern. Doch nicht nur auf Arzneimittel wollen sich die Teilnehmer des Parkinson Terminator Project konzentrieren.

Uwe Radelof greift erneut zum Smartphone, das vor ihm auf dem Tisch schlummert. Er wischt über das Display, hoch, runter, links, rechts, ruft die Homepage seines Projekts auf, scrollt sich durch zu den Stammtischen, bei denen sie sich in unregelmäßigen Abständen austauschen und auf den neuesten Stand bringen. In einem Restaurant in Steglitz treffen sie sich, bei Ralf Zacherl. Zusammen mit dem Fernsehkoch haben sie auch schon Rezepte entwickelt. Radelof schmunzelt: „Meine Tochter hat dafür den Begriff Blue Food erfunden.“ Benannt nach den sogenannten blauen Zonen der Erde, wo die Menschen auf gesunde Art sehr alt werden: in Landstrichen Japans, Griechenlands, Italiens, in Teilen von Costa Rica und der USA. „Da gibt es Überschneidungen bei den Nährstoffen, die diese Menschen zu sich nehmen.“

parkinson: wie ein berliner einen individuellen heilversuch wagt

Uwe Radelof hat unter anderem am Max-Planck-Institut geforscht.

Einigen Nahrungsergänzungsmitteln werden ebenfalls positive Effekte zugeschrieben. Zum Beispiel Spermidin, Artemisinin, NMN, insgesamt kommen mehr als 100 Substanzen in Betracht; auch die kurzkettigen Fettsäuren, die in Kuhmilch oder Käse enthalten sind, vor allem in Sorten wie Emmentaler. Neben Ernährung und Bewegung ist ein guter Schlaf entscheidend, „denn nur in der REM-Phase entsorgt der Körper den Zellmüll“, sagt der Molekulargenetiker. In ebenjenem letzten Abschnitt des Schlafzyklus ist das Gehirn fast so aktiv wie im wachen Zustand.

Wieder erscheint es sinnvoll, dass sich Experten unterschiedlicher Fachrichtungen vernetzen. Uwe Radelof steht deshalb mit dem Berliner Ernährungswissenschaftler Andreas Michalsen in ständigem Austausch. Der Professor koordiniert den Heilversuch des Kollegen, der überdies Kontakt zum Schlafmedizinischen Zentrum der Charité und dessen Leiter Ingo Fietze aufgenommen hat. Experten aus Magdeburg, Marburg, Tübingen und andernorts gewann er für seinen Selbstversuch. Die Strategie: „Wir probieren das erst einmal mit einem kleinen Kreis von Probanden sehr detailliert aus.“

Sollte das Parkinson Terminator Project erfolgreich sein, möchte er die gewonnenen Erkenntnisse allen Interessierten zur Verfügung stellen. Zusammen mit einer Stiftung namens Yuvedo befindet sich eine Gesellschaft in Gründung; Betroffene, Mediziner und ein Investmentbanker gehören zu den Gründungsmitgliedern. Ziel ist, die Heilversuche für jedermann zu systematisieren. „Wir arbeiten gerade an einem Laufzettel, auf dem festgehalten ist, was man für einen solchen Heilversuch tun muss.“ Ärzten wollen sie mit einer Art Leitfaden die Arbeit erleichtern.

Die Idee, Kurse anzubieten, gewinnt ebenfalls an Kontur. Und einen anderen Einfall hatte Radelof neulich, als er sich unter Betroffenen umhörte. Er fragte, ob sie bereit wären, denjenigen 1000 Euro zu zahlen, die Wege fänden, die Krankheit zu heilen. „Niemand hat Nein gesagt.“ Er rechnet vor: „1000 Euro pro eine Million erkrankte Europäer macht eine Milliarde Euro.“ Es wäre so etwas wie ein gigantisch finanzierter Nobelpreis für den Sieg über Parkinson.

Noch stiftet die höchstdotierte Auszeichnung für Forscher auf diesem Gebiet der Mitbegründer von Google, Sergey Brin. Drei Millionen Dollar lobt er insgesamt aus. Seine Mutter leidet an Parkinson, er hat die Anlage geerbt. Einer von drei Preisträgern 2024 ist Thomas Gasser vom Forschungszentrum in Tübingen. „Mit Thomas Gasser arbeiten wir zusammen, Anfang des Jahres war ich bei ihm, um mit ihm das Projekt zu besprechen“, sagt Uwe Radelof.

Er schaut auf die Uhr, legt ein Röhrchen mit Tabletten auf den Tisch. Zeit für sein Medikament. Es hilft, den Mangel an Dopamin in seinem Körper auszugleichen. Parkinson aufhalten kann es nicht. Irgendwann aber werden sie wissen, wie das geht. In nicht allzu ferner Zeit – davon ist Uwe Radelof überzeugt.

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