Feindbild Grüne: Die bestgehasste Regierungspartei

feindbild grüne: die bestgehasste regierungspartei

Wut auf Grüne: Demonstranten verfolgen Ricarda Lang in Schorndorf am 14. Februar 2024

Als die baden-württembergischen Grünen kürzlich in Erlenbach bei einem Bürgerempfang mit Landwirten diskutierten, stürmte ein Mann auf Ministerpräsident Winfried Kretsch­mann zu und brüllte: „Du hast in meinem Heizungskeller nichts zu suchen.“ Und am Wochenende blockierten in Magdeburg Bauern zum wiederholten Mal einen Auftritt der grünen Bundesvorsitzenden Ricarda Lang.

Den Grünen schlägt in der Gesellschaft allerorten Ablehnung und Hass entgegen. Erstmals in ihrer Geschichte mussten sie ihre Kundgebung zum politischen Aschermittwoch in Biberach wegen gewalttätiger Ausschreitungen absagen. In Schorndorf jagte am selben Tag ein Mob die Bundesvorsitzende Lang durch die Kleinstadt. 2023 gab es nach einer Statistik der Bundesregierung auf grüne Mitglieder mehr als 1200 Angriffe, auf AfD-Mitglieder nur knapp 500. Von den 28 Prozent in ihrem Umfragehoch im April 2021, wenige Monate vor der Bundestagswahl, und von dem Wohlwollen in unterschiedlichsten Wählergruppen, das den Grünen als linke Reformpartei entgegenschlug, ist wenig geblieben. Wie konnte es dazu kommen? Welche externen Faktoren sind die Ursache? Was ist als Teil der Ampelregierung selbst verschuldet?

Gegenpol zur AfD

Zunächst hat sich im Parteiensystem die Stellung der Grünen verändert. Viele Jahre nahmen sie eine Position zwischen SPD und Union ein und waren bemüht, nach links und nach rechts anschlussfähig zu sein. Seit dem Erstarken der AfD sind sie nun zumindest in kultureller Hinsicht Gegenpol der in Teilen rechtsextremistischen Partei geworden. Verstärkt wird ­dieser Konflikt noch dadurch, dass Gruppierungen aus dem Querdenker-Milieu, Rechtsextremisten und auch AfD-nahe Gruppierungen gezielt versuchen, grüne Veranstaltungen zu stören und einen Kulturkampf gegen die Partei ausrufen. In Biberach lautete ein Satz der Demonstranten: „Unser Feind ist der grüne Linksfaschismus. Nicht die Russen.“

Union und FDP reagieren auf diese Stimmung, indem sie das Feindbild von der grünen Verbotspartei ebenfalls benutzen, weil sie glauben, dass sie so von der gesellschaftlichen Polarisierung, dem Politikfrust der Bürger und den Fehlern der Grünen einfach profitieren könnten. Der baden-württembergische CDU-Landwirtschaftsminister Peter Hauk sagte auf die Frage, ob ihm die Absage der Veranstaltung in Biberach und damit auch die Einschränkung demokratischer Grundrechte leidtue: „Nö, gar nicht.“ Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) verglich Ricarda Lang mit seinem Hund, der habe jedenfalls einen Berufsabschluss. Solche Aussagen verstärken die im Parteiensystem vorhandene, wie der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer formuliert, „affektive Polarisierung“.

Eingriffe in den Alltag

Die ist bei den Themen Migration und Klimaschutz am größten, also bei Themen, die stark mit den Grünen verbunden werden. Gleichzeitig konnte die Ökopartei ihren Zugang zur Mehrheitsgesellschaft nicht ausbauen – anders, als Robert Habeck das in seinem Buch „Wer wir sein könnten“ 2021 dargelegt hatte. Während die Grünen in Baden-Württemberg eine stabile Milieupartei mit gutem Zugang zu den Eliten sind, fehlt ihnen im Osten jede Akzeptanz bei Mittelstand, Handwerk und Industrie. „Im Osten gibt es eine Transformationserschöpfung, die Grünen werden als Inbegriff einer übergriffigen, urbanen Elite wahrgenommen“, sagt Vorländer.

Aus Sicht von Wolfgang Schroeder, Politikwissenschaftler an der Universität Kassel, ist die Ökopartei zum Sündenbock für frustrierte Bürger geworden, weil sie sich in der Ampelkoalition als Partei des beschleunigten Wandels positioniert habe: „Die Grünen sind innerhalb kurzer Zeit vom medial gefeierten Hoffnungsträger für einen gewissen Teil der Bevölkerung zu einer diabolischen Instanz geworden.“

Die Politik der Grünen werde mit einem Eingriff in den Alltag sowie Verhaltensänderungen der Bürger verbunden. Exemplarisch dafür seien die Konflikte um die Heizungen. Einerseits, sagt Schroeder, habe sich die Partei deradikalisiert und in der Ampelregierung in vielen Fragen schnell an die Herausforderungen der Zeitenwende angepasst. Andererseits hätten die medialen Kampagnen gegen Außenministerin Baerbock und Habeck dazu beigetragen, die tatsächlichen Fehler grüner Realpolitik offenzulegen und gleichzeitig den in der Bevölkerung vorhandenen Vertrauensvorschuss für eine zukunftsorientierte Politik zerstört. „Das liegt auch am pointiert moralischen Politikverständnis und an der Semiprofessionalität der ministeriellen Apparate, die sich etwa beim Wärmegesetz negativ ausgewirkt hat“, sagt Schroeder. Verglichen mit Union, SPD oder FDP zeigten die Grünen am wenigsten Sensibilität für die geringe Veränderungsbereitschaft der Gesellschaft: „Die Grünen haben nicht berücksichtigt, dass es – nach den Krisen vergangener Jahre – unter den Wählern ein Bedürfnis nach Entschleunigung gibt, dass die Gesellschaft erschöpft und gealtert ist.“

Eine Analyse des Meinungsforschungsinstituts Allensbach belegt einen dramatischen Ansehensverfall der Grünen. Waren die Grünen 2019 die mit Abstand am positivsten bewertete Partei, wurden sie 2023 am zweitschlechtesten bewertet. Die Grünen würden in polarisierenden Wahlkämpfen meistens noch verlieren, bei der Bundestagswahl 2025 sei ein Abrutschen in die Nähe der Fünfprozenthürde möglich. Bei den Grünen beginnt gerade die Debatte darüber, wie man sich wieder stärker in die Mitte der Gesellschaft vorarbeiten kann. Auf der Klausurtagung der Bundestagsfraktion in Leipzig in dieser Woche ist der Soziologe Steffen Mau zu Gast. „Wir dürfen uns“, heißt es schon jetzt bei den Realos, „auf keinen Fall ins warme Milieu zurückziehen und feige sein.“

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