Österreich: ÖVP will mit »Leitkultur«-Debatte provozieren

In Österreich möchte die Volkspartei von Bundeskanzler Nehammer festlegen, was die Gesellschaft der Alpenrepublik ausmacht. Ein durchschaubares Wahlkampf-Manöver, bei dem nicht mal sicher ist, ob es bei Umfragen hilft.

österreich: övp will mit »leitkultur«-debatte provozieren

Österreich: ÖVP will mit »Leitkultur«-Debatte provozieren

Bis zur Parlamentswahl Ende September fließt noch eine Menge Wasser die Donau hinab. Doch die politischen Kampagnen laufen schon längst, gerade die Volkspartei (ÖVP) von Bundeskanzler Karl Nehammer hat es auch nötig: Ein halbes Jahr vor dem Urnengang liegen die Konservativen abgeschlagen auf Platz drei in Umfragen – knapp hinter den Sozialdemokraten und weit hinter der radikal rechten FPÖ.

Vor diesem Hintergrund hat die ÖVP ein neues Manöver gestartet, um in der Wählergunst zu steigen. Seit Tagen flutet die Partei soziale Medien mit Sprüchen wie: “Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen”, auch die Boulevardmedien transportieren die Botschaft in dicken Lettern. Die absehbare Empörung wogt seitdem hoch und damit die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema – ein gängiger Kniff österreichischer Spin-Doktoren.

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An diesem Donnerstag sollte nun mit weniger markigen Tönen eingeleitet werden, was die ÖVP unter »unserer Art« versteht: Nehammers Parteifreundin Integrationsministerin Susanne Raab veranstaltete in den pompösen Räumen des Wiener Kanzleramtes eine Experten-Kommission, mit sie gemeinsam eine “österreichische Leitkultur” erarbeiten möchte.

»Grundkonsens des Zusammenlebens«

Der Auftrag dafür kommt von ihrem Parteichef und Kanzler Nehammer. Der hatte gefordert, zu definieren, was die »Leitkultur« der Alpenrepublik ausmacht: Bis 2030 soll sich das Vorhaben »auch als gesetzliches Kulturgut gesetzlich widerspiegeln«.

Was genau das bedeutet, soll in den verbleibenden sechs Jahren die Kommission von Ministerin Raab definieren, in der unter anderem eine Juristin, ein Professor für Arbeits- und Sozialrecht sowie ein ehemaliger Banker sitzen, der zwischenzeitlich für den früheren EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker gearbeitet hat.

Ministerin Raab erklärte nun in einer kurzen Stellungnahme, was eine solche »österreichische Leitkultur« ausmachen soll: Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die Gleichberechtigung der Geschlechter, »auch die Pressefreiheit« – kurzum: »Grundwerte und Grundprinzipien, die sich auch aus der Verfassung ableiten« sagte die Konservative, es gehe um einen »Grundkonsens des Zusammenlebens«. Das Gremium solle ausarbeiten, was diese Werte »ganz praktisch im Alltag« bedeuten.

Raab machte keinen Hehl daraus, dass das Projekt »Leitkultur« vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund abzielt. Die Ministerin, die neben Integration auch für Frauen zuständig ist, wurde nur kurz konkret: Sie beklagte, dass sich manche Patienten weigerten, sich von Ärztinnen behandeln zu lassen. Manche männliche Jugendlichen behandelten Lehrerinnen respektlos und würden als »selbsternannte Sittenwächter« Mädchen vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten.

Grüner Koalitionspartner spricht von »Symbolpolitik«

Die Probleme sind existieren zweifellos, doch wie eine demokratisch nicht legitimierte Kommission mit einer »Leitkultur« Abhilfe schaffen soll, bleibt bislang schleierhaft. Eine Doublette der Verfassung soll damit nicht gemeint sein. »Die österreichische Identität ist mehr, als die Gesetze, die unser Land ausmachen«, sagt die Ministerin einmal. Warum dann ein neues Regelwerk entstehen soll, sagte sie nicht.

Viel spricht dafür, dass es sich bei dem Projekt »Leitkultur« um ein bloßes Wahlkampf-Manöver ist – ein überflüssiges obendrein.

Entsprechend erntet Raab und ihre ÖVP massive Kritik, auch vom eigenen Koalitionspartner. Faika El-Nagashi, Integrationssprecherin der Grünen, spricht von »Symbolpolitik, die Argwohn und Misstrauen sät«. Bei der Aktion ihres Koalitionspartners gehe es aber “nur um politisches Kleingeld, sagte sie dem »Standard«. Weder Kultur noch Werte seien in Österreich homogen, und sie lassen sich nicht verordnen, so die Grüne. Die FPÖ kritisiert Raabs Vorstoß als »billigen Schmäh« und spricht von »Wählertäuschung«.

Ob die ÖVP mit ihrer »Leitkultur«-Debatte im Wahljahr überhaupt punkten kann, ist fragwürdig. Als die Konservativen ab Sommer 2022 über Monate das Thema Migration schrill hochzogen, profitierten sie weder in Umfragen noch in Landtagswahlen. Die aufgeregte ÖVP-Stimmungsmache bereitete damals offenkundig einer anderen Partei den Boden: Die ausländerfeindliche FPÖ schnellte in der Folge in Umfragen nach oben und ist seitdem stärkste politische Kraft in Österreich.

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